S.H. der DALAI LAMA:
Menschenrechte und universelle Verantwortung
Vortrag vor den regierungsunabhängigen Organisationen auf der Menschenrechtskonferenz der UNO in Wien im Juni 1993

Wir alle sind aufeinander angewiesen

Mit dem raschen Wachstum der Bevölkerung und den verstärkten Beziehungen zwischen Menschen und Regierungen wird unsere Welt immer kleiner und greift immer mehr ineinander. In dieser Hinsicht ist es wichtig, die Rechte und Verantwortlichkeiten des einzelnen, der Nationen und der Völker in bezug auf den Mitmenschen und unseren Planeten Erde als Ganzes neu zu definieren. Diese Weltkonferenz von Organisationen und Regierungen, die sich über die Rechte und Freiheiten der Menschen in der ganzen Welt Gedanken machen, spiegelt den hohen Stellenwert wider, den wir dieser gegenseitigen Abhängigkeit beimessen.

Gleich aus welchem Land oder von welchem Kontinent wir kommen, wir sind im Grunde alle gleich. Wir haben dieselben menschlichen Bedürfnisse und Sorgen. Wir alle streben nach Glück und wollen dem Leid entfliehen, unabhängig von unserer Rasse, Religion, Geschlecht oder politischem Status. Menschen, ja alle Lebewesen, haben das Recht, nach Glück zu streben und in Frieden und Freiheit zu leben. Als freie Menschen können wir unsere einzigartige Intelligenz dazu verwenden, uns und unsere Welt besser zu verstehen.

Aber wenn wir daran gehindert werden, unser kreatives Potential zu nutzen, werden wir einer der grundlegenden Eigenschaften des Menschen beraubt. Oft sind es gerade die begabtesten, die einsatzfreudigsten und schöpferischsten Mitglieder unserer Gesellschaft, die Opfer von Menschenrechtsverletzungen werden. So wird die politische, soziale, kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung der Gesellschaft durch Verletzungen der Menschenrechte blockiert. Daher ist die Wahrung dieser Rechte und Freiheiten ungemein wichtig, sowohl für die betroffenen Menschen als auch für die Entwicklung der Gesellschaft als Ganzes.

Kein Glück auf Kosten anderer

Ich bin überzeugt, daß das fehlende Verständnis für das wahre Glück der Hauptgrund ist, warum Menschen anderen Leid zufügen. Manche Menschen glauben, daß sie glücklich werden, wenn sie anderen Schmerz zufügen oder daß ihr eigenes Glück so wichtig ist, daß das Leid anderer unbedeutend ist. Aber das ist sehr kurzsichtig, denn niemand profitiert wirklich davon, wenn er einem anderen Lebewesen schadet. Jeder unmittelbare Vorteil, der auf Kosten anderer erzielt wird, ist nur von kurzer Dauer. Wer anderen Leid zufügt und ihren Frieden und ihr Glück verletzt, schafft auf lange Sicht nur Bedrängnis, Furcht und Mißtrauen gegenüber sich selbst.

Der Schlüssel zur Schaffung einer besseren und friedlicheren Welt liegt darin, Liebe und Mitgefühl für andere empfinden zu können. Das bedeutet, daß wir uns um unsere Brüder und Schwestern kümmern müssen, die vom Schicksal nicht so begünstigt sind wie wir. In dieser Hinsicht kommt den regierungsunabhängigen Organisationen (Menschenrechts-NGO's) eine Schlüsselrolle zu. Sie machen nicht nur darauf aufmerksam, wie wichtig es ist, die Rechte aller Menschen zu respektieren, sondern sie geben allen Opfern von Menschenrechtsverletzungen Hoffnung für eine bessere Zukunft.

Die Menschenrechte sind allgemeingültig

Als ich im Jahr 1973 das erste Mal nach Europa reiste, sprach ich über die wachsende gegenseitige Abhängigkeit in der Welt und die Notwendigkeit, ein universelles Verantwortungsgefühl zu entwickeln. Wir müssen in globalen Dimensionen denken, denn die Folgen der Vorgänge in einer Nation sind weit über deren Grenzen hinaus spürbar. Die Akzeptierung weltweit verbindlicher Normen für Menschenrechte, wie sie in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und in den Internationalen Verträgen über Menschenrechte festgelegt sind, ist in der heute immer enger werdenden Welt unbedingt notwendig. Die Respektierung der grundlegenden Menschenrechte sollte nicht nur ein erstrebenswertes Ideal sein, sondern eine unumgängliche Grundlage für jede menschliche Gesellschaft werden.

Wenn wir die von uns so geschätzten Rechte und Freiheiten einfordern, sollten wir uns auch unserer Verantwortung bewußt sein. Wenn wir den anderen das gleiche Recht auf Frieden und Glück zugestehen wie uns selbst, haben wir dann nicht auch die Verantwortung, denen zu helfen, die in Not sind? Die Respektierung der grundlegenden Menschenrechte ist für die Menschen in Afrika und Asien ebenso wichtig wie für die Menschen in Europa und Amerika. Jeder Mensch, unabhängig von seinem kulturellen oder historischen Hintergrund, leidet, wenn er eingeschüchtert, eingesperrt oder gefoltert wird. Die Frage der Menschenrechte ist von so existenzieller Bedeutung, daß es diesbezüglich keine unterschiedlichen Auffassungen geben sollte. Wir müssen auf einen globalen Konsens drängen, der nicht nur die Notwendigkeit beinhaltet, die Menschenrechte weltweit zu respektieren, sondern auch, was noch wichtiger ist, eine Definition dieser Rechte.

In letzter Zeit haben einige Regierungen in Asien damit argumentiert, daß die grundlegenden Menschenrechte, die in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte festgelegt sind, solche sind, die vom Westen befürwortet werden und die daher wegen der unterschiedlichen Kultur und sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung nicht auf Asien und andere Teile der Dritten Welt angewandt werden können. Ich teile diese Ansicht nicht und bin überzeugt, daß die meisten Menschen in Asien dem ebenfalls nicht zustimmen, denn die Sehnsucht nach Freiheit, Gleichheit und Würde liegt in der ureigensten Natur der Menschen, und alle haben das gleiche Recht, dies zu erreichen. Meiner Meinung nach liegt kein Widerspruch darin, gleichzeitig nach wirtschaftlicher Entwicklung und Wahrung der Menschenrechte zu streben. Die große Vielfalt an Kulturen und Religionen sollte dazu beitragen, die grundlegenden Menschenrechte in jeder Gemeinschaft zu stärken. Doch diese Vielfalt baut auf Grundprinzipien, die uns alle als Mitglieder derselben menschlichen Familie ausweisen. Vielfalt und Tradition können nie Verstöße gegen die Menschenrechte rechtfertigen. Diskriminierungen von Menschen anderer Rassen, von Frauen und schwächeren Teilen der Gesellschaft mögen zwar in manchen Gebieten in der Tradition begründet sein, wenn sie aber mit den allgemein anerkannten Menschenrechten unvereinbar sind, müssen diese Verhaltensweisen geändert werden. Die allgemeinen Grundsätze von der Gleichheit der Menschen müssen über allem stehen.

Es sind vor allem autoritäre und totalitäre Regime, die sich gegen die allgemeine Gültigkeit der Menschenrechte aussprechen. Es wäre völlig falsch, sich dieser Ansicht anzuschließen. Im Gegenteil, solche Regime müssen dazu gebracht werden, die allgemein anerkannten Grundsätze zu respektieren und sich daran zu halten, was auf lange Sicht im Interesse ihrer eigenen Völker ist. Die drastischen Veränderungen in den letzten Jahren zeigen deutlich, daß der Siegeszug der Menschenrechte unaufhaltsam ist.

Die Völker sind sich im steigenden Maße ihrer Verantwortung füreinander und für unsere Erde bewußt. Das ist ermutigend, aber noch immer wird aufgrund von Chauvinismus im Zusammenhang mit Rasse, Religion, Ideologie und Geschichte sehr viel Leid zugefügt. Es gibt eine neue Hoffnung für die Unterdrückten, und auf der ganzen Welt zeigen die Menschen ihre Bereitschaft, die Rechte und Freiheiten ihrer Mitmenschen zu verfechten und zu verteidigen. Rohe Gewalt, gleich in welchem Ausmaß, wird nie das Urbedürfnis der Menschen nach Freiheit und Würde zerstören.

Es genügt nicht, die Menschen nur mit Nahrung, Unterkunft und Kleidung zu versorgen, wie dies kommunistische Systeme geglaubt haben. Die Seele des Menschen braucht Freiheit, um atmen zu können. Manche Regierungen betrachten die grundlegenden Menschenrechte ihrer Bürger aber immer noch als innere Angelegenheit ihres Staates. Sie akzeptieren nicht, daß das Schicksal eines Volkes, gleich in welchem Land, ein gerechtfertigtes Anliegen der gesamten menschlichen Familie ist und daß Berufung auf Souveränität kein Freibrief für die Mißhandlung der Bürger ist. Als Mitglieder der menschlichen Familie haben wir nicht nur das Recht zu protestieren, wenn unsere Brüder und Schwestern unmenschlich behandelt werden, es ist vielmehr unsere Pflicht, alles in unserer Macht Stehende zu unternehmen, um ihnen zu helfen.

Die Kluft im Herzen der menschlichen Familie - der Nord-Südkonflikt

In den letzten Jahren wurden künstliche Grenzen, die Nationen und Völker getrennt haben, beseitigt. Mit dem Fall der Berliner Mauer wurde die Teilung in Ost und West aufgehoben, die die ganze Welt jahrzehntelang bestimmt hat. Wir leben in einer Zeit voller Hoffnungen und Erwartungen. Und doch gibt es noch eine große Kluft inmitten der menschlichen Familie. Damit meine ich die Teilung in Nord und Süd. Wenn wir uns ernsthaft einsetzen für das grundlegende Prinzip der Gleichheit, ein Prinzip, das meiner Ansicht nach das Kernstück der Menschenrechtstheorie bildet, können wir die heutigen wirtschaftlichen Unterschiede nicht länger ignorieren. Es ist nicht damit getan festzuhalten, daß alle Menschen die gleiche Würde genießen sollen, sondern es sind Taten gefordert. Wir haben die Verantwortung, Mittel und Wege zu finden, um für eine gerechtere Verteilung der Ressourcen zu sorgen.

Wir sind Zeugen einer gewaltigen Bewegung für Menschenrechte und demokratische Freiheiten in der Welt. Diese Bewegung muß eine noch stärkere moralische Kraft werden, so daß selbst jene Regierungen und Armeen, die sich am heftigsten dagegen wehren, sie nicht länger unterdrücken können. Diese Konferenz bietet uns allen eine Gelegenheit, unseren Einsatz für die Erlangung dieses Zieles neuerlich zu bekräftigen. Es ist selbstverständlich und gerechtfertigt, daß Nationen, Völker und Einzelpersonen die Respektierung ihrer Rechte und Freiheiten fordern und für die Beendigung von Unterdrückung, Rassismus, wirtschaftlicher Ausbeutung, militärischer Besetzung und verschiedenen Formen des Kolonialismus und der Fremdherrschaft kämpfen. Die Regierungen sollten solche Forderungen aktiv unterstützen, anstatt nur ein Lippenbekenntnis abzugeben.

Universelle Verantwortung als Grundlage für den Weltfrieden

Jetzt im ausgehenden 20. Jahrhundert, stellen wir fest, daß die Welt eine einzige Gemeinschaft wird. Schwierige Probleme wie Überbevölkerung, schwindende Rohstoffvorkommen und eine Umweltkrise, die unsere Existenzgrundlage auf diesem Planeten bedroht, bringen uns einander näher. Menschenrechte, Umweltschutz und weitreichende soziale und wirtschaftliche Gleichheit greifen ineinander. Ich glaube, daß die Menschen ein umfassendes Verantwortungsgefühl entwickeln müssen, um den Anforderungen unserer Zeit gerecht zu werden. Jeder von uns muß lernen, sich nicht nur für sich selbst, für seine eigene Familie oder seine eigene Nation einzusetzen, sondern zum Nutzen der gesamten Menschheit. Universelle Verantwortung ist der Schlüssel für das Überleben der Menschen und die beste Grundlage für den Weltfrieden.

Das Bedürfnis nach Zusammenarbeit kann die Menschheit nur noch stärker machen, denn es hilft uns zu erkennen, daß die sicherste Grundlage für eine neue Weltordnung nicht in der Schaffung größerer politischer und wirtschaftlicher Bündnisse liegt, sondern darin, daß jeder einzelne Liebe und Mitgefühl in die Tat umsetzt. In diesen Eigenschaften liegt der Ursprung menschlichen Glücks, und unser Verlangen danach bildet den Kern unseres Daseins. Mitgefühl zu üben ist nicht idealistisch, sondern der wirksamste Weg, die besten Interessen sowohl für die anderen als auch für sich selbst zu vertreten. Je größer die Abhängigkeit voneinander ist, desto größer ist unser Interesse am Wohlergehen der anderen. Der Hauptgrund, warum wir unsere gegenseitige Abhängigkeit nicht voll akzeptieren können, liegt, so glaube ich, darin, daß wir der materiellen Entwicklung eine ungebührende Bedeutung zumessen. Wir sind so damit beschäftigt, nach materiellen Werten zu streben, daß wir unwissentlich die grundlegenden menschlichen Eigenschaften wie Mitgefühl, Verständnis und Zusammenarbeit vernachlässigt haben. Wenn wir jemanden nicht kennen oder uns einem Menschen oder einer Gruppe nicht verbunden fühlen, übersehen wir leicht deren Bedürfnisse. Aber Voraussetzung für die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft ist, daß wir einander helfen.

Jeder einzelne kann die Gesellschaft verändern.

Ich für meinen Teil glaube fest daran, daß einzelne Menschen einen Umschwung in der Gesellschaft herbeiführen können. Jeder Mensch hat die Verantwortung, unsere universelle Familie auf den richtigen Weg zu bringen, und wir alle müssen diese Verantwortung wahrnehmen. Ich als buddhistischer Mönch versuche Mitgefühl in mir selbst zu entwickeln, nicht nur als religiöse Übung, sondern auch auf einer menschlichen Ebene. Um mich in dieser selbstlosen Haltung zu ermutigen, hilft es mir, mir vorzustellen, daß ich alleine auf einer Seite stehe und mir gegenüber eine große Ansammlung von allen anderen Menschen. Dann frage ich mich. "Wessen Interessen sind wichtiger". Für mich ist klar, daß ich, gleich wie wichtig ich mir vorkomme, nur ein einzelner Mensch bin, während die anderen unendlich an Zahl und Bedeutung sind.
Ich danke Ihnen


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