Hans-Günter Wagner
Die Quellen buddhistischer Ethik


Ethisches Handeln (sila) ist neben Wissen und Versenkung eine der drei Grundlagen des buddhistischen Weges. Der "Erleuchtung" ist es nicht egal, wie du sie erlangst. Ohne das Einhalten der buddhistischen Grundregeln eines Lebens in Eintracht mit dem Mitwesen ist der vollkommene Zustand nicht zu erreichen. In gewissem Sinn ist Sila die Grundlage, aus der sich alles weitere ergibt. Wer achtsam lebt, keine anderen Wesen verletzt und tötet, sich falscher Rede enthält und nicht nimmt, was nicht gegeben wurde, seinen Körper von unreinen Handlungen und seinen Geist von Trübungen freihält, der verfügt im Kern über das Dharma-Wissen und praktiziert Versenkung auch dann, wenn er nicht im Meditationssitz hockt. Grundlage eines harmonischen Lebens ist die Einhaltung der fünf grundlegenden Regeln und das Beschreiten des auf sie aufbauenden achtfachen Pfades. Die buddhistische Ethik gliedert sich in einen Regelkanon für Ordinierte und in einen solchen für die "gewöhnlichen" Menschen. Wer in einer Familie lebt und seinen Lebensunterhalt selbst erwirtschaften muss, kann in vielem nicht den strengen Regeln des ursprünglichen Mönchsordens entsprechen, die zum Beispiel das Besitzen von Geld oder das Lagern von Lebensmitteln über Nacht nicht gestatten. Was würden die Kinder sagen, wenn der Kühlschrank morgens leer ist, und wie sollte ohne Geld eine arbeitsteilige moderne Gesellschaft funktionieren?

Eine Ethik für die Wiedergeburt und eine fürs Erlöschen

Die gestaffelte Strenge sowie die Unterschiede im Umfang der Regeln für Ordinierte und Laien ergeben sich aus den unterschiedlichen Zielen, die angestrebt werden. Wer nach einem guten und harmonischen Leben strebt, und evtl. eine ebensolche Wiedergeburt im Visier hat, muss sich weniger strengen Regeln unterwerfen als jemand, der nach Erlösung aus dem Kreislauf der Existenzen trachtet. Unterschiedliche Lebensformen resultieren somit aus jeweils verschiedenen Lebenseinstellungen und -zielen. Es ist durchaus im Einklang mit der buddhistischen Karmalehre, ethisches Handeln als Methode, als Mittel zur Erreichung eines Zwecks aufzufassen. Das Überwinden von Leid bleibt unmöglich, solange wir anderen Leid zufügen. Das Streben nach Vervollkommnung muss ein ewiger Wunsch bleiben, solange wir die eigene Unvollkommenheit als unabänderlich akzeptieren und uns in ihr gemütlich einrichten. Viele Menschen fragen nach der Verlässlichkeit der buddhistischen Methode. Zahlen sich die Mühen und Opfer ethisch gelebten Lebens am Ende aus? Woher können wir wissen was ethisch richtig und falsch ist? Es stellt sich die Frage nach der Autorität und vor allem nach den Quellen der buddhistischen Ethik.

Drei Ursprünge ethischer Lehren

Wenn wir ein wenig allgemeiner fragen, so lautet das Problem, wo liegen überhaupt die Ursprünge jedweder ethischer Lehren, und wo ist die Instanz ihrer (Letzt)begründung? Alle Ethiklehren lassen sich im Kern auf drei Quellen und Begründungskontexte zurückführen: Monotheistische Religionen sehen die Quellen ethischer Codes in außerweltlicher Offenbarung. Die beiden Tafeln mit den 10 Geboten, die Moses vom Berg Sinai herunterbrachte, sind der mit Feuer in Stein gehauene Wille Gottes und bar jeder Diskussion. Die Ethiklehren des Koran entstammen Allah selbst, der den weltlichen Schreiberlingen sozusagen via göttlicher Eingebung Buchstabe für Buchstabe die Feder führte. Wo die göttlichen Gebote der Erläuterung und Auslegung bedürfen, da reklamieren Institutionen wie die Ayatollahs oder die hohen Priester des Vatikan höchste Erklärungsmacht und Unfehlbarkeit aufgrund göttlichen Eingebungsmonopols.

Die nicht-monotheistischen Religionen des Ostens kennen keinen alleinigen Schöpfergott, der als oberste Instanz fungiert, um ethische Gebote für das menschliche Zusammenleben zu erlassen und zu verkünden. Quelle ethischer Codes ist hier in vielen Fällen die Analogiebildung zu Naturprozessen. Die Lehre vom Tao sieht in der Natur die universelle Potenz und den Ursprung aller Dinge, und so auch der sozialen Phänomene. Als ethisch richtig gilt ein Handeln, das sich in Übereinstimmung mit der natürlichen Ordnung der Dinge befindet. Orientierung an der Ordnung der Natur ist daher eine weitere Quelle ethischer Regelbildung. Auch in Europa gibt es eine vergleichbare Tradition aus Naturbeobachtung abgeleiteter Normenbegründung, die sich von der Naturrechtslehre der englischen empirischen Philosophie über die französische Schule der Physiokraten mit ihren Bezügen zur ordre naturel bis zur Ökologiebewegung unserer Tage erstreckt. Auch die in den letzten Jahrzehnten verschiedentlich unternommenen Versuche, eine ökologische Ethik zu formulieren, greifen oft auf den Vergleich mit den Erhaltungs- und Steuerungsprinzipien ökologischer Systeme zurück: Wie ein Ökosystem langfristig nur bestehen kann, wenn sich seine Lebewesen und einzelnen Bestandteile in einem dynamischen Gleichgewicht befinden, so kann das globale Ökosystem Erde dauerhaft nur funktionieren, solange keine Spezies die Alleinherrschaft an sich reißt und dadurch alle anderen Lebensformen erstickt.

Ein dritter Strang ethischer Normenbildung schließlich ist die Fundierung ethischer Regeln durch den gesellschaftlichen Dialog zwischen Menschen. Die Ergebnisse diskursiver Vereinbarung bilden hier die (Letzt)begründungsinstanz zur Formulierung und Inkraftsetzung ethischer Codes. "Göttliche Eingebung" zählt hier nicht höher als wissenschaftliche Fundierung. Nur konsensual oder über demokratische Abstimmungen ermittelte Setzungen können allgemeine Verbindlichkeit reklamieren. Ob Abtreibung Mord ist oder Sterbehilfe ethisch angemessen, ob Tierversuche zu verbieten oder nur einzuschränken sind, ob Fernreisen aus ökologischen Überlegungen abzulehnen oder aus anderen Gründen erstrebenswert sind - die an den Maßstäben von Rationalität und Herrschaftsfreiheit orientierte Kommunikation zwischen Menschen gibt hier die letztlich gültigen Antworten, ohne dass eine außerweltliche Instanz befragt werden muss. Wird die Natur in diesem Zusammenhang als Begründungsfigur herangezogen, so ist eine verbindliche Orientierung im Rahmen der diskursiv fundierten Ethik nur dann reklamierbar, wenn hinsichtlich des Naturverständnisses und der Naturdeutung eine übereinstimmende Auffassung erreicht werden kann.

Die Quellen buddhistischer Ethik

Oberflächlich betrachtet scheint die buddhistische Ethik keiner dieser drei Quellen zu entstammen: Da es im Buddhismus keinen Schöpfergott gibt, entfällt die außerweltliche Quelle göttlichen Eingebungswissens als (Letzt)Begründungsinstanz. In den buddhistischen Schriften wird auch kein Naturbild skizziert, das als Orientierung für das menschliche Handeln herangezogen werden könnte, von den gelegentlichen Gleichnissen mit Bäumen, Vögeln und anderen Tieren und der Natur als Beispiel für Vergänglichkeit in vielen Sutren einmal abgesehen. In der buddhistischen Philosophie existiert die Natur nur in Zusammenhang mit ihrer Wahrnehmung durch ein mit Sinnesorganen ausgestattetes Subjekt, das selbst Teil dieser Natur ist. Hinsichtlich der dritten Quelle schließlich steht die buddhistische Ethik auch nicht zum Diskurs oder zur Disposition: Die Grundregeln der buddhistischen Ethik sind nicht relativierbar.

Entstammt die buddhistische Ethik jedoch keiner dieser drei Quellen, woher kommt sie dann? Sehen wir noch einmal etwas genauer hin, so können wir erkennen, dass ihre Wurzeln durchaus nicht jenseits dessen liegen, was eben skizziert wurde. Zwar kennt die Lehre keinen Schöpfergott als höchsten Verkünder ethischer Codes, dafür ist im Buddhismus das Erkennen der eigenen Buddha-Natur die Quelle tiefster Weisheit. Aus dieser Quelle schöpfte der Buddha das Fundament von Sila. Die Buddha-Natur als das höchste Prinzip der Wirklichkeit transzendiert zugleich die sinnliche und dem Wandel unterworfene Welt. Insofern können wir sie auch als außerweltlich auffassen. Wie die biblischen Propheten einst in die Wüste zogen, um Gottes Willen in sich zu erkennen, so stützten sich die buddhistischen Meister auf die Instrumente von Meditation und Versenkung, um zu höheren Erkenntnisebenen zu gelangen. Die so gewonnenen Erkenntnisse flossen in unzählige Sutren und Belehrungen über die ethisch richtige Lebensweise ein. Die im Buddhismus durch Introspektion gewonnene Weisheit verleugnet ihren menschlichen Ursprung nicht. Allerdings finden sich im Mahayana-Buddhismus auch zahlreiche Schriften, die von der Belehrung durch höhere Wesen wie Buddhas und Bodhisattvas der Vergangenheit berichten.

Was den zweiten Bereich betrifft, so hat der Buddhismus zwar keine dezidierte Naturlehre hervorgebracht, aber eine der ursprünglichen Bedeutungen des Wortes Dharma ist die Lehre vom Fundament und den Grundlagen aller Dinge und Erscheinungen. Der Dharma als Lehre von der universellen Ordnung umgreift Mensch und Natur. Zwar kennt die Lehre keine losgelöst vom Wahrnehmungsvorgang existierende Natur mit eigener Gesetzmäßigkeit, wir können den Dharma selbst jedoch als die Lehre von den grundlegenden Regeln und Gesetzmäßigkeiten der natürlichen wie geistigen Welt verstehen. Auch in westlichen Sprachen wird ja Natur nicht nur als Begriff zur Bezeichnung der Welt biologischer und ökologischer Phänomene gebraucht, sondern ebenso zur Beschreibung von Gesetzmäßigkeiten und Regeln eines Systems oder Bereichs, etwa wenn wir von der Natur des Geistes oder der Natur der Dinge sprechen. Reden wir beispielsweise über die Buddha-Natur, so wird auf genau diesen Sprachgebrauch Bezug genommen.

Werfen wir schließlich einen Blick auf Diskurs und Dialog als ethische (Letzt)begründungsin-stanz, so lebt die buddhistische Ethik auch nicht jenseits dieses Ortes. Was in einer gegebenen Situation richtig und falsch, was sittlich geboten bzw. sittlich verwerflich ist, kann je nach Situation ganz unterschiedlich sein. Oft müssen wir zwischen unterschiedlichen Lebensinteressen abwägen. Um ein einfaches Beispiel zu nennen: Wenn ein Haushund Würmer hat, soll man ihm Wurmmittel verabreichen, mit dem Ergebnis, dass die Würmer sterben? - Die Würmer sind schließlich auch kleine, zappelige Lebewesen mit Empfindungen und wohl auch ein bisschen Freude am Leben.

Oder soll man der Natur ihren Lauf, d.h. die Würmer im Hund lassen? - Dann muss der Hund daran leiden und möglicherweise auch noch andere Tiere, wenn die Würmer über Eier und Finnen übertragen werden.

Die moderne industrielle Gesellschaft macht die richtigen ethischen Entscheidungen immer komplizierter. Die Folgen unseres Handelns liegen räumlich und zeitlich oft weit von uns entfernt. Der Bauer, der in früheren Gesellschaften ein Huhn schlachtete, kannte dieses noch und hatte es das ganze Jahr gefüttert. Wer heute Eier und Fleisch im Supermarkt kauft, ist von den Tiere in den Legebatterien weit entfernt, die dort auf Eisenrosten und mit wundgescheuerten Hälsen dahin vegetieren. Viele Entscheidungsprozesse sind kompliziert, vor allem wenn die Folgen kaum vorhersehbar sind. Ist die Anwendung bestimmter moderner Technologien auch eine ethische Frage? Bringt zum Beispiel die Gentechnik nur Gefahren und Manipulationen oder wird sie langfristig unser Leben leichter machen, manche Krankheiten heilen und damit das Leid der Menschen verringern? Fragen, auf die es keine eindeutige buddhistische Antwort gibt. Zum einen ist die Welt komplexer geworden als zur Zeit des historischen Buddha, als Globalisierung und internationale Arbeitsteilung noch nicht einmal in Embryonalformen entwickelt waren, zum anderen kann buddhistische Ethik keine unumstößlichen Wahrheiten lehren, die immer und überall per se anwendbar wären. Mithin geht es nicht ohne Dialog und Diskurs. Eine Konkretisierung buddhistischer Ethik auf das moderne Alltagsleben muss sich daher neben Introspektion auch auf Austausch, Gespräch und Vereinbarung gründen.

Der Ethik-Diskurs und das Nicht-Diskursive

Moderne westliche Gesellschaften stützen sich bei der Festlegung ethischer Codes immer weniger auf die christliche Tradition göttlichen Offenbarungswissens. In immer stärkerem Maße fungiert der gesellschaftliche Diskurs zwischen unterschiedlichen Lebensanschauungen und Lebensweisen als Instanz zur Erzeugung ethischer Normen. Wo heute noch Gesellschaften eine allumfassende und verbindliche Ethik außerweltlichen Ursprungs mit allgemeiner Verbindlichkeit reklamieren und entsprechende Institutionen zur ihrer Durchsetzung unterhalten  - wie in vielen islamischen Ländern - da erlahmt das geistige Leben, herrschen Repression und Unterdrückung der Frau, und die Wirtschaft dümpelt vor sich hin. Gleichwohl leben die Menschen in der Sicherheit religiöser Heilsversprechen, die sie jedoch mit dem Verzicht auf Freiheit und selbstbestimmte Entwicklung bezahlen müssen. Westliche Gesellschaften offerieren Freiheit und Selbstbestimmung, allerdings um den Preis des Verlustes die Menschen verbindender Glaubenswerte. Wo gemeinsame Werte und Glaubensorientierungen fehlen, da muss der gesellschaftliche Dialog die Regeln des (ethischen) Umgangs miteinander finden und festlegen. In den meisten Fällen mutiert der Diskurs dabei allerdings vom eigentlich intendierten Instrument herrschaftsfreier und sachbezogener Kommunikation zu einer Art Basar zum Aushandeln von Interessen zwischen Institutionen und gesellschaftlichen Gruppen. Da feilschen dann die Tierschützer mit der Pharmaindustrie um vertretbare Regelungen zum Tierschutz. Kirchenvertreter, Juristen und Ärzte kungeln in Bioethik-Kommissionen Beginn und Ende des menschlichen Lebens aus, engagierte Ökologen liegen mit Verfassungsrichtern im Streit um die gesetzliche Verankerung von Eigenrechten der Natur. Grenzwerte von Schadstoffen werden hinsichtlich ihrer ethisch vertretbaren Ober- und Untergrenzen ausgehandelt.

Faktisch hat im ethischen Diskurs heute nur Rederecht, wer etwas vertreten kann. Aber was ist mit denen, die keine Stimme haben? Wer seine Interessen nicht in klare und wohlfeile Worte zu bringen vermag, hat eigentlich wenig zu gewinnen. Am Ende des Diskurses stehen ja Erklärungen, Vereinbarungen und im günstigsten Fall wahrnehmbare Schutzrechte. Sprachlos bleiben die Tiere und die ungeborenen Wesen. Ohne Stimme ist die geschundene und zerstörte Natur. Kaum anerkannt sind im herrschenden Diskurs die Worte der Unterprivilegierten, der Naturvölker und aller, die die Sprachregeln des Diskurses nicht akzeptieren können oder wollen.

Was Buddhisten in den gesellschaftlichen Ethik-Diskurs einbringen können, ist vor allem jenes nicht-diskursive Lebensgefühl umgreifender Ganzheit. Das Spüren der Einheit allen Lebens, der wechselseitigen Verbundenheit aller Dinge und die wechselseitige Abhängigkeit aller Wesen voneinander - dies geht im Streit um Codes und Interessen so oft verloren. Weil wir alle eng miteinander verbunden sind, füge ich das, was ich anderen an Leid zufüge, letztlich mir selbst zu. Der Körper ist unbeständig und vergänglich, und das Ich hat keine bleibende Substanz. Daher bin ich immer schon mit allen anderen Wesen eins. Ich bin Du und Du bist Ich - die Austauschbarkeit des eigenen Selbst mit anderen ist die Grundlage buddhistischer Ethik, wie sie auch in der Karmalehre begründet liegt. Der Streit um Rechte und Interessen, um ethische Regeln und ihre Verbindlichkeit beginnt schließlich erst dort, wo diese Einsicht und dieses Fühlen verlorengegangen sind. Allerdings leben wir in einer Welt, die von Gier und Macht und anderen negativen Triebkräften beherrscht wird und in der die Wesen die Verbindung zu ihrem Ursprung verloren haben. Das Praktizieren von Sila ist eine Methode, um diese wiederzufinden und wiederherzustellen.  Lama Govinda hat einmal gesagt: "Ethik entspringt der Glut unserer tiefsten Liebe zu anderen."  Die buddhistische Ethik kann nicht jenseits des gesellschaftlichen Ethik-Diskurses stehen. Buddhisten sind Teil der Gesellschaft. Im Widerstreit unterschiedlicher Interessen repräsentiert die buddhistische Ethik das Umgreifende und die Teilnehmer Verbindende. Buddhisten bemühen sich zudem um die Ethik des Diskurses selbst. Hass- und streiterfüllte Diskussionen führen kaum zu segensreichen Ergebnissen. Wir brauchen eine von liebevollem Austausch, Mitgefühl und Verstehen geprägte Kommunikation, die den Teilnehmern hilft, zu den tieferen Schichten ihrer eigenen Weisheit und Erkenntnis zu gelangen.



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