Chris Hunting
Der "freie Markt" macht uns alle zu Sklaven

Der Autor beschreibt die Einstellung des Initiators des "Netzwerks engagierter Buddhisten" in einem Artikel für die "Times Higher Education Supplement", erschienen im Sommer 2002. Übersetzung aus dem Englischen von Lothar Lehmann.



Die Menschen entwickeln sich nicht durch den Kauf von Handys oder BMWs weiter, argumentiert der thailändische Umweltschützer Sulak Sivaraksa, der davon überzeugt ist, dass eine nachhaltige Zukunft ein Körnchen spirituelle Erleuchtung benötigt.

Ich frage Sulak Sivaraksa was er z B. von George W. Bush hält. Sein Gesicht verzieht sich, die Wangen dehnen sich nach außen, der Mund legt sich in Falten und die Augenbrauen ziehen sich weit nach unten. Sivaraksa beginnt energisch zu gestikulieren.

Er sieht aus wie ein Mann, der gerade in eine sehr, sehr saure Zitrone gebissen hat.

"Ich bin sicher, er ist ein sehr netter Mann, aber..." Der Satz bleibt in der Luft hängen, vermutlich weil der Rest in seinem Gesichtsausdruck perfekt visualisiert ist. Tony Blair? Plötzlich ist sein Ausdruck ruhig und nach einer kurzen Pause antwortet er mit äußerster Präzision: "Tony Blair ist meiner Meinung nach ein sehr netter Mann, aber ich glaube nicht, dass er in der realen Welt lebt. Er möchte ein starkes Vereinigtes Königreich haben, an der Seite der USA." Rasch legt sich sein Mund in Falten.

Kaum erwähnt man Weltbankpräsident James Wolfensohn so erhält man einen Blick mit vor Verblüffung weit geöffneten Augen, so als habe Sivaraksa ein Fabelwesen erblickt mit dem Kopf eines Krokodils und dem Körper eines Nilpferdes. "James Wolfensohn ist ein arroganter Mann, ein sehr arroganter Mann, aber er ist eine zutiefst spirituelle Person - in seiner jüdischen Tradition."

Sivaraksa, der sich mit Wolfensohn getroffen hat um ethische Themen im Zusammenhang mit ökonomischer Entwicklung zu diskutieren, kommt hier zu der günstigsten Einschätzung einer Person, die den Mainstream repräsentiert. "Der Mainstream wird uns nicht zuhören. Die können mich nicht leiden," sagt er mit einem Grinsen, das so breit ist dass er die Augen schließen muss. Sivaraksa - ein kleiner gedrungener Mann von 69 Jahren, aber jünger wirkend, peinigt die Vertreter des Mainstream in seiner Hemat Thailand seit dem Anfang der sechziger Jahre, wobei er die Aufmerksamkeit als der führende Intellektuelle und Kopf der neuen sozialen Bewegungen auf sich zog. Nach seiner Erziehung in Großbritannien am St. David´s College, Lampeter und an Londons Middle Temple begann Sivaraksa seine bemerkenswerte intellektuelle Karriere 1961 nach seiner Rückkehr in sein Heimatland, wo er eine intellektuelle Zeitschrift, die Social Science Review gründete. Es war ein großer Erfolg, denn schon bald war die Zeitschrift das führende intellektuelle Blatt des Landes. Zwar arbeitete er unter einer Militärdiktatur, aber dank mächtiger Sponsoren aus der königlich-thailändischen Familie gelang es Sivaraksa eine höchst unabhängige und kritische redaktionelle Linie in seiner Zeitschrift durchzuhalten, während er gleichzeitig Diskussionsveranstaltungen organisierte, um die Entwicklung freien Gedankenguts bei seinen Lesern und Mitarbeitern zu fördern. Viele der Studentenführer, die mit ihrer Revolte das Militärregime 1973 vertrieb waren aktive Mitglieder von Gruppen, die Sivaraksa gegründet hatte.
Zu seinem Glück war er außer Landes als es 1976 zu einer Rückkehr zur mörderischen Diktatur kam. Weder dieses knappe Entrinnen noch Thailands anschließendes Schwanken zwischen Demokratie und Diktatur konnten Sivaraksas unbeugsames Eintreten für eine bessere Regierung schwächen. 1991, kurz nachdem Thailand in eine weitere Periode der Diktatur geschlittert war, hielt er eine von Geist sprühende Rede an der Thammasat Universität, in der er die beiden mächtigsten militärischen Führer der Korruption, der Zerschlagung der Demokratie, des Antastens der Monarchie und der Religionsfeindlichkeit bezichtigte. Es gelang ihm erneut, sich ins Ausland abzusetzen.

Obwohl ein treuer Royalist, wurde er zweimal wegen Majestätsbeleidigung inhaftiert. Der Aufbau der zivilen Thai-Gesellschaft ist zum großen Teil sein Verdienst, beteiligte er sich doch an der Gründung von Dutzenden von Nicht-Regierungs-organisationen, die sich mit den unterschiedlichsten Projekten von sozialer Wohlfahrt bis spiritueller Erziehung befassen sowie an einer ganzen Serie von Dachgesellschaften, die diese Arbeiten vernetzten.
Zur Zeit ist er auf Kaution frei, nachdem er sich an der Organisation einer Kampagne gegen den Bau einer Gaspipeline zwischen Thailand und Burma beteiligt hatte, die seiner Meinung nach nicht nur die Umwelt zerstört, sondern auch das mörderische Regime Burmas stützt. Sein Aktivismus hat Sivaraksa einerseits zum Intimfeind eines großen Teils der regierenden Thai-Eliten gemacht, andererseits großen Beifall seitens der internationalen Menschenrechtsbewegung eingebracht. Aber es ist nicht sein Status als großer Fisch im "Teich Thailand", der das Interesse internationaler Größen wie Wolfensohn auf ihn gezogen hat.

Gerade als die Führer der Welt sich auf dem Johannesburger Gipfel langsam dem Gedanken der nachhaltigen Entwicklung nähern wollten, fanden einige von ihnen in Sivaraksa einen profunden Kritiker überkommenen Denkens. "Die Führer des Mainstream reden über Wirtschaftswachstum um den Armen zu helfen," sagt Sivaraksa und nuckelt an einer Zitrone. "Aber ich habe niemals gesehen, dass sie mit den Armen geredet haben. Ich lebe zusammen mit den Armen. Es gibt viele Dörfer in Thailand, die lagen früher mitten im Wald. Die Menschen lebten im Einklang mit der Natur und von ihr, und nach den offiziellen Zahlen waren sie arm. Jetzt ist der Wald verschwunden und es gibt überall neue Gebäude. Statistisch ist jeder reicher - aber so sieht es nicht wirklich aus, wenn man sieht, wie die Menschen hungern, die einen ganzen Tagelohn ausgeben müssen, um sich eine Dose Erfrischungsgetränk zu kaufen."

Sivaraksa, Sohn einer Familie chinesisch-thailändischer Kaufleute, die er als Teil der unterdrückenden Klasse bezeichnet, zeichnet sich durch komplexes Denken aus: gleichzeitig kulturell konservativ - er besteht drauf, dass die Thais zu ihren Wurzeln aus Buddhismus und Königshaus zurückkehren - und sozial progressiv bekennt er sich lautstark z.B. zu Frauenrechten und sozialer Wohlfahrt. Er steht den traditionellen sozialistischen Modellen ökonomischen Wachstums, welche die menschlichen Ziele zugunsten unpersönlicher Plansolls verrieten, ebenso kritisch gegenüber wie den kapitalistischen Modellen, von denen er sagt, sie würden im wesentlichen dasselbe tun in ihrem Streben nach Steigerung des Bruttoinlandsproduktes und der Marktwerte.
Die grundlegende Botschaft seiner Marke "Engagierter Buddhismus" ist ganz einfach: Menschen entwickeln sich nicht dadurch, dass sie Handys oder BMWs kaufen. In seinem eigenen Land erkennt er die "Verwestlichung" seit der erzwungenen Öffnung seines Landes für den Weltmarkt durch die Briten in den fünfziger Jahren des 18. Jahrhunderts als stetiger Zerstörung der Kultur und Unabhängigkeit Thailands. Die Armen wurden ärmer. Töchter von Bauern, die ihr Land verloren haben, wurden in die Prostitution verkauft und die angeblich Begünstigten einer fundamental gewalttätigen Sozialstruktur, so drückt sich Sivaraksa aus, wurden selbst Sklaven des mitleidlosen Zwangs des kapitalistischen Systems zu konsumieren. "Dies ist wie eine Religion, eine Art Sakrament. Die Warenhäuser wurden zu den Tempeln der Menschen. Der Buddhismus ist für diese Leute nichts anderes mehr als ein Ritual," sagt er.

"Der Buddhismus sagt, dass die Annahme grenzenlosen materiellen Wachstums eine Illusion ist. Es ist offensichtlich, dass , wenn jeder Chinese ein Auto hat, dem die Erde nicht gewachsen ist. Aber wir müssen auch die Frage stellen, was wir eigentlich mit Entwicklung meinen. Im buddhistischen Konzept bedeutet Entwicklung die Entwicklung des Menschen. Das ist etwas anderes als materielles Wachstum, mitunter kann dieses sogar hinderlich sein. Was wir brauchen ist eine Balance zwischen spirituellem, sozialem und ökologischem Wachstum."

Sivaraksas jüngste Projekte beschäftigen sich damit, eine Alternative zum Modell des Konsumismus herauszubilden. Ein "Führungspro-gramm von unten" vermittelt "kritisches Verstehen der gegenwärtigen sozioökonomischen Strukturen" und alternative Entwicklungsstrategien wie Mikro-Kreditinstitute und Projekte zur gemeinsamen Nutzung von Ressourcen für die Führer der noch bestehenden traditionellen Gemeinschaften in Thailand. Es gibt auch Pläne für ein Südostasien-Studienzentrum für nachhaltige Gemeinwesen, das Kurse von bis zu zwei Jahren Dauer abhalten soll. Die Hälfte dieser Zeit sollen die Teilnehmer/innen im Klassenraum über nachhaltiges Wirtschaften lernen, die andere Hälfte der Zeit das Erlernte in praktischen Projekten in ihren eigenen Gemeinwesen umsetzen.

Für Sivaraksa bedeutet jede ursprüngliche nachhaltige Entwicklung die Wiederentdeckung spiritueller Werte. In Thailand bedeutet dies die Rückkehr zu buddhistischen Wurzeln, in anderen Ländern hingegen müssen andere Traditionen wiederbelebt werden. "Es gibt einen immensen Reichtum im Christentum, den eure Länder wiederentdecken müssen. Das gleiche gilt für den Islam. Es ist nötig, dass wir zusammenkommen, auch mit Atheisten und Agnostikern, und wir müssen tiefer sehen als nur auf die materialistische Ebene.  Die Konzerne, die die Welt derzeit beherrschen, haben die neueste Technologie, sie beschäftigen die besten Wissenschaftler.  Aber ihnen ermangelt es der ethischen Stärke, und das ist es was letztendlich das Schicksal aller menschlichen Institutionen zerstört. Ohne eine ethische Basis hält sich nichts. Ich erinnere mich noch gut, wie George Orwell vor 50 Jahren den Untergang der Sowjetunion voraussagte. Keiner glaubte ihm. Zu diesem Zeitpunkt himmelte die englische Linke die Sowjetunion an, so wie die Leute sich heute vom Glitzern des Marktfundamentalismus blenden lassen. Damals ignorierten sie sogar Stalins Gräueltaten, genau wie sie jetzt vor dem die Augen verschließen, was die Konzerne anrichten. "Aber Orwell hatte Recht, als er das Ende jenes Regimes voraussagte, das der moralischen Legitimität ermangelte, und auch die Konzerne werden nicht bestehen, denn sie weisen den gleichen Fehler auf." Und diesmal ist Sivaraksas Gesicht ausdruckslos.
 



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