S.H. der Dalai Lama
Universelle Verantwortung
Rede auf der UNO - Weltkonferenz für Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro, Juni 1992
Während sich das zwanzigste Jahrhundert dem Ende zuneigt, empfinden wir, daß die Welt kleiner geworden ist. Die Menschen der Erde sind fast zu einer Gesellschaft zusammengewachsen. Politische und militärische Allianzen bilden große multinationale Gruppen, Industrie und Handel haben eine globale Wirtschaft entstehen lassen. Weltweite Kommunikationssysteme lassen die alten Schranken von Entfernung, Sprache oder Hautfarbe verschwinden. Auch die großen Probleme, vor denen wir stehen, lassen die Welt kleiner werden: Überbevölkerung, schwindende Naturressourcen und eine Umweltkrise. Sie bedroht unsere Luft, Wasser, Bäume und eine Vielzahl wunderschöner Formen des Lebens, die genau die Grundlagen der Existenzen auf diesem kleinen Planeten bilden, den wir teilen.

Um den Herausforderungen unserer Zeit gerecht zu werden, müssen wir Menschen ein tieferes Empfinden von universeller Verantwortlichkeit entwickeln. Jeder von uns muß lernen, nicht nur für sich selbst, die Familie oder das Land zu arbeiten, sondern für das Wohlergehen der gesamten Menschheit. Universelle Verantwortlichkeit ist der eigentliche Schlüssel für ein Überleben des Menschen. Sie ist die sicherste Grundlage für den Weltfrieden, den ausgleichenden Umgang mit natürlichen Ressourcen durch die Vorsorge für zukünftige Generationen und für ein angemessenes eigenes Umweltverhalten.

Ob wir das nun mögen oder nicht: Wir sind auf dieser Erde geboren als Teil einer großen Familie. Reich oder arm, gebildet oder ungebildet, der einen oder anderen Nation, Religion oder Ideologie angehörend - letztlich ist jeder von uns genau so ein menschliches Lebewesen wie andere auch.

Wir wünschen uns Glück und wollen Leiden vermeiden. Ebenso hat jeder von uns das Recht, dieses Glück zu suchen und Leiden zu vermeiden. Wenn Du erkennst, daß alle Lebewesen diesbezüglich gleich sind, wirst Du von selbst Verständnis und Nähe finden. Daraus entsteht rückwirkend ein tiefes Empfinden von universeller Verantwortlichkeit: dem Wunsch, anderen aktiv zu helfen, um die Probleme zu bewältigen.

Sicherlich ist ein solches Mitgefühl naturgemäß friedlich und sanft, aber es ist auch sehr mächtig. Es ist ein reales Zeichen innerer Stärke. Dafür brauchen wir nicht religiös zu werden oder einer Ideologie anzugehören. Jeder von uns braucht nur seine eigenen guten menschlichen Qualitäten zu entwickeln.

Die Notwendigkeit des Gefühls einer universellen Verantwortung läßt sich in jedem Bereich des menschlichen Lebens erkennen. Bewegende Ereignisse in einem Teil der Welt können heute den gesamten Planeten beeinflussen. Darum müssen wir jedes größere lokale Problem weltweit in Beziehung setzen und uns von Anfang an darum kümmern. Wir können nicht länger rassische oder ideologische Barrieren, die uns trennen, vorschieben, ohne zerstörerische Rückschläge zu erleiden. Im Kontext unserer neuen Abhängigkeit erkennen wir, daß die Einbeziehung der Interessen anderer sicherlich die beste Art ist, sich selbst zu nutzen.

Abhängigkeit allerdings ist ein fundamentales Gesetz der Natur. Nicht nur Myriaden Formen der Natur, sondern auch die subtilsten Bereiche der Materie sind von dieser Abhängigkeit untereinander bestimmt. Alle Phänomene, vom Planeten, auf dem wir wohnen, zu den Ozeanen, Wolken, Wäldern und Blumen, die uns umgeben, entstehen aus feinsten Mustern von Energie. Ohne ihre rechte Interaktion lösen sie sich auf und vergehen.

Wir müssen diese Fakten der Natur viel wichtiger nehmen als wir das in der Vergangenheit getan haben. Unsere Unbewußtheit darüber ist direkt verantwortlich für viele der Probleme, denen wir gegenüberstehen. Es ist zum Beispiel verheerend, die begrenzten Ressourcen der Erde anzuzapfen - besonders in den Entwicklungsländern - nur um einen Konsumismus zu füttern. Wenn das unkontrolliert weitergeht, werden wir alle leiden müssen. Wir müssen das empfindliche Gefüge der Natur respektieren und ihm Gelegenheit zur Erneuerung geben.

Ich hörte, daß das Programm der Vereinten Nationen warnt, daß wir jetzt vor der größten Welle der Ausrottung natürlicher Vielfalt seit 65 Millionen Jahren stehen. Diese Tatsache ist durchdringend erschreckend. Sie muß unseren Geist öffnen für die ungeheuren Ausmaße der Krise, die auf uns zukommt.

Die Unbewußtheit der untereinander bestehenden Abhängigkeiten hat aber nicht nur unserer natürlichen Umwelt geschadet, sondern auch der menschlichen Gesellschaft.

Anstatt daß wir uns umeinander kümmern, legen wir all unsere Anstrengungen auf der Suche nach Glück in das Anhäufen materiellen Konsums. Durch diese Bemühungen sind wir so sehr verarmt, daß wir, ohne es zu bemerken, die grundlegendsten Bedürfnisse des Menschen nach Liebe, Freundlichkeit und Zusammenarbeit vergessen haben. Das ist sehr traurig.

Wir sollten bedenken, wer wir Menschen wirklich sind. Keine Objekte, die von Maschinen hergestellt werden. Wären wir mechanische Einheiten, könnten Maschinen auch all unser Leiden beenden und unsere Wünsche erfüllen. Da wir allerdings nicht rein materielle Kreaturen sind, wäre es ein Fehler, Erfüllung nur in der äußeren Entwicklung zu suchen.

Grundsätzlich mögen wir alle das Wachstum. Wenn zum Beispiel der Frühling kommt, die Tage länger werden, dann kommt die Sonne wieder heraus, das Gras und die Bäume leben auf, und alles wird neu. Die Menschen sind glücklich. Im Herbst, ein Blatt fällt, dann noch eins, dann sterben all die wunderschönen Blumen, bis wir von kahlen Pflanzen umgeben sind. Wir sind nicht so fröhlich. Warum? Weil wir immer im Herzen uns konstruktives, fruchtbares Wachstum wünschen und es nicht mögen, wenn die Dinge vergehen, sterben oder zerstört werden. Jeder zerstörerische Vorgang geht gegen unsere grundlegende Natur; konstruktiver Aufbau ist der Weg des Menschen.

Um das Wachstum verantwortlich anzugehen, müssen wir unsere Verpflichtung gegenüber den menschlichen Werten in vielen Gebieten erneuern. Die Politik benötigt eine ethische Grundlage, aber auch Wissenschaft und Religion. Ohne sie können Wissenschaftler nicht unterscheiden zwischen sinnvollen Technologien oder solchen, die entbehrlich sind.

Der Schaden an der Umwelt um uns herum ist die selbstverständliche Folge dieser Verwirrung. Für die Religionen ist eine Rückbesinnung auf diese Verantwortung besonders wichtig.

Der Sinn der Religion ist nicht, schöne Kirchen oder Tempel zu bauen, sondern positive menschliche Qualitäten zu entwickeln wie Toleranz, Großzügigkeit und Liebe.

Jede Weltreligion, ganz gleich ihrer philosophischen Sichtweise, wurde zunächst und hauptsächlich unter der Prämisse gegründet, den Eigennutz zu reduzieren und anderen zu dienen. Unglücklicherweise verursachen die Menschen im Namen der Religion mehr Streitigkeiten als sie lösen. Ausübende verschiedener Glaubensrichtungen sollten erkennen, daß jede der religiösen Traditionen einen immanenten Wert hat im Hinblick auf geistiges und spirituelles Wohlergehen.

Es gibt einen wunderbaren Vers in der Bibel über die Verwandlung von Schwertern in Pflugscharen. Ein sehr schönes Bild, eine Waffe umgewandelt in ein Werkzeug zum Nutzen des Menschen, symbolisch für eine Haltung innerer und äußerer Entwaffnung. Im Geiste dieser alten Botschaft sollten wir die Notwendigkeit einer lange überfälligen Politik betonen: die Entmilitarisierung des ganzen Planeten. Entwaffnung wird große menschliche Kräfte für den Schutz der Natur freisetzen, Linderung der Armut und dauerhafte Entwicklung der Menschheit. Ich hoffe sehr, daß die Vereinten Nationen bald dazu beitragen können, daß dies eine Realität wird.

Ich habe immer die Zukunft meines eigenen Landes Tibet auf dieser Basis begründet gesehen. Eine neutrale, entmilitarisierte Zone, wo Waffen verboten sind und die Menschen im Einklang mit der Natur leben. Ich nannte sie die Zone von Ahimsa oder Gewaltlosigkeit. Dies ist nicht nur ein Traum, es ist präzise der Weg, den die Tibeter versucht haben zu leben. Tausende von Jahren, bevor unser Land auf tragische Weise besetzt wurde. In Tibet hatte das Wild den Schutz der Gesetze der buddhistischen Grundlagen. Im 17. Jahrhundert wurden Dekrete herausgegeben, diese Umwelt zu schützen, und so mögen wir eine der ersten Nationen gewesen sein, die Umweltgesetze erlassen hat. Auf jeden Fall wurde die Umwelt hauptsächlich durch unseren Glauben geschützt, den wir in der Kindheit kennen lernten. Auch hatten wir die letzten 300 Jahre keine Armee. Tibet gab schon im 6. und 7. Jahrhundert das Kriegführen als ein Instrument der nationalen Politik auf.

Ich möchte abschließen mit der Gewißheit, daß ich optimistisch in die Zukunft sehe. Die schnellen Veränderungen in unserer Einstellung zur Erde sind auch ein Grund für meine Hoffnung. Erst kürzlich, vor einem Jahrzehnt, sind wir noch mit den Ressourcen der Welt umgegangen, als würden sie niemals enden...
Oft habe ich gescherzt, daß der Mond und die Sterne so schön aussehen, aber auf ihnen zu leben, könnte trostlos sein. Unser blauer Planet ist ein wunderbarer Gastgeber. Sein Leben ist unser Leben. Seine Zukunft ist unsere Zukunft.

Tatsächlich ist die Erde wie eine Mutter zu allen Lebewesen. Wie Kinder sind wir abhängig von ihr. Angesichts globaler Probleme wie dem Treibhauseffekt oder der Abnahme der Ozonschicht sind einzelne Organisationen und Staaten hilflos. Wenn nicht alle zusammenarbeiten, kann keine Lösung gefunden werden. Mutter Erde gibt uns Unterricht in universeller Verantwortlichkeit.

Es gibt Leute, die sagen, das nächste Jahrhundert wird freundlicher, harmonischer, weil wir diese Lektion gelernt haben. Mitgefühl, die Saat des Friedens wird blühen. Ich hoffe das sehr. Zugleich denke ich, daß jeder individuelle Mensch Verantwortung hat, die globale Familie in die richtige Richtung zu führen. Gute Wünsche allein werden nicht helfen. Wir müssen Verantwortung  übernehmen. Große Menschheitsbewegungen  entstammen den Initiativen individueller Menschen.



Übersetzt und erstmals veröffentlicht durch: Pfauenhof, Zentrum für tibetischen Buddhismus und Ökologie, Pauendyk l. D-47665 Sonsbeck


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