Kann uns eine neue Ethik retten?
von Franz-Johannes Litsch


Es ist unübersehbar geworden! Das geistige Klima in unserer westlichen 'Zivilisation', mehr noch der gesellschaftliche Zustand der Menschheit nähert sich immer mehr einem bedrohlichen Abgrund. Krieg, Gewalt und Hass, Betrug und Profitsucht, Egozentrik, Gefühllosigkeit usw. erreichen ein in der Menschheitsgeschichte bisher ungekanntes Ausmaß der Verbreitung und Normalität. Ob auf der Straße, in der Familie oder Schule, in der Politik, der Wirtschaft, der Wissenschaft, den Medien oder auch unter den Religionen, alles scheint immer stärker in einen unaufhaltsamen Sog des totalen Verlusts von Menschlichkeit und Verantwortlichkeit, von Ehrlichkeit, Freundlichkeit, Achtung, Solidarität zu geraten. Auch vor allerletzten Tabus der Schonung und des Nichtverletzens von anderen und Anderem gibt es kein Halten mehr (siehe nur in der Werbung).

Wurde ethisch-moralisches Denken in der Praxis zwar schon immer von vielen verletzt und von einzelnen deutlich mit Füßen getreten, so hielt man doch bisher noch auf saubere Weste und reines Gewissen. Heute sind auch die Zeiten moralischer Redlichkeit und ethischer Verantwortlichkeit der 'Anständigen´ und 'Vorbilder' vorbei.

Der Ersatz von Menschlichkeit durch kalten, skrupellosen Egoismus ist heute Staatsdoktrin. Der 'freie, demokratische Westen', jahrzehntelang darauf aus, in der Frage der Menschenrechte seine moralische Überlegenheit zu demonstrieren, hat gegenwärtig kaum noch Hemmung dabei, selbst da, wo es um offenkundigen, massenhaften Völkermord geht (ob Jugoslawien, Kurdistan, Guatemala, Ost-Timor oder Tibet), die hehren Prinzipien bedenkenlos profitablen Rüstungs-, Öl-, Atom- und anderen Geschäften und Interessen zu opfern.

Da sind die unaufhaltsam näherrückende Klimakatastrophe, der millionenfache Hungerstod im vergessenen Afrika, die gentechnische Zeitbombe der Wissenschaftler, die Herrschaft des Rassismus in unseren Nächten, die Horrorvideos in den Köpfen der Kinder, die massenhafte Arbeitslosigkeit, wo es so viel zu tun gäbe... Stattdessen präsentiert sich Politik international immer mehr als Showgeschäft im Kampf um die höchsten Einschaltquoten für den täglichen Skandalkrimi.

Nicht nur die UNO und die politischen Führer des Westens haben mittlerweile fast jeden moralischen Kredit verspielt, die bewährten, Staat und Gesellschaft konstituierenden Ideologien und Glaubenssysteme, von den 'christ-lich-abendländischen Werten' bis zum 'wissenschaftlichen Sozialismus', haben fast jede orientierende Kraft und Wirkung verloren. Die Glaubwürdigkeit der öffentlichen Repräsentanten und Institutionen ist der allgemeinen Abkehr, Ratlosigkeit und Frustration gewichen. Und am Horizont grassierender 'Politikverdrossenheit' und 'Kirchenflucht' kündigen sich vom Ural bis zum Atlantik in düster heraufziehender Götterdämmerung die neuen, alten apokalyptischen Reiter der 'Endlösungen' und 'tausend-jährigen Reiche' an.
Angesichts dessen wird in wachsendem Maße eine von den 'aufgeklärten' Rationalisten längst abgeschriebene Fragestellung wieder aktuell, nämlich die nach der menschlichen Ethik und den Grundwerten unseres Lebens. Auf akademischen Kongressen, bei politischen Wochenendtagungen, in Manager-Trainingskursen und kirchlichen Konferenzen ist das Thema Ethik wieder hoch im Kurs und umstritten. Und so gibt es bereits Ethikexperten und eine Spezialisierung in Wissenschaftsethik, Wirtschaftsethik, Umweltethik usw. und eine Fülle von Veröffentlichungen dazu.

Dabei ist unter vielen die Ansicht aufgetaucht, daß für Ethik doch eigentlich die Kirchen und Religionen zuständig seien und daß von dort her Antwort, Sinngebung und die Formulierung ethischer Grundregeln erwartet werden müssten. Aber gerade jene scheinen in dieser Aufgabe völlig zu versagen, denn zumindest in den westlichen Gesellschaften kehren die Menschen den Kirchen und der Religion massenhaft den Rücken. Gerade von dort erwarten sie keine ethische Orientierung mehr oder sind nicht länger mehr bereit, sich 'moralisch gängeln und bevormunden' zu lassen.

So ist es sehr zweifelhaft, ob all die vielfältigen Versuche, neue ethische Grundprinzipien und Konzepte für die Zukunft der Weltgemeinschaft zu formulieren über den zwar bedeutsamen Dialog von Philosophen, Wissenschaftlern, religiösen Vertretern und Anhängern hinaus auch Wirkung und Bedeutung für die Mehrheit der Menschen und unsere Gesellschaften haben werden, ja haben können.

Es genügt doch offensichtlich nicht mehr, den allgemeinen Verlust ethischer Grundhaltung festzustellen, ihn zu beklagen und die Wiedererrichtung allgemeinverbindlicher ethischer Normen zu fordern. Es ist doch zu fragen, warum erleben wir einen derart dramatischen Verlust ethischer Orientierung? Liegt es wirklich nur daran (wie Küng meint), daß die Menschen nicht mehr wissen, was erlaubt ist und was nicht, weil der Eindruck besteht, daß einfach alles beliebig ist? Ist es nicht so, daß die Menschen gar nicht mehr wissen wollen, was erlaubt ist und was nicht, daß es letztlich gar nicht um die Anerkennung ethischer Prinzipien geht, sondern um die Anerkennung der Art und Weise wie diese zustande kommen und eingefordert werden.

Der wenig bekannte deutsch-jüdische Tiefenpsychologe und C. G. Jung-Schüler Erich Neumann hat 1947, unmittelbar nach der menschlichen Katastrophe des 1. Weltkriegs, des Holocaust an den Juden und des Abwurfs der Atombombe eine kleine Schrift veröffentlicht, die leider bis heute weitgehend unbeachtet blieb, während sie (meines Erachtens) eine der bedeutsamsten und aufschlußreichsten Einsichten dieses Jahrhunderts enthält. Der schlichte Titel 'Tiefenpsychologie und neue Ethik' läßt nicht erkennen, daß Neumanns Erkenntnisse -heute nach 47 Jahren gelesen - geradezu prophetische Voraussagen enthalten. Sie haben sich seither in jeder Hinsicht bestätigt.

Neumann sagt in seiner Schrift die Krise der ethischen Elite (Vorbilder) und damit den allgemeinen Zusammenbruch der herrschenden 'alten, dualistischen Ethik' voraus und kündigt, als Orientierung in der daraus hervorgehenden kulturellen Krise, die Entstehung einer 'neuen, ganzheitlichen Ethik' an. Neumann stellt auf Grund kulturhistorischer Untersuchungen fest:

Die bisherige 'alte Ethik' ist

Die alte Ethik ist eine Ethik, die von einer gesellschaftlichen Minderheit, einer 'ethischen Elite', nämlich von Heiligen, Propheten, Priestern, Mönchen usw. entwickelt wurde. Diese wurde von der gesellschaftlichen Machtelite als nützlich übernommen und in festen ethischen Regeln, Nonnen, Gesetzen mit gewissem Nachdruck der Bevölkerung auferlegt, entsprechend der Art und Weise, wie Eltern ihren Kindern sagen, was zu tun ist.

Als autoritäre Ethik ist sie aber auch eine äußerliche Ethik, denn sie ist nicht aus den Menschen selbst durch innere Erfahrung und Einsicht gewonnen, sondern eben als eine äußere, gesellschaftliche, ja staatliche Norm aufgestellt, an die sich jeder anzupassen hat.

Darüber hinaus ist die alte Ethik in noch tieferem Sinne eine Außen-Ethik, denn sie beruht auch bei jener ethischen Elite auf einer Haltung, die das sog. Ich vom Nicht-Ich, die Innenwelt von der Außenwelt, das Denken vom Handeln, den Geist vom Körper, den Menschen von der Natur, den Mann von der Frau usw. abtrennt. Ethisch drückt sich dieser Dualismus in der Trennung von Gut und Böse aus und fuhrt zu dem moralischen Ziel, daß das gute (vollkommene) Ich, sich vom bösen (unvollkommenen) Nicht-Ich ablösen müsse, und dieses Böse, der Teufel, der Feind vernichtet werden müsse.

Das ethische Ziel besteht somit im Abspalten, Ausschließen, Einsperren, Vernichten des bösen anderen Äußeren. Ist der Feind vernichtet, dann ist das vermeintlich Gute gerettet und wiederhergestellt.

Unweigerlich drängen sich uns heute da die Bilder von Kreuzzügen, Hexen- und Ketzerverbrennungen, von Missionierung und Ausrottung fremder Kulturen, Völker und Religionen bis zur systematischen Vernichtung der Juden und zu Jugoslawien 1994 auf.

Die Tiefenpsychologie nennt jenen Vorgang 'Schattenprojektion'. Dies meint: das von der herrschenden Ethik nicht akzeptierte Dunkle, Böse in uns wird von uns, um die Reinheit unseres Ichs herzustellen oder zu bewahren auf das Nicht-Ich, den anderen, den Fremden übertragen. Er wird zur Ursache, zum Schuldigen, zum 'Sündenbock' und 'Prügelknaben' für meine Fehler.

Die alte Ethik beruht auf Kampf und Krieg, auf Gewalt gegen sich selbst und den anderen. Sie versucht das Gute zu erzwingen, indem sie das Böse eliminiert. Doch da es das (ausschließlich) Gute und Böse nicht gibt, schafft sie im Kampf gegen das Böse selber Böses.

Die alte Ethik trägt so selbst die Verantwortung für das Ausmaß an Verbrechen, Unmenschlichkeit und Verantwortungslosigkeit, dem wir uns in den letzten 2000 Jahren Menschheitsgeschichte, insbesondere aber in unserer heutigen Gegenwart, gegenübersehen. Die herrschende Moral selbst ist unmoralisch und erzeugt das, was sie beklagt nämlich Krieg, Gewalt, Lüge.

Hier wird uns die Aktualität der vor 2500 Jahren gelehrten und gelebten Botschaft Buddhas schlagartig bewußt. Eben dies, die Einsicht, daß das Konzept eines vom Nicht-Ich abtrennbaren Ichs, ja überhaupt der Abtrennbarkeit von Begriffen, Vorstellungen und Dingen (das Gute, das Wahre, der Deutsche, der Christ, der Buddhist usw.) die Ursache allen Leids (meiner selbst und der anderen) sei, war und ist der Kern des von ihm gewiesenen Weges ethischer Lebensführung.

Doch nicht nur Buddha, auch Jesus hat in seiner Bergpredigt und in seinem liebenden und gewaltlosen Handeln dieselbe Botschaft gelehrt und gelebt. 'Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet' war eines seiner Worte. Aber jene Botschaft wurde bisher kaum verstanden, denn sie erfordert etwas, was wirklicher Anstrengung bedarf, nämlich Selbsterkenntnis, Selbstverantwortung, Selbstdisziplin.

Die 'neue Ethik' ist darum

Die neue Ethik wird nicht gewonnen durch Übernahme von Normen, Vorschriften, Regeln, Gesetzen, die uns andere geben und aufzwingen wollen. Die neue Ethik ist eine freie Ethik, eine selbstgewählte Ethik, eine aus mir selbst gewonnene Ethik. Die neue Ethik beruht auf Erfahrung, kritischer Prüfung und tiefem Verstehen. Die neue Ethik ist eine Ethik der Ganzheitlichkeit und Offenheit (in der Sprache Buddhas, der Leerheit). Sie trennt nicht mehr Ich vom Nicht-Ich, Innen vom Außen, Gutes vom Bösen. Sie kennt keine Einseitigkeit und Identifizierung.
 

Wir beginnen zu verstehen, warum Buddha seine Schüler eindringlich ermahnte, nichts nur aufgrund irgendwelcher Autorität (einschließlich seiner eigenen), Tradition oder Vorschrift zu übernehmen, sondern alles selbst zu prüfen und in seiner Bedeutung zu ergründen. Weil ethische Regeln ernsthafte Wirksamkeit nur entfalten, wenn sie auf eigener, freier, innerer Einsicht, auf erwachsener Selbstverantwortung beruhen, darum sind Buddhas Regem keine Regem des 'Du sollst' sondern des 'Ich übe mich darin'.

Und wir beginnen zu verstehen, warum der Weg Buddhas ein Weg ist, der bei der Frage des 'Ich' beginnt und der die Ursachen für mein und unser Leid, wie für unser Glück nirgendwo anders als bei mir selbst zu erkennen sucht.

Die neue Ethik ist eine Ethik der 'Zurücknahme der Projektionen'. Sie sieht 'das Böse' nicht mehr im anderen, sondern in uns selbst. Sie sieht die Ganzheit, die Widersprüchlichkeit unserer selbst.

Die neue Ethik ist eine Ethik des Friedens, des Nicht-Verurteilens, des Mitfühlens, der Gewaltlosigkeit. 'Das Böse' in mir muß nicht bekämpft und vernichtet werden, sondern muß wahrgenommen und bewußt werden. Ja, das Böse in mir muß in seiner Ursache verstanden, akzeptiert und umarmt werden, um es zu versöhnen. Denn die Zerstörungskraft des Bösen beruht auf der Wut über seine Unterdrückung.

Dies bedeutet nicht, das Böse zuzulassen und zu verharmlosen. Es ist notwendig, das Böse und damit mich und die anderen zu schützen.

Doch ist es nicht mehr die Abspaltung und Unterdrückung des Bösen, Schädlichen, Leidverursachenden, die mich und den anderen schützt, sondern es ist die allseitige Achtsamkeit (sati), die mich und den anderen schützt. "Sich selbst schützend schützt man den anderen, den anderen schützend, schützt man sich selbst* beißt ein zentraler Satz im Satipathana-Sutra (Lehrrede von der Achtsamkeit). Achtsamkeit ist Bewußtheit, ist Verantwortlichkeit, ist Wachheit. Achtsamkeit ist der Buddha (der Erwachte) selbst.

Weil die Grundlage der ganzen Lehre Buddhas die Praxis der Achtsamkeit ist, darum ist das Wesen der ethischen Regeln, die Buddha vor zweieinhalbtausend Jahren formulierte, die Praxis der Achtsamkeit. "Die fünf wunderbaren Regeln des Buddha sind nichts anderes als angewandte Übung der Achtsamkeit", lehrt uns Thich Nhat Hanh heute. Und "jede einzelne Regel enthält alle anderen", denn Achtsamkeit ist nicht trennbar. Sie umfaßt alles was existiert.

Wahrscheinlich ist es kein Zufall und nicht nur bloßes Glück, daß Buddhas Weg heute in den Westen kommt, in eine Zivilisation, die ratlos vor ihrem Ende zu stehen scheint. In Wahrheit sind wir bereits mitten in einem gewaltigen und einzigartigen  Transformationsprozeß. Wir stehen am Beginn einer neuen Ethik, aber sie ist eine Ethik der Nicht-Ethik, das heißt des Nicht-Moralisierens. Und zum ersten Mal in der Geschichte seit Buddha, Jesus und anderen großen Lehrern des entfalteten Menschseins hat - wenn wir uns nicht der kollektiven gegenseitigen Selbstzerstörung hingeben - ihre Botschaft die Chance, zur Praxis einer aus der Krise verwandelten Menschheit zu werden.



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