Thich Nhat Hanh
Ökologisches Verbundensein
Obgleich wir Menschen "Tiere" sind - das heißt ein Teil der Natur, sondern wir uns von ihr ab. Denn wir betrachten andere Tiere und Lebewesen als "Natur" und verhalten uns so, als wären wir kein Teil von ihr. Dann fragen wir uns: "Wie sollen wir mit der Natur umgehen?" Die Antwort lautet: Wir sollten mit ihr in der Weise verfahren, wie wir mit uns selbst umgehen sollten. Wir sollten uns nämlich nicht schaden; und wir sollten der Natur nicht schaden. Tatsächlich ist die Schädigung der Natur gleichbedeutend mit der Schädigung unserer selbst.

Wir Menschen glauben, wir seien besonders klug, aber eine Orchidee weiß zum Beispiel, wie sie edle, symmetrische Blüten hervorbringen kann. Und eine Schnecke weiß, wie sie sich ein schönes, wohlproportioniertes Haus bauen kann. Im Vergleich zu deren Wissen ist das unsere gar nicht mehr so viel wert. Wir sollten uns tief vor der Orchidee und der Schnecke verbeugen und in Ehrfurcht unsere Handflächen vor dem Monarchen Schmetterling und dem Magnolien-Baum zusammenlegen. Das Gefühl der Achtung für alle Arten wird uns helfen, die edelste Natur in uns selbst zu entdecken.

Wenn Du ein Bergwanderer bist, oder jemand, der ländliche Gegenden oder den Wald genießt, dann weißt Du, daß die Wälder unsere Lungen sind - nur daß sie außerhalb unseres Körpers liegen. Dennoch haben wir uns so verhalten, daß die Entwaldung von zwei Millionen Quadratkilometern Land möglich wurde, und wir haben ebenso die Luft, die Flüsse und Teile der Ozonschicht zerstört. Wir sind gefangen von jenem Denken, das nur annehmliche Bedingungen für unser kleines Selbst sucht, während wir zugleich unser großes Selbst zerstören. Wenn wir diese Situation verändern wollen, dann müssen wir damit beginnen, unser wahres Selbst zu leben. Unser wahres Selbst zu sein bedeutet, daß wir der Wald 'sein', der Fluß 'sein', und die Ozonschicht 'sein' müssen. Wenn wir uns als den Wald sehen, dann werden wir die Hoffnungen und Ängste der Bäume erfahren. Wenn wir dies nicht tun, dann werden die Wälder sterben, und wir werden unsere Gelegenheit zum Frieden verpassen. Mit dem Verständnis, daß wir mit den Bäumen 'inter-sind' (wechselseitig verbunden sind), entsteht das Wissen um den entscheidenden Beitrag, den wir zum Fortleben der Bäume leisten können. In den letzten zwanzig Jahren haben unsere Automobile und Fabriken sauren Regen erzeugt, der unzählige Bäume zerstört hat. Da wir mit den Bäumen intersind, können wir wissen, daß mit ihrem Ableben auch wir selbst bald nicht mehr da sein werden. Eine Eiche ist eine Eiche. Das ist alles, was eine Eiche tun muß. Wenn eine Eiche weniger als eine Eiche wäre, würden wir alle in Schwierigkeiten geraten. Deshalb können wir sagen, daß die Eichen das Dharma (die Wahrheit und Wirklichkeit) lehren.

In unseren früheren Leben waren wir Felsen, Wolken und Bäume. Vielleicht waren wir sogar selbst eine Eiche. Dies ist nicht nur eine buddhistische Überzeugung; sie läßt sich auch wissenschaftlich begründen. Denn wir Menschen sind eine sehr junge Spezies. Erst vor kurzem erschienen wir auf der Erde. Wir waren Pflanzen, wir waren Bäume und jetzt sind wir Menschen geworden. Wir müssen uns an unsere vergangenen Leben erinnern und bescheiden sein. Wir können das Dharma von einer Eiche erlernen. Tatsächlich verkündet jeder Kieselstein, jedes Blatt und jede Blume das Saddharma Pundarika (Lotus des guten Gesetzes) -Sutra.

Wenn wir grünes Gemüse betrachten, sollten wir wissen, daß auch die Sonne 'grün' ist, nicht nur das Gemüse. Denn die grüne Farbe in den Blättern der Gemüsepflanzen ist der Anwesenheit der Sonne zuzuschreiben. Ohne die Sonne könnte keine Art überleben. Die Blätter nehmen das Sonnenlicht auf, wenn es auf ihre Oberflächen scheint. Sie behalten die Sonnenenergie zurück und entnehmen Kohlenstoff aus der Atmosphäre, um Nährsubstanz für die Pflanze herzustellen. Ohne Sonne, Wasser, Luft und Erde gäbe es kein Gemüse. Das 'Gemüse' ist sozusagen das Zusammentreffen zahlreicher nah- und fernliegender Bedingungen.

Alles befindet sich in dauernder Umwandlung. Alles Leben ist vergänglich. Wir sind alle Kinder der Erde und eines Tages wird sie uns zu sich zurückholen. Wir gehen ständig aus der Mutter Erde hervor, indem wir von ihr ernährt werden, und kehren schließlich zu ihr zurück. Genau wie wir werden auch die Pflanzen geboren, leben eine Zeitlang und kehren dann zur Erde zurück. Wenn sie sich zersetzen, düngen sie unsere Gärten. Lebendes Gemüse und sich zersetzendes Gemüse sind Teile derselben Wirklichkeit. Ohne das eine kann das andere nicht sein. Nach sechs Monaten wird der Kompost wieder zu frischem Gemüse. Pflanzen und Erde sind aufeinander angewiesen. Ob die Erde frisch, schön und grün ist oder dürr und ausgetrocknet, hängt von den Pflanzen ab. Es hängt auch von uns ab. Die Art und Weise, wie wir auf der Erde gehen, hat einen großen Einfluß auf Tiere und Pflanzen.

Wir haben so viele Tiere und Pflanzen getötet und ihre Umwelt zerstört; viele Arten sind bereits ausgestorben. Im Gegenzug schadet unsere Umwelt nun allen von uns. Die Verschmutzung von Wasser und Luft fordert ihren Tribut. Wir sind wie Schlafwandler; wir wissen nicht, was wir tun, oder wohin wir steuern. Ob wir aufwachen können oder nicht, hängt davon ab, ob wir bewußt auf unserer Mutter Erde gehen können oder nicht. Die Zukunft allen Lebens einschließlich unseres eigenen hängt von unseren achtsamen Schritten ab.

Im (geistigen) Himmel lehren uns die Gesänge der 'göttlichen Vögel' die höchste Wirklichkeit. (Anspielung auf den buddhistischen Paradies-Mythos vom "Reinen Land'). Aber auch auf der Erde enthüllen uns die Lieder der Vögel unsere wahre Natur. Vogelgesänge drücken Freude, Schönheit und Reinheit aus und erwecken in uns Lebenskraft und Liebe. So viele Wesen im Universum lieben uns bedingungslos. Die Bäume, das Wasser und die Luft verlangen nichts von uns; sie lieben uns bloß. Obgleich wir deren Art von Liebe benötigen, fahren wir fort, sie zu zerstören. Indem wir die Tiere, die Luft und die Bäume zerstören, zerstören wir uns selbst. Wir müssen lernen, allen Wesen gegenüber bedingungslose Liebe zu verwirklichen, so daß die Tiere, die Luft und die Bäume weiterhin sie selbst sein können.

Unsere Ökologie sollte eine tiefe Ökologie sein - und nicht nur eine tiefe, sondern auch eine allumfassende Ökologie. Denn es gibt auch in unserem Bewußtsein Verschmutzung. Fernsehen, Filme, Zeitungen sind Formen der Verschmutzung unserer selbst und unserer Kinder. Sie säen Samen der Gewalt und Angst in uns und verunreinigen unser Bewußtsein. Das läßt sich mit unserem Tun vergleichen: Auch wir zerstören unsere Umwelt, indem wir Landwirtschaft mit Chemikalien betreiben, die Bäume abholzen und das Wasser verunreinigen. Wir müssen das Ökosystem der Erde und das Ökosystem des Geistes bewahren; sonst wird sich diese Art von Gewalt und Rücksichtslosigkeit auch noch über andere Lebensbereiche ausdehnen.
Wenn die Erde Dein Körper wäre, könntest Du viele Bereiche wahrnehmen, an denen sie leidet. Viele Menschen sind sich des Leidens der Welt bewußt und ihre Herzen sind voller Mitgefühl. Sie wissen, was getan werden muß. So setzen sie sich durch politische, soziale und umweltschützerische Arbeit ein, weil sie die Dinge zu verändern suchen. Aber nach einer Periode intensiven Engagements fühlen sie sich entmutigt, weil es ihnen an der nötigen Stärke fehlt, um ein Leben der Tat auf Dauer aufrecht zu erhalten. Wahrhafte Stärke liegt nicht in Macht, Geld oder Warfen, sondern in tiefem inneren Frieden! Es ist der beste Weg, sich um die Umwelt zu kümmern, wenn man sich um den Umweltschützer kümmert.

Unsere Erde - unsere grüne, schöne Erde - ist in Gefahr! Und wir alle wissen es. Wenn wir nicht gut aufpassen, wird unser Erdschiff untergehen. Wir verhalten uns so, als hätte unser tägliches Leben nichts mit der Weltsituation zu tun; aber das ist sicher: Wenn wir unser tägliches Leben verändern können -die Art, wie wir denken, die Art, wie wir sprechen, und die Art, wie wir handeln - dann können wir die Welt verändern!



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