Die ist ja noch gar nicht tot!
Die Leidensgeschichte der Tibeterin Adhi Tapetso

Im April des Jahres 1989 war die Menschenrechtslage in Tibet Thema einer internationalen Anhörung in Bonn. zu der die Grünen-Abgeordneten Petra Kelly und Gert Bastion aufgerufen hatten. Dabei berichtete die 56-jährige Tibeterin Adhi Tapetso von ihrem Schicksal. Die Wochenzeitung DIE ZEIT dokumentierte ihre Aussage am 16. Juni 1989. Wenn wir diesen erschütternden Bericht hier wiedergeben, dann nicht, um bei den Lesern Hass gegen das chinesische Volk entstehen zu lassen, sondern um dem inzwischen fast schon wieder vergessenen, aber anhaltenden Leid des tibetischen Volkes eine Stimme zu geben, denn nichts hat sich bisher an der Menschenrechtssituation dort geändert. Mehr denn je braucht Tibet heute unsere Solidarität und unser Engagement, um als Volk und Kultur zu überleben.


Ich war gerade 25 Jahre alt geworden und lebte in Kandze, als an einem Morgen sechs chinesische Polizisten kamen, um mich zu verhaften. Damals hatte ich zwei Kinder, mein Sohn war drei Jahre und meine Tochter erst wenige Monate alt. Die Polizisten beschuldigten mich, zu der Revolte im Osten Tibets angestachelt zu haben. Als sie meine Hände auf den Rücken fesselten, umklammerte mein kleiner Sohn meine Beine und wollte mich nicht fortlassen. Er hatte wohl begriffen, daß seine Mutter abgeholt würde. Die Männer schlugen auf das schreiende Kind ein und rissen es von mir. Noch heute klingt mir sein Schreien in den Ohren, denn er wollte mit mir gehen. Als ich mich noch einmal zu ihm umdrehte, zerrten sie mich an den Haaren und schlugen auf mich ein. Seither bin ich auf dem rechten Ohr fast taub.

Meine Tochter wachte in dem Augenblick auf, als sie mich aus dem Haus stießen. Ich konnte noch sehen, wie sie mich anlachte. Später haben sich Nachbarn um sie gekümmert und sie großgezogen. Sie hatte noch Glück, und ich habe sie nach vielen Jahren einmal wiedergesehen. Über meinen Sohn habe ich gehört, daß er verrückt geworden ist und sich umgebracht hat. Er soll ins Wasser gesprungen sein.

Mit mir war auch der Mann meiner Schwester verhaftet worden. Als wir bei der Polizei zusammentrafen, schworen wir uns zu schweigen, gleichgültig, was uns zustoßen würde. Sie beschuldigten uns erneut, zu den Anführern der Aufstände im Osten zu gehören, und wollten von uns die Namen anderer Oppositioneller erfahren. Wir wurden bedroht, geschlagen und gefoltert, bis wir schließlich nachgaben und gestanden, die Revolten angezettelt zu haben. Aber Namen haben sie nicht aus uns herausbekommen. Sie zwangen uns daher, mit dem Gesicht zueinander hinzuknien und hängten uns Schilder mit chinesischen Schriftzeichen um den Hals. Ich weiß nicht, was darauf gestanden hat. Sie drohten uns: "Wenn ihr jetzt nicht aussagt, werdet ihr beide getötet." Aber wir schwiegen. Kaum zwei Meter knieten wir auseinander und schauten uns an.
Jemand setzte meinem Schwager eine Pistole an die Schläfe und drückte ab. Ich war so entsetzt, daß ich nicht hinsehen konnte. Da rissen sie mich an den Haaren und zwangen mich anzuschauen, wie er da am Boden starb. Es war grauenvoll, und ich schrie: "Er-schießt mich doch auch!" Aber sie ließen mich am Leben, doch die 28 Jahre bis zu meiner Flucht waren für mich schlimmer als der Tod.

Von Kandze wurde ich mit vielen Mönchen auf einem Lastwagen nach Dartsedo gebracht. Wie Vieh behandelten sie uns. Alle Gefangenen waren aneinandergekettet. Es stank entsetzlich, weil es während der langen Fahrt keine Unterbrechung gab, unsere Notdurft zu verrichten. In Dartsedo wurden wir in ein Kloster namens Ngachos-Gompa gebracht. Die Gebäude waren völlig leergeräumt, keine Statuen, keine Thangkas, nichts war mehr da, nur ein leerer Versammlungsraum, in dem schon andere Gefangene untergebracht waren. Es war ein Gefängnis.

Die Mönche und die Frauen erhielten dreimal täglich eine Schale mit einer wässrigen Flüssigkeit, angeblich Maissuppe. Schon nach kurzer Zeit waren viele verhungert. Wir waren ungefähr 300 Frauen in dem Gefängniskloster. Vier von uns wurden ausgesucht, die Schweine der Chinesen zu hüten, und ich hatte das Glück, dabei zu sein. Wir haben nur überlebt, weil wir von dem Schweinefutter gegessen haben. Zuweilen konnten wir auch den Mönchen davon abgeben.

Bald wurde uns klar, warum wir für diese leichte Arbeit eingeteilt worden waren. Der chinesische Kommandant in Dartsedo hieß Zhang Zu. Er betrachtete uns als seinen Besitz und vergewaltigte uns. Wir konnten uns nicht wehren. Ich glaube, es ist nicht übertrieben, wenn ich sage, daß Tag für Tag zehn Gefangene in dem Klostergefängnis starben.

Eines Tages wurden hundert Frauen ausgesucht, in einem Bleibergwerk nahe Dartsedo zu arbeiten. Wir mußten zu Fuß dorthin in Dreierreihen gehen. Als wir unterwegs an eine Brücke kamen, die einen Nebenfluß des Yangtse überquerte, ging mir der Gedanke durch den Kopf, hinunterzuspringen und allem ein Ende zu machen. Irgend wie müssen unsere Bewacher das gespürt haben, denn sie fesselten uns zu je sechs Frauen aneinander. Als Buddhistin habe ich es nicht fertiggebracht, fünf Frauen mit in den Tod zu reißen.

Als wir in dem Bleibergwerk ankamen, waren dort schon Hunderte von Gefangenen. Frauen, die noch bei Kräften waren, wurden zu schwerer Arbeit eingeteilt, die schwächeren mußten in der Landwirtschaft arbeiten. Auf den Feldern der Chinesen ernährten wir uns von Unkraut und Wurzeln. Manche Frauen aßen auch Würmer, Insekten, sogar Kakerlaken. Doch das habe ich nicht über mich gebracht. Ich wollte lieber verhungern, als das noch zu tun.

Können Sie sich vorstellen, daß wir fast nur vom Essen geredet haben? Vor allem abends. Mit der Zeit wurde das fast zu einer Hysterie unter den Frauen. Von morgens bis abends war Essen das einzige Thema. Wir träumten davon, nur eine einzige Schale Tsampa zu haben. Frauen wachten nachts auf und schrien: "Ich habe Hunger, gib mir etwas, bevor ich sterbe." Noch heute höre ich ihre Schreie.

Wir waren alle so geschwächt, daß wir uns Stöcke gesucht haben, um uns darauf zu stützen. Wenn wir wieder ein Schale dieser wässrigen Flüssigkeit bekamen, mußten wir sofort austrinken, weil wir zu schwach waren, die Schalen sicher in der Hand zu halten. Wer seine Suppe verschüttete, ging leer aus. Wenn wir uns um die Reste in dem großen Bottich drängelten und stritten, als kämpften wir um unser Leben, standen die chinesischen Soldaten und Polizisten dabei und lachten.

Sie machten sich einen Sport aus unserem Hunger. Manchmal verstreuten sie in einiger Entfernung Teeblätter und schauten zu, wie die Gefangenen rannten, um das Eßbare aufzulesen. Einige stürzten unterwegs und konnten nicht mehr aufstehen, fast all taumelten vor Schwäche wie Betrunkene. Die chinesischen Soldaten haben in die Hände geklatscht und sich köstlich amüsiert bei dem Schauspiel.

Der Hunger brachte uns fast um. Viele hatten Halluzinationen. Ich auch. Es kam soweit, daß ich mich vor Schwäche nicht mehr bewegen konnte. Einmal muß ich das Bewußtsein verloren haben. Ich erinnere mich nur noch, daß ich gebetet hatte. Als ich aufwachte, bemerkte ich, daß man mich auf einen Leichenberg geworfen hatte, wohin sie immer die Verhungerten brachten. Da hörte ich einen Leichenträger sagen: "Schau mal, die ist ja noch gar nicht tot. Sie schaut uns an." Das war meine Rettung. Sie zogen mich wieder heraus und gaben mir dann eine leichtere Arbeit. Wieder hütete ich die Schweine der Chinesen.

Einmal hörte ich von einem Tibeter, der aus Lithang stammte und für die Chinesen arbeitete, daß es in diesem Arbeitslager 12 319 Tode gegeben haben soll. Diese Zahl nannte er.

Bis 1966 blieb ich in diesem Arbeitslager. Wegen der vielen Toten wurden immer wieder neue Gefangene gebracht. Doch eines Tages stoppte der Nachschub, und das Lager wurde aufgelöst. Von den hundert Frauen, mit denen ich ins Lager gebracht worden war, blieben am Ende nur vier übrig. Das waren die Frauen, die die Schweine gehütet hatten. Noch heute könnte ich Ihnen jede Stelle zeigen, wo sie die Leichen verscharrt haben. Über der Gegend lag ein unerträglicher Verwesungsgeruch. Bei den Menschen, die in der Nähe lebten, hieß der Ort nur "Berg der Leichen".

Die drei Frauen und ich wurden dann in eine Ziegelei verlegt, wo noch weitere knapp fünfzig Frauen waren, die teils Feldarbeit zu leisten hatten. Wissen Sie, bei uns Tibetern ist das Stehlen verpönt. Jemanden zu bestehlen, gilt als besonders schlimmer Frevel, den man einem Menschen antun kann. Aber hier in der Ziegelfabrik haben wir gestohlen, um am Leben zu bleiben. In den drei Jahren, die ich dort aushalten mußte, hat mir das das Leben gerettet.

Dann brachten sie uns nach Ran-gakha, bei Dartsedo in der Region Minya, erneut zur Feldarbeit. Und wieder haben wir alles Eßbare von den Äckern der Chinesen gestohlen. Dadurch waren meine Mitgefangenen und ich einigermaßen wieder zu Kräften gekommen, als eines Tages etwa zwanzig Gefangene von den Chinesen ausgewählt wurden. Ich war ebenfalls darunter.

Wir wurden in ein Gebäude gebracht, dort in einen Raum, der sogar geheizt war. Als wir hineingingen, fanden wir Speisen und Getränke vor, von den wir jahrelang nur geträumt hatten. Ich glaube, jede von uns machte sich Gedanken darüber, was man wohl mit uns vorhabe. Wir durften essen und trinken. Dann merkten wir, daß wir wohl auch Alkohol bekommen hatten. Plötzlich trat ein Chinese in den Raum, der einen weißen Kittel trug. Jede von uns mußte den linken Arm ausstrecken, der Oberarm wurde abgebunden, und wir sollten die Hand zur Faust schließen. Mit einer dicken Nadel wurde uns allen dann Blut abgenommen. Nach einer Pause, in der wir wieder essen und trinken konnten, wurde die Prozedur wiederholt.

Allen Frauen ging es danach schlecht. Uns war übel, schwindelig, und wir sahen leichenblaß aus. Binnen kurzer Zeit starben vier Frauen, an deren Namen ich mich noch genau erinnere. Keine von uns bat sich danach wieder völlig erholt. Ich bin seither sehr krank.

Während der ersten Jahre meiner Gefangenschaft habe ich oft daran gedacht, mich umzubringen. Erst mit der Zeit hat sich meine Einstellung geändert, und ich habe alles drangesetzt, am Leben zu bleiben. Diese grausame Gefangenschaft wollte ich unbedingt überstehen, um einmal berichten zu können, was das tibetische Volk durchzumachen hat. Dafür habe ich jeden Tag gebetet, und das habe ich auch meinen Mitgefangenen gesagt, wenn sie sich umbringen wollten. Wir Tibeter sind doch keine Steine. Wir sind menschliche Wesen, empfinden und fühlen wie jeder andere auch und wollen nichts weiter, als daß unsere Rechte respektiert werden.

1987 gelang Adhi Tapetso die Flucht nach Indien, wo sie seither in Dharamsala, dem Zufluchtsort des Dalai Lama, lebt. Für den 16. Mai 1994 war eine neuerliche Anhörung über die Situation der Menschenrechte in Tibet vor dem Deutschen Bundestag in Bonn geplant, zu der S.H. der Dalai Lama eingeladen werden sollte. Der Termin und die Einladung wurden auf Druck des Deutschen Außenministeriums in Bonn auf unbestimmte Zeit verschoben.



Zur Heimatseite
Zur Übersicht Meditation und Dharma
Zur Übersicht Buddhistische Geschichten