Bitte, rufe mich bei meinem wahren Namen!
Sage nicht, dass ich morgen fort bin
denn heute komme ich noch an.

Schau: In diesem Moment gerade komm' ich an,
um eine Knospe an dem Blütenzweig zu sein,
ein winzig kleiner Vogel mit noch schwachen Flügeln,
das Singen lernend in dem neuen Nest,
die Raupe in dem Herzen einer Blume
und ein Juwel, versteckt in einem Stein.

Ich komme gerade an, zu lachen und zu weinen,
zu fürchten und zu hoffen.

Der Rhythmus meines Herzens ist Geburt
und Tod - von allem, was da ist.

Ich bin die Eintagsfliege, die soeben schlüpft
über der Oberfläche des Flusses
und bin der Vogel, der im Frühling kommt,
die Fliege sich zu schnappen.

Ich bin der Frosch, der glücklich schwimmt
im klaren Wasser eines Teichs
und bin die Schlange, die sich leise nähert
um sich von diesem Frosch zu nähr'n.

Ich bin das Kind dort in Uganda, nur Haut und Knochen,
mit Beinen, dünn gleich Bambusstäben,
Bin auch der Lieferant der Todeswaffen nach Uganda.

Das zwölfjährige Mädchen bin ich,
Flüchtling auf dem schmalen Boot,
das in die Meerestiefe springt,
weil mich ein Seepirat geschändet hat
und bin auch der Pirat, mit meinem Herzen
noch nicht fähig, zu sehen und zu lieben.

Ich bin ein Mitglied des Parteibüros
mit großer Macht in meinen Händen
und bin der Mann, der seine
'Blutschuld' an sein Volk zu zahlen hat,
in einem Arbeitslager langsam sterbend.

Meine Freude ist wie Frühlingswärme,
die Blumen blühen lässt auf allen Lebenswegen,
meine Trauer ist ein Fluss von Tränen,
füllend alle Ozeane.

Daher rufe mich bei meinem wahren Namen.
damit ich all mein Weinen und mein Lachen
hören kann zur gleichen Zeit,
damit ich sehen kann,
wie meine Freude und mein Leiden eins sind,

Bitte rufe mich bei meinem wahren Namen,
so dass ich nun erwachen kann,
damit das Tor in meinem Herzen offen bleibt,
das Tor des Mitgefühls...

Thich Nhat Hanh, vietnamesischer Mönch, Zen-Lehrer, Poet und Friedensaktivist



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