Thich Nhat Hanh
Meditation und Mitgefühl
Es gibt Zeiten, wo wir, während wir zusehen, wie unsere Kinderspielen, über ihre Zukunft nachdenken. Wir wissen, dass das Leben angefüllt ist mit Verdruss, Ängsten, Hoffnungen und Enttäuschungen, und wir beunruhigen uns ihretwegen und denken mit Sorge über die vor ihnen liegenden Kämpfe. In genau diesem Augenblick lassen wir uns ein auf unsere Kinder. Es ist leicht, unseren Weg zu ihnen zu finden, weil wir wissen, dass sie von unserem eigenen Blut sind.Meditation ist dasselbe. Wenn wir über das Wesen wechselseitiger Abhängigkeit aller Dinge meditieren, können wir die Wirklichkeit leicht durchschauen und die Ängste, Qualen, Hoffnungen und Verzweiflung aller Wesen sehen. Wenn wir eine grüne Raupe über einem Blumenblatt erblicken, verstehen wir die Bedeutung der Raupe nicht einfach nur aus unserer selbstbezogenen Sicht der Dinge als Menschen, sondern aus dem Einfühlungsvermögen heraus, das beruht auf der wechselseitigen Abhängigkeit aller Dinge. Wenn wir die Kostbarkeit des Lebens jedes Seins erkennen, dürfen wir es nicht wagen, die Raupe ihres Lebens zu berauben. Wenn wir eines Tages eine Raupe zu töten haben, wird es uns vorkommen, als ob wir uns selbst töten würden, als ob etwas von uns selbst mit der Raupe sterben würde.(...)

Der Meditierende, der Licht auf die wechselseitige Abhängigkeit aller Phänomene bringt, wird entdecken, dass das Leben aller Wesen eines ist, und er oder sie wird von Mitgefühl für sie alle überwältigt sein. Wenn du diese Liebe empfindest, dann weißt du, dass deine Meditation Früchte bringt. Betrachten und Lieben geht immer zusammen. Betrachten und Lieben ist eines. Oberflächliches Verständnis geht einher mit oberflächlichem Mitgefühl. Tiefes Verständnis wird begleitet von tiefem Mitgefühl. (...)

Wir können uns in unserem Leben glücklich schätzen, jemanden zu treffen, der Tiere und Pflanzen liebt. Vielleicht kennen wir auch Menschen, die obwohl sie in gesicherten Umständen leben, erfassen, dass Hunger, Krankheiten und Unterdrückung Millionen Menschen auf dieser Erde vernichten, und die nach Wegen suchen, den Leidenden zu helfen. Sie können sie nicht vergessen, selbst inmitten der Zwänge des eigenen Lebens. Diese Menschen haben, zumindest in einem gewissen Maß, das Wesen wechselseitiger Abhängigkeit des Lebens erkannt. Sie wissen, dass das Überleben der unterentwickelten Länder nicht getrennt werden kann vom Überleben der materiell wohlhabenden, technisch fortgeschrittenen Länder. Armut und Unterdrückung führen zu Krieg. In unseren Zeiten bringt jeder Krieg alle Länder in Gefahr. Das Schicksal jedes Landes ist verknüpft mit dem Schicksal aller anderen. In einer Zivilisation, in der Technologie entscheidend ist für Erfolg, gibt es wenig Platz für Mitgefühl. Doch wenn wir ganz tief über das Leben meditieren, gelangen wir dahin, uns mit Ameisen und Raupen zu identifizieren. Wenn wir Bauein werden, werden wir vielleicht scheitern, weil wir es wahrscheinlich ablehnen, um Schädlinge zu vernichten, Insektizide zu benützen. Und wenn wir nicht das Herz haben, ein Tier zu töten, wie könnten wir dann ein Gewehr auf einen anderen Menschen richten? Wenn wir Beamte werden im Verteidigungsministerium, werden wir Menschen ermutigen, gewissenhafte Kriegsgegner zu werden. Werden wir Generaldirektor, werden wir; uns vielleicht der Errichtung von Kernenergieanlagen in unserem Land widersetzen, und dann werden wir vom System entfernt. Viele von uns teilen diese Art von Seelenlage. Wir fühlen uns nicht wohl in unserer Gesellschaft, und wir bringen auf vielfältige Weise unseren Gegensatz zum Ausdruck.

David Bohm, Professor der Physik an der Universität von London, sagte: "Wenn wir wollen, dass sich die Gesellschaft ändert, dann sind einige äußerliche und individuelle Veränderungen, oder Veränderungen im Wirtschaftssystem nicht genug. Eine vollständige Veränderung im Bewusstsein ist erforderlich. Wir wissen noch nicht, wie diese Veränderung zustande gebracht werden kann, aber ich bin überzeugt, dass dies absolut lebenswichtig ist".

Diese Veränderung des Bewusstseins kann, wie wir gesehen haben, erreicht werden durch Erkennen des Wesens wechselseitiger Abhängigkeit der Wirklichkeit, einer Erkenntnis, die jeder von uns auf einzigartige Weise erfahren kann. Diese Art von Erkenntnis ist nicht das Ergebnis irgend einer Ideologie oder eines Gedankensystems, sondern die Frucht der direkten Erfahrung der Realität in ihren vielfältigen Beziehungen.

Es setzt voraus das Fallenlassen gewohnheitsmäßigen Denkens, welches die Wirklichkeit unzusammenhängend und bruchstückhaft wahrnimmt, eine Wirklichkeit, die tatsächlich untrennbar ist.
Wenn du mit der Meditation über wechselseitige Abhängigkeit eine Weile fortfährst, dann wirst du eine Veränderung in dir selbst bemerken. Deine Perspektive wird sich erweitern und du wirst merken, dass du auf alle Lebewesen mit Mitgefühl schaust. Neid und Hass, von denen du annahmst, dass sie unbeeinflussbar sein würden, werden allmählich verschwinden und du wirst merken, dass du dich um alle Wesen kümmerst. Was aber das Wichtigste ist, du wirst nicht länger Angst haben vor Leben und Tod.(...)



Entnommen dem Buch "Die Sonne, mein Herz" von Thich Nhat Hanh. Theseus Verlag Küsnacht, 1989.
Übersetzung aus dem Amerikanischen von Silvius Dornier und Pirmin Ragg.


Thich Nhat Hanh wurde 1926 in Vietnam geboren. Mit 16 Jahren trat er in ein buddhistisches Kloster der Rinzai-Zen-Schule ein. Durch die Leiden des Krieges in Vietnam erkannte er die Notwendigkeit eines engagierten Buddhismus, wurde Anführer der gewaltfreien Friedensbewegung und gründete den Tiep Hien Orden. Aus der Meditation erwuchs ihm die Kraft zu Gewaltfreiheit und Liebe. Der herausragende Meditationsmeister und inspirierte Dichter lebt heute, nach der Vertreibung aus seiner Heimat, mit einigen seiner Schüler/innen in Plumvillage, einer klösterlichen Gemeinschaft in Südfrankreich.


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