Martin H. Petrich
Zarte Blüten im Lotusteich
Der Buddhismus in Vietnam zwischen Widerstand und Aufbruch


Es ist später Nachmittag geworden, während wir die Treppen zur Thien Mu Pagode emporsteigen. Wir sind um diese Zeit die einzigen Besucher dieser Pagode, die wegen ihrer wunderschönen Lage am Parfume-Fluß in der alten Kaiserstadt Hue das Ziel vieler Touristen ist. Unser Weg fuhrt uns zu einem neuen Grabmal, das die Touristen für gewöhnlich auslassen. Es ist das Grab Thich Don Haus. Während wir gedankenverloren vor dem Grabmal stehen, kommt ein Mönch auf uns zu und lädt uns zu einer Tasse Tee ein. Er ist erstaunt, daß wir seinen verstorbenen Meister kennen und kommt ins Erzählen. "Thich Don Hau war einer der großen Reformer des vietnamesischen Buddhismus in diesem Jahrhundert" sagt er. Und in der Tat: Von Hue gingen die wesentlichen Erneuerungsimpulse aus und noch heute ist die in Zentralvietnam gelegene Stadt neben Saigon (heute Ho-Chi-Minh-Stadt genannt) das Zentrum des vietnamesischen Buddhismus. Und es ist der Ort, an dem sich der Konflikt zwischen den Machthabern und dem Buddhismus am schärfsten gezeigt hat und zeigt. Es war in Hue, wo sich in den 60er Jahren der buddhistische Protest gegen den katholischen Präsidenten Süd-Vietnams, Ngo Dinh Diem, und die nach seinem Sturz häufig wechselnden Militärdiktatoren formiert hat.

Seit dem Tod Thich Don Haus im Jahre 1992 verschärfte sich die Auseinandersetzung mit der kommunistischen Regierung auf dramatische Weise. Zum Jahrestag seines Begräbnisses im Mai '93 kam es zur Selbstverbrennung eines Laien-Buddhisten. Es folgten Protestaktionen, an denen Zehntausende von Menschen teilnahmen. Dem jetzigen Meister der Thien Mu Pagode, Thich Tri Tuu, sowie drei weiteren Mönchen wurde die Anstiftung dieser Demonstration vorgeworfen und im November '93 wurden sie zu vier Jahren Gefängnis verurteilt.

"Jeden Tag kommt die Polizei vorbei", berichtet der Mönch weiter. "Nur weil es Abend ist und wir alleine sind, kann ich mit Ihnen sprechen". Die wenigsten Besucher wissen, daß die Thien Mu Pagode eines der Hauptorte dieses buddhistischen Widerstandes gegen die staatliche Einmischung in religiöse Angelegenheiten ist. Um den Buddhismus kontrollieren zu können, wurde 1981 in der Quan Su Pagode in Hanoi auf Druck der kommunistischen Regierung der 'Vietnam Buddhist Sangha' (VBC) gegründet. Nur er wird als legitimer Vertreter des Buddhismus anerkannt. Alle anderen buddhistischen Organisationen wurden dadurch de facto illegal. Dies betraf auch die 1964 gegründete Vereinigte Buddhistische Küche in Vietnam (UBCV), deren "Institut für die Glaubensverkündigung" (Vien Höa Dao) politisch sehr aktiv war. Die heutigen Leiter dieses Institutes, Thich Quang Do und Thich Huyen Quang, befinden sich seit Jahren unter Hausarrest.

Im Gespräch mit vielen jungen Mönchen und Nonnen, die den Großteil der etwa 20.000 Sanghamitglieder ausmachen, wird aber auch deutlich, daß der Konflikt um die legitime Organisation nicht im Mittelpunkt ihres Interesses steht. Für sie ist weniger Politik, dafür umso mehr der Aufbau des Buddhismus wichtig. "Ich will den Buddhismus praktizieren und weitergeben", sagt ein Mönch der großen Vinh Nghiem Pagode in Saigon, "deshalb versuche ich mich mit der gegenwärtigen Regierung zu arrangieren. Die Buddhisten sollen nicht Zwietracht und Streit säen, sondern Frieden stiften". Der Mönch bereitet sich momentan auf einen Studienaufenthalt in Japan vor. Er möchte an die unterbrochenen Kontakte zwischen vietnamesischen und japanischen Buddhisten anknüpfen. Seit 1975 konnten keine Mönche oder Nonnen mehr im Ausland studieren. Dies ist ihnen erst seit kurzem wieder erlaubt. Gegenwärtig studieren vier Mönche in Neu Delhi und zwei in Taiwan.

Trotz der bestehenden Konflikte ist das Klima zwischen Regierung und Religionen etwas milder geworden. Im Zuge der wirtschaftlichen Öffnung des Landes seit dem 6. Parteitag der Kommunistischen Partei Vietnams im Jahre 1986 (doi moi genannt) will sich die Regierung vor allen Dingen den ausländischen Investoren etwas liberaler zeigen. Seit dem Zusammenbruch des Ostblocks und dem Niedergang der Sowjetunion stehen die Kommunisten mit dem Rücken zur Wand. Es ist keine Supermacht mehr da, an die sie sich anlehnen könnten. Und das bedeutet für den Buddhismus etwas mehr Bewegungsfreiheit.

Im ganzen Land herrscht eine rege Bautätigkeit. Pagoden werden restauriert oder neu gebaut und soziale Einrichtungen nehmen an Zahl zu. Die Ausbildung der Mönche und Nonnen bereitet keine größeren Schwierigkeiten mehr (allein an der Vinh Nghiem Pagode studieren mehr als 600 Mönche und Nonnen). War es bis vor kurzem noch problematisch, mit Ausländern in Kontakt zu treten, so ist dies heute (von einigen Ausnahmen abgesehen) einfach. Beim Besuch einer Pagode ist die Einladung zu einer Tasse Tee beinahe obligatorisch. Auch die 1947 gegründete große buddhistische Laienorganisation Gia Dinh Phat Tu (buddh. Familie) ist seit zwei Jahren wieder zugelassen und kann ihre sonntäglichen Aktivitäten ohne größere Probleme ausüben.

Es gibt viel zu entdecken im vietnamesischen Buddhismus, über den bei uns leider so wenig bekannt ist. Vietnam ist das einzige buddhistische Land, in dem Mahayana-und Theravada-Tradition nebeneinander existieren. Der Direktor des Van-Hanh-Instituts für höhere buddhistische Studien in Saigon, der 74-jährige Pali-Lehrer Thich Minh Chau, trägt zu unserem Erstaunen die für den Theravada-Buddhismus typische orange Robe, obwohl er Mahayana-Buddhist ist. So könnte Vietnam in Zukunft eine bedeutende Rolle in der innerbuddhistischen Ökumene spielen. Zudem ist Vietnam ein Land, in dem die großen asiatischen Religionen Taoismus, Konfuzianismus und Buddhismus sich gegenseitig durchdringen und bereichern. In den neuen Religionen der Cao Dai und Hoa Hao wurden diese drei religiösen Traditionen miteinander vereint. "Der Vietnamese hat durchschnittlich zwei Religionen", meint ein Religionswissenschaftler aus Hanoi. Vietnam ist bekannt für diesen Synkretismus. Beim Besuch eines Hindu-Tempels in Saigon anläßlich des buddhistischen Vollmondfestes sind wir erstaunt über die vielen Menschen, die mit brennenden Räucherstäbchen und Blumen in der Hand das Hinduheiligtum umschreiten. Auf die naive Frage, ob sie Hindu sei, antwortet eine junge Frau lachend: "Nein, ich bin Buddhistin."

In den letzten Jahren sind die sozialen Aktivitäten der Buddhisten wieder zahlreicher und offensichtlicher geworden. Nach der Übernahme Südvietnams im Jahre 1975 durch die Kommunisten wurden alle sozialen Einrichtungen und Ausbildungsstätten geschlossen oder konfisziert. Seit Ende der 80er Jahre werden sie wieder schrittweise erlaubt. An der Duc-Son-Pagode in Hue gibt es seit 1989 ein von Nonnen geführtes Waisenhaus und in dem sehr armen IV. Bezirk von Saigon existiert eine an die Linh Quang Tinh Xa Pagode angegliederte Schule für behinderte Kinder und Jugendliche. Wie sehr spirituelle und leibliche Gesundheit im vietnamesischen Buddhismus zusammengehören, zeigt sich in den zahlreichen ambulanten Einrichtungen, in denen sowohl östliche als auch westliche Heilungsmethoden praktiziert werden. An der Phap Hoa Pagode in Saigon besteht seit 1989 die Möglichkeit, eine dreijährige Ausbildung in östlicher Medizin zu absolvieren. Als Vorbild gilt der Mönch Thich Tue Tinh aus dem 14. Jahrhundert, der die Heilkraft der Kräuter beschrieben und systematisiert hatte. "Die Mönche und Nonnen genießen ein hohes Ansehen in der Bevölkerung. Sie sind Arzt, Berater, Wunderheiler und Glücksbringer zugleich", meint die Nonne Thich Nu Tri Hai aus Saigon. Gerade im ländlichen Bereich ist die Armut sehr groß und die Bevölkerung besonders stark den Folgen der Umweltzerstörung (aufgrund der amerikanischen Agent-Orange-Einsätze im Vietnamkrieg und der heutigen Abholzung der Wälder) ausgesetzt.

Thich Nu Tri Hai ist eine außergewöhnliche Nonne: unermüdlich reist sie seit vielen Jahren in Vietnam umher, um zu helfen, wo Hilfe am nötigsten ist. Anfang der sechziger Jahre, im Alter von 25, trat sie in Hue in ein Nonnenkloster ein. Als Mitglied einer Gruppe engagierter Buddhisten (Su Gia Tu Bi) leistete sie in den vom Vietnamkrieg besonders hart betroffenen Gebieten Zentral-Vietnams direkte Hilfe und erlebte das immense Leiden der Bevölkerung hautnah mit. Durch Auslandsstudien in Paris und den USA kam sie dann mit Ansätzen der modernen Sozialwissenschaft in Berührung.

1965 gründete der heute in Südfrankreich im Exil lebende Mönch und Vordenker des engagierten Buddhismus, Thich Nhat Hanh, in Saigon die an die buddhistische Van-Hanh Universität angeschlossene School of Youth for Social Service (SYSS). Diese hatte zum Ziel, in drei bis sechsmonatigen Kursen junge Männer und Frauen in Sozialarbeit und Community Development auszubilden.

Thfch Nu Tri Hai arbeitete im Ausbildungsprogramm mit. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer erlernten Techniken der Gruppendynamik, die Erstellung von Fallstudien und Prinzipien sozialer Entwicklung, um später in die Dörfer und Slums zu gehen, die Situation zu analysieren und adäquate Hilfe zu ermöglichen. Nach dem Sieg der Kommunisten 1975 kam das abrupte Ende all dieser Aktivitäten und Thich Nu Tri Hai wurde wie viele andere ein Opfer der nun einsetzenden kommunistischen Willkürherrschaft. Von 1984 bis 1988 wurde die Nonne in einem Saigoner Gefängnis festgesetzt, weil die Regierung ihren Einfluß unter der Bevölkerung fürchtete. "Die Kommunisten gestatten zwar heute wieder soziale Einrichtungen, aber sie wollen nicht, daß die Menschen von den Mönchen und Nonnen beeinflußt werden", meint sie und über ihre Zeit im Gefängnis sagt sie: "Seit ich im Gefängnis war, furchte ich nichts mehr. Es war der beste Ort zum Meditieren. Seitdem verstehe ich, daß Samsara und Nirvana nicht zwei getrennte Welten, sondern eins sind".

Seit Anfang der 90er Jahre ist soziales Engagement wieder begrenzt möglich, aber es ist vom Wohlwollen der lokalen Behörden abhängig. Sie sind mächtiger und häufig korrupter als die Regierung in der fernen Hauptstadt Hanoi. "Manchmal werden wir gestoppt und weggeschickt, und manchmal arbeiten die Behörden sehr gut mit uns zusammen. Wir tun, was wir können". "Letztendlich sind die persönlichen Kontakte am wichtigsten," meint sie. "Darüber können die großangelegten Aktionen der internationalen Hilfsorganisationen, die oft viel Geld aber wenig Herz bringen, nicht hinwegtäuschen."

Die Buddhisten Vietnams sind in ihrer zweitausendjährigen Geschichte durch unzählige Höhen und Tiefen gegangen. Sie wurden gefördert, toleriert, unterdrückt oder verfolgt. Das hat den Buddhismus hier geprägt. Er beeindruckt in Vietnam nicht durch großartige Bauten wie Angkor Wat in Kambodscha oder Pagan in Burma. Wer dies zum Maßstab nimmt, wird enttäuscht sein. Was den noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts totgesagten Buddhismus in Vietnam auszeichnet, ist seine Dynamik und seine Bedeutung für das Leben der heutigen Menschen in Vietnam. Und diese Bedeutung wird er auch für das heranbrechende 21. Jahrhundert ohne Zweifel haben.



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