Der folgende Artikel von Noam Chomsky zum Jugoslawien Krieg wurde uns von Jonathan Watts, dem Koordinator der buddhistischen weltweiten "Think Sangha", zur Verfügung gestellt. Wir veröffentlichen ihn gekürzt in einer Übersetzung von Lothar Lehmann.
Die Bombardierung Jugoslawiens
von Noam Chomsky

Ich erhielt eine Menge Anfragen betreffend der NATO-Bombardements im Kosovo.

Es gibt dabei zwei grundlegende Themen.
(1) Was sind geeignete und anerkannte "Regeln einer Weltordnung"?
(2) Was bedeutet die Anwendung dieser Regeln auf die Kosovo-Krise?

(1) Was sind geeignete und anerkannte "Regeln einer Weltordnung"?

Es gibt ein System internationalen Rechts, das alle Staaten bindet, basierend auf der Charta der Vereinten Nationen der daraus abgeleiteten Resolutionen und den Entscheidungen des Internationalen Gerichtshofes. Kurz gesagt ist die Androhung oder Anwendung von Gewalt grundsätzlich verboten, solange nicht eine ausdrückliche Genehmigung des Weltsicherheitsrates vorliegt nachdem dieser festgestellt hat, dass friedliche Mittel versagt haben oder zum Zweck der Selbstverteidigung gegen einen bewaffneten Angriff bis der Weltsicherheitsrat geeignete Massnahmen ergreift.

Natürlich ist dazu mehr zu sagen. So gibt es eine Diskrepanz, wenn nicht sogar einen offenen Widerspruch zwischen den Regeln der Weltordnung, wie sie in der Charta der Verein-ten Nationen festgelegt ist und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (UD = Universal Declaration), ein zweiter Pfeiler der Weltordnung, die auf Initiative der USA nach dem 2. Weltkrieg etabliert wurde. Die Charta bezieht sich auf Gewalt gegen die Staatssouveränität, die UD garantiert die Rechte des Einzelnen gegenüber repressiven Staaten. Der Begriff der "humanitären Intervention" entspringt dieser Diskrepanz. Es ist das Recht auf "humanitären Intervention", das die USA und die NATO im Kosovo beanspruchen, und dies findet generelle Unterstützung in der veröffentlichten Meinungen und den Nachrichten.

(...) Wir sollten ebenso eine Binsenweisheit im Sinne behalten: das Recht auf "humanitäre Intervention", wenn es denn existiert, hängt vom Vertrauen in die "gute Absicht" dessen ab, der interveniert. Und dieses Vertrauen hängt nicht von dessen Rhetorik ab, sondern von seiner jüngeren Geschichte, insbesondere ob er im Einklang steht mit den Prinzipien des internationalen Rechts, den Entscheidungen des Internationalen Gerichtshofes und so weiter. Dies ist in der Tat eine Binsenweisheit, zumin-dest insoweit es sich auf andere bezieht.

Stellen wir uns beispielsweise vor, der Iran hätte eine Intervention zur Vermeidung von Massakern in Bosnien angeboten, als dies der Westen nicht tat. Dies wäre mit Hohn zurück-gewiesen worden, da man dem Iran die "gute Absicht" abgesprochen hätte. Ein unvoreingenommener Beobachter müsste nun fragen, ist die jüngere Geschichte Irans hinsichtlich Inter-ventionen und Terror schlimmer als die der USA? Und dann tauchen weitere Fragen auf, z. B. wie sollten wir die "gute Absicht" des Staates einschätzen, der als einziger sein Veto im Weltsicherheitsrat gegen eine Resolution eingelegt hat, die alle Staaten verpflichten sollte, das internationale Recht zu achten (die USA, LL). Bevor solche Fragen auf der Diskussionstagesordnung stehen, wird ein unvoreingenommener Beobachter dies als bloße Weltanschauung zurückweisen.

(2) Was bedeutet die Anwendung dieser Regeln auf die Kosovo-Krise?

Im vergangenen Jahr gab es eine humanitäre Katastrophe im Kosovo, die im überwältigen-den Maße dem jugoslawischen Militär anzulasten ist. Die meisten Opfer sind unter den Koso-varen albanischer Abstammung zu finden, die etwa 90 % der Bevölkerung dieser Region ausmachen. Nach der allgemeinen Einschät-zung wurden 2000 Menschen getötet, Hundert-tausende flohen.

Für Außenstehende ergeben sich nun drei Handlungsoptionen
I. versuchen, die Katastrophe eskalieren zu lassen
II. nicht handeln
III. versuchen, die Katastrophe zu lindern

Diese Option sollen an anderen zeitgenössischen Fällen illustriert werden. Dabei werden wir uns auf einige wenige in ähnlicher Größenordnung beschränken und überprüfen, inwieweit Kosovo in dieses Raster passt.

A - Kolumbien.

In Kolumbien ist nach Einschätzungen des amerikanischen Außenministeriums die Höhe von politischen Morden durch die Regierung pro Jahr in der gleichen Größenordnung wie im Kosovo und die Anzahl der Flüchtlinge, in erster Linie aufgrund dieser Greueltaten, ist größer als eine Million. Kolumbien ist das führende Empfängerland, was US-Waffen und militärische Beratung angeht, auf dem amerikanischen Kontinent während der 90er Jahre, als die Gewalt eskalierte. Nahezu alle unabhängigen Beobachter sprechen in diesem Fall von der Ausrede eines sog. "Drogenkriegs". Die Regierung Clinton war teilweise sogar enthusiastisch in ihrem Lob für Präsident Gaviria, während dessen Amtszeit das "erschreckende Maß an Gewalt", das die Menschenrechtsorganisationen beklagen, und das die Praxis seiner Vorgänger noch in den Schatten stellt.
In diesem Fall war die US-Reaktion nach der Methode (I) erfolgt: Die Greueltaten eskalieren lassen.

B - Türkei.

Sehr vorsichtig eingeschätzt, fällt die Repression der Kurden in den 90er Jahren in die gleiche Kategorie wie im Kosovo. Es gab einen Höhepunkt Anfang der 90er Jahre, was u. a. an der Flucht von mehr als einer Million Kurden in die nicht offizielle kurdische Hauptstadt Diyar-bakir zwischen 1990 und 1994, als die türki-sche Armee die dörflichen Gegenden verwüste-te. 1994 gab es zwei Rekorde: es war das Jahr "der schlimmsten türkischen Unterdrückung in den kurdischen Provinzen", wie Jonathan Randal berichtete, und es war das Jahr, als die Türkei "der größte Einzelempfänger amerikanischer Militärgüter und somit auch der Welt größter Waffennachfrager". (...)
Auch dieses Beispiel zeigt die Option (I): versuchen, die Greueltaten eskalieren zu lassen.

C. - Laos.

Alljährlich werden Tausende von Menschen, meist Kinder und arme Kleinbauern, in der Ebene der Tonkrüge in Nordlaos getötet. Dies scheint der Schauplatz der schwersten Bombar-dierung ziviler Ziele in der Geschichte zu sein und vermutlich der grausamste. Washingtons wütender Angriff auf eine arme Bauerngesell-schaft hatte wenig zu tun mit seinen Kriegen in dieser Region. Die schlimmste Phase war seit 1968, als Washington (aufgrund öffentlichen und wirtschaftlichen Drucks) gezwungen war Verhandlungen zu führen, die das Bombardement Nordvietnams beendeten. (US-Außenminister) Kissinger und (US-Präsident) Nixon entschieden sich dann, die Flugzeuge stattdessen Laos und Kambodscha bombardieren zu lassen.
Die Tötungen erfolgen durch sog. "Bombies", kleine Anti-Personen-Waffen, viel schlimmer als Landminen: sie sind speziell produziert um zu töten und zu verstümmeln; Gebäuden, Lkws und so weiter können sie nichts anhaben. Die Ebene wurde durchsetzt mit hunderten von Millionen dieser kriminellen Vorrichtungen, die laut Angaben des Herstellers (Honeywell) ein Risiko von 20% bis 30% haben, nicht sofort zu explodieren. (...) Die jährliche Gefallenenra-te aufgrund der "Bombies" wird eingeschätzt zwischen Hunderten pro Jahr bis zu "einer jährlichen Trefferrate von 20.000", wovon mehr als die Hälfte der Menschen getötet werden, so berichtet Barry Wain, der Asienreporter des Wall Street Journal. Nach vorsichtiger Einschätzung ist dies ein Konflikt, dessen Opferzahl in diesem Jahr in etwa vergleichbar ist mit der im Kosovo, obwohl die Getöteten hier in viel größerem Maße Kinder sind. (...)

Es gab Bemühungen, diese humanitäre Katastrophe zu publizieren und einzugreifen. Eine britische Minenberatungsgruppe (MAG) bemüht sich, die tödlichen Objekte einzusammeln. Die britische Presse berichtet, (...) dass die USA es ablehnen, die MAG in Techniken einzuweisen, die ihre Arbeit "wesentlich schneller und sicherer" machen würden. Vielmehr würden diese weiterhin als Staatsgeheim-nis gehütet, so wie die ganze Affäre in den USA geheim gehalten wird. (...)
 

In diesem Fall regieren die USA also mit Option (II): nichts zu tun. Die Reaktion von Medien und Kommentatoren ist, Schweigen zu üben. (...)

Es gibt weitere Beispiele zu Optionen (I) und (II) zur Genüge, und auch wesentlich schwerwiegendere Greueltaten, wie z. B. das massenhafte Abschlachten irakischer Zivilisten durch biologische Kriegführung - "eine sehr schwere Entscheidung" nannte das Madeleine Albright im Fernsehen, als sie 1996 zu einem Kommentar auf die Tötung von einer halben Million Kindern innerhalb von fünf Jahren angesprochen wurde, "aber wir denken, es ist den Preis wert". Nach gegenwärtigen Schätzungen werden auf diese Weise monatlich noch 5000 Kinder getötet, aber "der Preis ist es immer noch wert". Diese und andere Beispiele sollten wir im Hinterkopf behalten, wenn wir die Ehrfurcht erweckende Rhetorik der Clinton-Regierung über "moralische Richtlinien" hören.
 

Aber was zeigt uns das Beispiel? Die Androhung der NATO-Bombardierung führte - und das war abzusehen - zu einer scharfen Eskalation der Grausamkeiten durch die serbische Armee und paramilitärischer Einheiten und zum Abzug der internationalen Beobachter, was natürlich den gleichen Effekt mitverur-sachte. Der Oberkommandierende General Wesley Clark erklärte, dass es "völlig vorhersehbar" war, dass sich der serbische Terror und die Gewalt intensivieren würden nach Aufnahme der Bombardierung durch die NATO, und genau das geschah. (...)

Daher ist Kosovo ein weiteres Beispiel von Option (I): versuchen, die Gewalt eskalieren zu lassen.
Beispiele, die die Option (III) veranschaulichen, gibt es genug, zumindest wenn wir uns an die offiziellen Sprachregelungen halten. Die größte zeitgenössische wissenschaftliche Studie über "humanitäre Intervention" von Sean Murphy überprüft die Geschichte nach dem Kellog-Briand-Vertrag von 1928. In der ersten Phase, schreibt er, waren die bekanntes-ten Beispiele Japans Angriff auf die Mandschu-rei, Mussolinis Invasion in Äthiopien und Hitlers Besetzung des Sudetenlandes in Tschechien. Alle waren begleitet von einer höchst erhebenden humanitären Rhetorik und weiteren Rechtfertigungen. Japan schickte sich an, "ein Paradies auf Erden" zu schaffen, als es die Mandschurei vor den "chinesischen Banditen" verteidigte, und das mit Unterstützung führender chinesischer Nationalisten, einer wesentlich glaubwürdigeren Anzahl als die USA während ihrer Attacken in Südvietnam vorweisen konnten. Mussolini befreite Tausende Sklaven als er die westliche "zivilisatorische Mission" nach Afrika brachte. Hitler kündigte Deutschlands Ziel an, die ethnischen Spannungen und Gewalt zu beenden und "die nationale Identität des deutschen und des tschechichen Volkes zu schützen", in einer Operation, "erfüllt aus dem ernsthaften Bestreben den wahren Interessen der Völker, die in dieser Region beheimatet sind, zu dienen, im Einklang mit deren Willen"; der slowakische Präsident bat Hitler, die Slowakei zum Protektorat zu erklären.

Eine andere nützliche intellektuelle Übung ist es, diese obszönen Rechtfertigungen einmal mit denen zu vergleichen, die uns für Interventionen - auch "humanitäre Interventionen" - nach dem 2. Weltkrieg angeboten wurden.

In dieser Zeit ist das vielleicht zwingendste Beispiel der Option (III) die vietnamesische Invasion in Kambodscha im Dezember 1978, um die Greueltaten Pol Pots zu beenden, die damals ihren Gipfel erreichten. Vietnam berief sich auf das Recht auf Selbstverteidigung ge-gen einen bewaffneten Angriff, einen der weni-gen Fälle seit Verabschiedung der Charta der Vereinten Nationen, in denen die Berufung auf dieses Recht plausibel war: Das Regime der Roten Khmer führte Mord-Attacken gegen Vietnamesen im Grenzgebiet durch. Die Presse verdammte die "Preußen" Asiens für ihren frevelhaften Bruch internationalen Rechtes. Vietnam wurde streng bestraft für seinen Fre-vel, den Schlächtern Pol Pots das Handwerk zu legen, zunächst durch eine chinesische Invasion mit amerikanischer Rückendeckung, dann durch die Aufnahme extrem harscher Sanktio-nen durch die USA. Die USA erkannten das abgesetzte Pol-Pot-Regime als die offizielle Regierung Kambodschas an, aus "Gründen der Kontinuität", wie das amerikanische Außenmi-nisterium erklärte. (...)

Dieses Beispiel erzählt uns einiges über "Gewohnheitsrecht" der sich "entwickelnden Rechtsnormen auf humanitäre Intervention".
 

(...) Abgesehen von Großbritannien (das inzwi-schen ungefähr so unabhängig ist wie die Uk-raine von Russland vor Gorbatschow) waren die NATO-Länder der US-Politik gegenüber skeptisch eingestellt, teilweise sogar genervt vom Säbelrasseln der amerikanischen Außen-ministerin Albright (vgl. Kevin Cullen im Boston Globe vom 22. Febr. 99) (...)
 

Unter Clinton wurde der Trotz gegenüber der Weltordnung so stark, dass selbst radikal-militaristische Politikbeobachter besorgt sind. In der neuesten Ausgabe des führenden Regierungsblattes, den "Foreign Affairs", warnt Samuel Huntington, dass Washington einen gefährlichen Kurs steuert. In den Augen weiter Teile der Weltöffentlichkeit - vielleicht sogar des größten Teiles, wie er vermutet - entwickelt sich die USA zur "Ganoven-Supermacht" (rogue superpower), vermutlich zur "größten einzelnen äußeren Gefahr für ihre Gesellschaften". Eine realistische "Theorie internationaler Beziehungen", so argumentiert er, wird dazu führen, dass sich Bündnisse ergeben könnten, um der Ganoven-Supermacht ein Gegengewicht entgegenzusetzen. Daher müsste aus rein pragmatischen Gründen die Lage neu bewertet werden. Amerikaner, die ein anderes Bild ihrer Gesellschaft bevorzugen, könnten ja vielleicht aus anderen als pragmatischen Gründen eine Neubewertung der Lage anstreben.

Doch zurück zur Frage, wie im Kosovo zu verfahren ist. Die USA haben einen Kurs ein-geschlagen, wie deutlich zu erkennen ist, der Gewalt und Greueltaten vorhersehbar eskalieren lässt; ein Kurs der außerdem der Weltordnung einen weiteren Schlag versetzt. (...) Die langfristigen Konsequenzen sind nicht vorhersehbar.. Eine plausible Einschätzung ist, "dass jede Bombe, die auf Serbien fällt und jeder ethnische Mord im Kosovo darauf hinweist, dass es kaum möglich ist, dass Serben und Albaner in irgendeiner Form friedlich neben-einander leben können." (Financial Times, 27. März.) (...)

Das Recht auf "humanitäre Intervention" wird sicher in den kommenden Jahren häufiger erwogen - sei es berechtigt oder unberechtigt - nachdem die Spielregeln des Kalten Krieges nicht mehr gelten. In einer solchen Zeit wäre es angebracht, den Vorschlägen respektabler Kommentatoren etwas Aufmerksamkeit zu schenken.
Unter internationalen Rechtswissenschaftlern gibt es wohl keine größeren Kapazitäten als Hedley Bull und Leon Henkin. Bull warnte bereits vor 15 Jahren, dass "Einzelstaaten oder Staatengruppen, die sich zu selbsternannten Richtern der Weltgemeinwohles machen und damit die Ansichten der anderen missachten, in der Tat eine Bedrohung der internationalen Ordnung sind." Henkin schreibt in einem Standardwerk über internationales Recht, "(...) Menschenrechte, so glaube ich, müssen vorgelebt werden und Ungerechtigkeiten muss begegnet werden durch andere, friedliche Mittel, nicht dadurch, dass wir der Aggression und der Zerstörung der Grundsätze im internationalen Recht Tür und Tor öffnen, sondern durch Ächtung des Krieges und Gewaltverzicht."

Die Anerkennung der Prinzipien des internatio-nalen Rechts, feierliche Staatsverträge, Ent-scheidungen des internationalen Gerichtshofes, Äußerungen renommierter Staatsrechtler - all dies löst nicht automatisch einzelne Probleme. Jedes Thema muss einzeln bewertet werden.

Für diejenigen, die die Werteordnung eines Saddam Hussein nicht akzeptieren, ist es schwer zu beweisen, dass die Androhung oder Anwendung von Gewalt als Mittel internationaler Politik akzeptabel ist. Vielleicht kann dieser Beweis ja erbracht werden, aber dann muss dies getan werden, und nicht nur ein Feuerwerk leidenschaftlicher Rhetorik abgebrannt werden. Die Konsequenzen eines solchen Handelns müssen dabei sorgfältig abgewogen werden - insbesondere die "vorhersehbaren". (...)

von Noam Chomsky, zitiert nach: Jonathan Watts, übersetzt und gekürzt von Lothar Lehmann




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