Franz-Johannes Litsch
Ich und die Welt
Buddhas Aktualität heute
Die Welt in der wir leben, ist tiefgreifend und global von Unheil geprägt. Täglich erreichen uns neue erschreckende Meldungen und Erkenntnisse, die jeweils die des Vortages bereits wieder verdrängen und vergessen lassen. Unübersehbar erscheint uns die Vielzahl und Dimension der Probleme, das Ausmaß an Gefährdung, Zerstörung und unwiederbringlichem Verlust Unfassbar ist uns das Maß an Schmerz und Elend, das zahllose Menschen und andere lebende Wesen gegenwärtig erfahren. Doch - fast all dies schwere Leid ist vom Menschen selbst verursacht und könnte vom Menschen überwunden und verhindert werden. Und wir alle sind daran beteiligt, als Opfer und als Täter.

Dabei geht es heute nicht mehr nur um die Bewältigung unserer alltäglichen Probleme und Leiden, es geht um die Fortexistenz der Menschheit und alles entwickelten Lebens auf der Erde überhaupt. Denn wir sind auf dem Wege, uns selbst und zahllose andere Wesen in den Abgrund der Vernichtung zu stürzen. Es geht wahrhaftig um das Ende oder die Wende der Menschheit.

Und doch verhalten wir uns letztendlich fast alle so, als ginge uns dies nichts an. Viele weigern sich bereits wirklich hinzusehen. Für sie existiert keine Bedrohung, es ist alles in Ordnung, es war immer schon so, es ging doch bisher immer gut. Andere sehen und sind gelähmt von Gefühlen der Hilflosigkeit, Angst, Überforderung, Hoffnungslosigkeit, Depression. Immer mehr flüchten jedoch in Zynismus, Gewalt und sinnlose Zerstörung. Einige schließlich glauben, sie allem würden verschont, für sie stünde ein exklusives esoterisches Rettungsschiff bereit, oder ein Gott oder unsere wundervollbringende Technik werde schon alles wieder richten. Manche erkennen die herannahende Katastrophe und sind bemüht ihre Verantwortung wahrzunehmen aber verlieren sich in kurzsichtigem, an Schlagzeilen orientiertem oder selbstüberforderndem Aktionismus, der die Probleme zumeist auf neuer Ebene wieder erzeugt. Etliche schließlich sind überzeugt, das einzig wahre zu tun, indem sie nur noch sich selbst retten, heilen, erleuchten und vervollkommnen.

Verhalten wir uns nicht so, als lebten wir gar nicht in dieser Welt sondern außerhalb? Tun wir nicht so, als seien wir eigentlich nur Zuschauer gegenüber einem Geschehen, das sich vor uns abspielt, uns mehr oder weniger anspricht, langweilt, interessiert oder abschreckt, aber nichts wirklich und unmittelbar mit uns zu tun hat? Die Wirklichkeit, sie ist ein Fern-seh-schirm! Wir sitzen vor ihm im Sessel, sicher und weich bei Bier und Chips. Alles ist außerhalb, alles ist weit weg, all das hat nichts mit mir - hier und jetzt - zu tun! Zwischen mir und der Welt ist eine Mattscheibe, die fein säuberlich trennt! "Die Hölle, das sind die Anderen!, so spricht in seiner Blindheit einer, der selbst in der Hölle ist, selbst die Hölle ist, in Sartres Schauspiel "Geschlossene Gesellschaft". Und es sind immer die Anderen, die böse, schuld, lieblos oder zuständig sind.

Vor 2500 Jahren hat ein Mensch in Indien, Gautama Buddha, auf jahrelanger Suche nach den Ursachen des Leidens unter den Menschen, in einer tiefen Erfahrung folgende Einsicht erlangt: Die Ursache allen Leids ist die Abspaltung unserer Existenz von der Wirklichkeit! Es ist unser Glaube, unsere Ideologie, unsere Illusion, wir seien ein abtrennbares, eigenständiges Ding, ein 'Ich'. Wir glauben dieses Ich abtrennbar vom Anderen, abtrennbar von der Welt, abtrennbar von der Natur, abtrennbar vom eigenen Körper, abtrennbar von allem Nicht-Ich. "Nur ich bin ich!" Ich bin mit nichts identisch! Aber ein Ich, das nur aus sich selbst besteht, mit nichts identisch ist, ist letztlich ein Nichts! Ja, es existiert nicht! Denn es besteht aus Nichts! Ein Ich ohne Welt, ohne Natur, ohne die Anderen, ohne Körper, ohne Nichtich kann nicht existieren. Dieses Ich ist eine Illusion, ein Wahn! In Wahrheit sind wir mit diesem 'Ich' (diesem Ich-Konzept) von uns selbst getrennt!

Eben dieses leiderzeugende Denken in Extremform ist das Grundkonzept der modernen, westlichen, individualistischen Kultur! Unser Weltbild ist das der geschlossenen Gesellschaft, das des geschlossenen Ichs. Oder auch, es ist das Selbstbild des abgetrennten, autonomen, isolierten, für sich allein existierenden, eingemauerten Egos. Unerschütterlich beharren wir darauf: alles existiert für sich, abgetrennt vom anderen. Bewusstsein und Welt sind getrennt. Innen und Außen sind getrennt, Subjekt (Beobachter) und Objekt (Beobachtetes) sind getrennt, Mensch und Natur sind getrennt, Geist und Materie sind getrennt, Verstand und Gefühle sind getrennt usw. Es ist dies eine Welt-an-schauung der gespaltenen Wirklichkeit, ein Weltbild der abgespaltenen Wirklichkeit, eine Weltsicht des sich abspaltenden, jenseits einer zerspaltenen Welt einsam existierenden Ich-Gottes.

Dieses Konzept, diese Illusion, diesen Wahn übertragen wir auf die ganze Wirklichkeit, trennen, zerlegen, analysieren, isolieren, vereinzeln, spalten alles bis zum Kern des Atoms! Die Kernspaltung, die Atombombe ist tatsächlich die 'ultima ratio' (höchste Vernunft) unserer Zivilisation. Rationalität, Dualismus des Denkens, Unvereinbarkeit von Gegensätzen, Logik des Entweder-Oder, Abgrenzung und Verdinglichung von Begriffen und Definitionen, Verabsolutierung von Meinungen und Positionen, Herausbildung von Ideologien, Weltanschauungen und Dogmen kennzeichnen das 'herrschende' Denken.

Und auf Abspaltung, Reduktion, Vereinseitigung und Isolierung beruht ebenso unser alltägliches 'normales' Leben. Es prägt unsere Kultur, unsere Berufsarbeit, unser 'Privatleben', unsere Bildung und Ausbildung, insbesondere unsere Wissenschaft und Technik, ebenso die Wirtschaft und Politik, die Medizin, die Kunst, Philosophie, Moral und nicht zuletzt die Religion. Unsere Kultur hat diese Weltsicht gar zur einzig wahren und legitimen Weltanschauung erhoben.

Die westliche Zivilisation hat mit dem Prinzip "teile und herrsche" die Welt erobert, nicht nur alle Lebensbereiche sondern auch alle Länder und Völker. Mit ihrem 'überwältigenden' Erfolg droht der Menschheit nun die Selbstvernichtung. Denn das Leitprinzip des spaltenden und sich abspaltenden Lebensinteresses ist, sich möglichst alles zur grenzenlosen Nutzung und Verfugung anzueignen. Seine Lebensphilosophie ist die Freiheit des Egoismus, sein Lebenswille die nie befriedigte Gier und Habsucht. Das Wirtschaftssystem, das sich darauf gründet, ist der heutige Kapitalismus. In seiner unermesslichen Raubgier vereinnahmt der Moloch 'Produktion' alles, einschließlich der eigenen Existenzgrundlagen. Der Mensch in diesem System bleibt ewig unbefriedigt und süchtig. Nicht fähig, sich davon zu befreien, zerstört er schließlich die Welt und sich selbst.

Buddha sah, wir sind kollektiv psychisch krank! Krankheit macht Schmerzen, darum leiden wir. Aber Leiden ist auch unerkannte Weisheit, ist Antrieb für Heilung. Und Krankheit kann geheilt werden. Die Therapie ist: Frei von allen Konzepten, Begriffen und Vorstellungen die Wirklichkeit sehen, wie sie wahrhaft ist. Das ist Meditation! Meditation ist die unmittelbare Wahrnehmung der Einheit, Ganzheit, Ungetrenntheit, Offenheit der Wirklichkeit (in der Sprache Buddhas: advaita)! Da es hier kein vom Anderen getrenntes Ich gibt, bin "ich" mit allem verbunden und alles ist mit mir verbunden (anatta). Alle Erscheinungen, alle Vorgänge, alle Wesen sind miteinander verbunden (karma), alles entsteht und vergeht in gegenseitiger Bedingtheit (paticcasamuppada). Nichts existiert aus und für sich. Alles existiert als untrennbares Gewebe von Beziehungen (tantra). Die Wirklichkeit gleicht einem Netzwerk von Perlen, in dem jede Perle alle anderen in sich wiederspiegelt (das Netz des Indra). "Dies ist, weil jenes ist und dies ist nicht, weil jenes nicht ist." Auch Körper und Geist sind nichts aus sich und für sich Existierendes sondern Zusammentreffen (skandhas), Beziehung, Wechselwirkung von Wirkungen (dharmas). Die Wirklichkeit ist Ganzheit, in der alles sich gegenseitig enthält (dhar-madhatu). Sie ist 'Leerheit' (sunyata) von aller Fixierung, Abgrenzung und Verdinglichung, ist Freiheit von aller Erstarrung und Behinderung, ist Offenheit unbegrenzter Entfaltung. Das Bewusstwerden dieser 'Leerheit', "mein" Einswerden (samadhi) ist das Erwachen (bodhi) zur 'Soheit' der Wirklichkeit (Tathata). Die Welt ist so, wie ich bin und ich bin so, wie die Welt ist. Mehr noch, die Welt enthält mich, ich enthalte die Welt. Ja, die Welt ist 'mein wahres Selbst', und 'mein wahres Selbst' ist die Welt!

Wir sind somit nicht nur äußerlich untrennbar mit allem Existierenden verbunden sondern zutiefst auch innerlich. Denn unser Bewusstsein, unsere Wahrnehmung ist nicht abtrennbar von dem was geschieht. Die "Dinge" werden nur dadurch wirklich, dass sie Objekte, Inhalte, Teile der Wahrnehmung werden. Umgekehrt ist das Subjekt, das Bewusstsein, die Wahrnehmung selbst wiederum Erscheinung, Funktion und Teil der "Dinge", der Welt. Das Ich und die Welt, die auf diese Weise wahr (genommen) werden, sind nicht getrennt in Ichwelt und Umwelt sondern, was da wahr ist, ist die eine untrennbare Beziehungswelt, die eine Ganzheitswelt,  eine Mitwelt. Thich Nhat Hanh nennt es 'wechselseitiges Durchdrungensein oder  'Intersein' (englisch 'Interbeing').
Und darum ist mein Selbst und mein Leben auch nie abtrennbar vom Leiden und Glück unserer Welt, nicht vom Leben und Tod der Pflanzen, der Bäume, der Tiere, nicht vom Leiden und der Überwindung des Leidens der Menschen und nicht abtrennbar von den Bedingungen, die den Erscheinungen zugrunde liegen. In all dem leben, leiden, sterben, wachsen und wiedererstehen wir selbst.

Buddha zog daraus die Konsequenz: "Der Bodhisattva (der auf dem Weg zur Buddhaschaft gehende) soll in bezug auf alle Wesen die Idee entwickeln: dies ist meine Mutter, mein Vater, mein Sohn, meine Tochter, ja dies bin ich selbst. Wie ich selbst von allen Leiden gänzlich frei sein mochte, so mochten alle Wesen frei sein." (aus Prajnaparamita-Sutra). Ich erlebe mich nicht mehr getrennt von allen Anderen, sondern erlebe mich in allen und die Ändern in mir. Habe ich Mitgefühl mit mir, dann bedeutet dies Mitgefühl mit anderen zu haben und umgekehrt. "Sich selbst schützend, schützt man den anderen, den anderen schützend, schützt man sich selbst." (aus Satipatthana-Sutra). Darum ist ungetrennte Achtsamkeit (sati-patthana) und ungeteiltes Mitgefühl (karuna) gegenüber sich selbst und den Anderen immergegenwärtige Praxis derjenigen, die Buddhas Weg folgen möchten.

Hier erfahren wir entgültig, wir sind auch nicht getrennt von den unerschöpflichen und wunderbaren Möglichkeiten der Wirklichkeit, vom Reichtum, der Weisheit und der Schönheit des Lebens, von der ursprünglichen Tiefe und Klarheit unseres Bewusstseins, von der wahren unbegrenzten Weite und Liebeskraft unseres Herzens, und von der in der Buddhaschaft zum Ausdruck kommenden, beglückenden Entfaltungs- und Entwicklungsfähigkeit des Menschen - meiner selbst...

Wer dem Weg Buddhas folgen möchte nimmt, wie die Formel heisst,  'Zuflucht zu Buddha, Dharma und Sangha'. Buddha ist jener Mensch, der uns in der Verwirklichung seines ganzen Menschseins als Sucher und Lehrer vorausgegangen ist. Doch das vollerwachte Menschsein, die 'Buddha-Natur` ist in jedem Menschen ohne Unterschied - ist als Potential immer und überall vorhanden. Darum ist die Zuflucht zu Buddha letztlich die Zuflucht zu uns selbst, zu unseren noch verborgenen und verhinderten Möglichkeiten. Diese Möglichkeiten zu entfalten, ist heute nicht mehr nur 'schönes höheres Streben'. Wir benötigen die radikale Verwirklichung unseres Menschseins, um die Menschheit und Welt in ihrer Existenz selber zu erhalten. Überleben und wahres Leben sind in der Geschichte der Erde erstmals eins geworden.

'Dharma' heißt Wahrheit und Wirklichkeit. Wir nehmen Zuflucht zur Wahrheit und Wirklichkeit, weil (wie wir oben sahen) unsere Selbsttäuschung und unsere Abtrennung von der Wirklichkeit die Welt und uns selbst in jenen Zustand gebracht haben, in dem wir sind. Zuflucht zum Dharma heisst, aufzuhören damit, uns in all jene Trennungen und Abtrennungen des Ichs zu flüchten und weiter anzuhaften an Ideologien, Konzepten und Dogmen über die Wirklichkeit, sondern uns dem zu stellen, was Hier und Jetzt ist, der 'Soheit' der Dinge. Das bedeutet auch, uns ebenso wenig anzuklammern am Buddhismus als Heilsgebäude und Nirvanatrip. Der Weg Buddhas ist es, sich der Wahrheit und Wirklichkeit umaittelbar zuzuwenden. Darin hilft er uns, indem er uns in der unmittelbaren Wahrnehmung und Begegnung, in der Achtsamkeit gegenüber der Wirklichkeit schult.
'Sangha' heisst Gemeinschaft. Es bezeichnet zunächst die Gemeinschaft der Menschen, die dem Wege Buddhas folgen, geht in seiner tieferen Bedeutung aber darüber hinaus und meint letztlich die untrennbare Gemeinschaft, Einheit und Offenheit alles Lebendigen, der Menschen, Tiere, Pflanzen, Steine, Wolken... Alles ist einbezogen, denn alles ist für den Buddhismus mit 'Erleuchtungsgeist', mit der 'Buddha-Natur' erfüllt. Zu dieser Gemeinschaft des Lebendigen nehmen wir letzte Zuflucht. Die Gemeinschaft derjenigen, die den buddhistischen Weg gehen, erweist sich darin, dass die Einzelnen wirkliche Einsicht in die Gemeinschaft aller lebenden Wesen, Achtsamkeit und tiefes Mitgefühl für diese entfalten. 'Sangha' - mit dem Herzen gelebte Gemeinschaft - das ist jene Erfahrung, die wir alle letztlich als wirkliches Glück kennen und suchen.

Den Einsichten und Konsequenzen Buddhas angesichts der heutigen Wirklichkeit folgend, haben einige Buddhist/innen in Deutschland mit dem Aufbau eines 'Netzwerks engagierter Buddhisten' begonnen. Es bedeutet uns die Einbeziehung unserer ganzen Wirklichkeit und unseres ganzen Lebens in die alles umwandelnde Sicht- und Handlungsweise des Buddha. Von einer Basis nichtdualistischer Einsicht und nichtdualistischen Mitfühlens aus, in ständiger Übung unserer Achtsamkeit wollen wir uns engagieren insbesondere in der Entwicklung einer neuen inneren und äußeren, ökologischen Beziehung zur Natur, einer neuen solidarischen Beziehung zu den unter unserer Lebensweise besonders leidenden Menschen der sog. 3.Welt und eines gewaltfreien Umgang unter uns und mit uns selbst.

Jede(r) die/der sich mit uns diesem Anliegen widmen möchte, ist sehr willkommen, ob Buddhist dieser oder jener Schule, ob Suchender oder auch Nicht-Buddhist, ob in dieser oder jener Initiative engagiert oder auch nicht engagiert. Gerade auch hier gilt es, alle Trennungen und Verabsolutierungen zu überwinden und die Einheit und Offenheit zu verwirklichen.



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