Helft
euch selbst,
das
ist die beste Hilfe
von Dhammaloka
Warum ich dann doch hin fuhr? Während der letzten 20 Jahre hatte ich etliche Inder kennen gelernt und mich mit einigen befreundet; nun wollte ich sie in ihrer Heimat erleben. Auch TBMSG (=Trailoka Bauddha Mahasangha Savayak Gana, die indische Entsprechung zu den FWBO). Und ich fragte mich auch, ob es sich bei meinem vorgeblich nüchternen Gleichmut gegenüber Indien nicht eher um pure Verstocktheit handelte ... oder um Angst wirkliche Armut zu erleben ... oder Widerstand gegen ein paar unbequeme Wochen, überfüllte Busse, lange Wartezeiten, Gestank, Dreck, Durchfall, Curries, Chaos ... und was einen verwöhnten Mittelschichtbuddhisten sonst noch alles an Samsara erinnern könnte. Also fuhr ich nach Indien, zum ersten Mal Anfang 2001 und seither noch zwei Mal.
Begeisterung? Nein, immer noch nicht. Schrecken, Unbequemlichkeit und Durchfall? Auch nicht. Gestank, Dreck, Curry und Chaos? Reichlich. Aber eigentlich nicht zu viel. Curries habe ich dort sehr genossen. Dreck und Chaos weniger, aber allzu schlimm fand ich das auch nicht.
Sangharakshita, der damals im nordindischen Kalimpong lebte, war einer von viel zu wenigen buddhistischen Mönchen, die solche Unterstützung gaben. (...)
Seit gut dreißig Jahren gibt es indische Ordensmitglieder, zur Zeit an die dreihundert, also ein knappes Drittel des gesamten Ordens. Mit ihnen wuchs ein weit verzweigtes Netz von Aktivitäten, Projekten und Institutionen. Bei uns im Westen sind in der Regel Dharmazentren und spirituelle Wohngemeinschaften, gefolgt von einzeln Projekten Rechten Lebenserwerbs, die typischen Erkennungsmerkmale der FWBO. Im indischen Sangha gibt es hingegen vor allem soziale und pädagogische Initiativen, in denen Buddhisten zusammen arbeiten. Materiell und sozial benachteiligte Menschen - die oft, aber bei weitem nicht immer aus der Schicht der Dalits stammen - finden hier Bildungsangebote, medizinische Versorgung usw. Für solche Projekte wurden Gebäude errichtet, die oft in den Abendstunden auch als Dharmazentren dienen. Das Geld für diese Projekte - gleichermaßen für feste und bewegliche Kosten - kommt großenteils aus dem Westen und wird um einige staatliche Zuschüsse aus Indien ergänzt. Aus den vorwiegend in Großbritannien durchgeführten Spendensammlungen des Karuna Trust wurden im Laufe der Jahre mehrere Millionen Pfund an diese Projekte gegeben.
Die Arbeit von Karuna ist zweifellos ein Erfolg. Ursprünglich als Aid for India gegründet, hat Karuna eine Vielzahl von Projekten mit den Dalits angestoßen und langfristig unterstützt. Jetzt, nach zwanzig Jahren erfolgreicher Arbeit, sind Karuna und Bahujan Hitai - die von unseren indischen Freunden gegründete Partnerorganisation - in eine Phase der Neuorientierung eingetreten. Dabei geht es um verschiedene Fragen: Wie haben sich die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umstände der Dalits entwickelt? Welche Art von Förderung, wenn überhaupt, ist heute nötig und angebracht? Welche Stärken haben wir, was sind unsere Schwächen? Welche Programme sind besonders erfolgreich und warum? Wie soll es weiter gehen?
Gerade in letzter Zeit sind auch einige Probleme sichtbar geworden, die im Erfolg der ersten Jahrzehnte nicht weiter auffielen. Durch den Einsatz von Lokamitra und seinen Freunden ist in Indien in kurzer Zeit ein großer Sangha mit einem Netzwerk unterschiedlicher sozialer Projekte entstanden. Anders als etwa im Westen kann man unsere Arbeit in Indien durchaus als Aktivitäten einer "Massenbewegung" beschreiben. Mag die Masse zwar für indische Verhältnisse bisher noch klein sein, für uns wäre sie gewaltig. Nicht selten kommen zehntausend oder mehr sahayaks (Freunde) zu einem Dharmavortrag. Dank finanzieller Unterstützung aus dem Westen haben TBMSG und Bahujan Hitai (unsere indische karitative Organisation) überdies schöne Gebäude, gute technische Mittel und viele Mitarbeiter. Mit diesem Erfolg entwickelten sich zwei potenziell gefährliche Tendenzen: Zum einen möchten manche Leute aus den "falschen Motiven" mit dabei sein. Sie suchen vor allem einen sicheren Job. TBMSG/Bahu-jan Hitai sind recht attraktive Arbeitsgeber - sie bieten ein freundliches Klima bei einer anscheinend recht hohen Sicherheit des Arbeitsplatzes mit einer dem normalen Standard ungefähr entsprechenden Bezahlung. Die Risiken dieser Tendenz wurden glücklicherweise schon vor einigen Jahren erkannt und zunächst einmal so beantwortet, dass die Auswahl von Mitarbeitern wesentlich rigoroser und anspruchsvoller geschieht als während der Anfangsjahre. Die zweite Tendenz hingegen erklärt sich vor allem aus dem kulturellen Hintergrund, aus dem so viele unserer indischen Freunde stammen. Vielen von ihnen mangelt es an grundlegenden Managementfähigkeiten.
Planung und Organisation, Orientierung an verbindlichen Zielen, Kontrolle der Verwendung von Ressourcen und der Ergebnisse sind nicht ihre Stärken. Oberflächlich gesehen scheint es hierbei vor allem um Ausbildung und Training zu gehen, doch das täuscht. Auf einer tieferen Schicht zeigen sich in den Managementversäumnissen auch die psychologischen Nachwirkungen einer Jahrhunderte dauernden Unterdrückung als „Untermenschen“ Immer wieder konnte ich beobachten, wie Leute, die ganz offensichtlich gute Fähigkeiten haben, dennoch glaubten, sie könnten überhaupt nichts. Training und Dharmapraxis müssen eng zusammen spielen und einander ergänzen.
Bei einigen wird dieses fehlende Selbstvertrauen von einer Opfermentalität verstärkt, die mehr auf die Fehler der Unterdrücker und die Schwierigkeiten in der Vergangenheit hinweist, als zu erkunden, wie man selbst Initiative ergreifen und Verantwortung übernehmen kann. Das nährt und erhält natürlich das Gefühl von Hilflosigkeit und zu-gleich die Bereitschaft sich von anderen führen zu lassen. Manchmal ist es erschreckend zu sehen, welch unbegründete Hochachtung westlichen Besuchern entgegengebracht wird. Auch in dieser Hinsicht gab es einige bittere Lernprozesse für unsere indischen Freunde, denn manche westliche Besucher haben sich nicht gerade beeindruckend aufgeführt. Wie dem auch sei - die Abhängigkeit vom Westen ist noch immer viel zu hoch, in finanzieller ebenso wie in operativer Hinsicht. So lange diese Abhängigkeit besteht, wird es auch kaum möglich sein, jene inneren Haltungen von Selbstverantwortung und Initiative zu stärken, ohne die es keine wirksame Dharmapraxis geben kann.
Damit ist es aber noch nicht genug. TBMSG/Bahujan Hitai arbeiten heute in einem anderen sozialen Umfeld als noch vor 25 oder gar 50 Jahren. Die Lebensbedingungen auch der Dalits haben sich enorm verbessert. Manche der Leistungen, die früher zu den „Markenzeichen“ von Bahujan Hitai gehörten - z. B. Herbergen für Schulkinder, Förderunterricht, Kindergärten und -krippen, Mikrokredit-Unternehmen usw. - werden heute von anderen Organisationen angeboten, und dies keineswegs schlechter.
Das ist eine sehr gute Entwicklung, die viele Energien freisetzen kann. Auf der einen Seite zwingt uns diese Entwicklung dazu das, was wir bisher schon taten und weiterhin tun wollen, noch viel besser zu machen. Andererseits erlaubt sie uns zu überdenken, was denn heute und morgen tatsächlich gebraucht wird. Wir sollten nicht davon ausgehen, die gleichen Institutionen immer neu aufzulegen, so sehr sie sich auch bisher bewährt haben. Unsere indischen Freunde sind dabei, nicht nur zu überprüfen, welche Aktivitäten in Zukunft Schwerpunkte der sozialen Arbeit sein sollten, sondern auch ob es solche Projekte überhaupt geben soll.
In gewissem Sinn ist die Frage nach dem „Ob“ eine rhetorische Frage. Aber sie ist dennoch wichtig, denn es geht darum Energie zu bündeln und am rechten Punkt anzusetzen. Damit wird wahrscheinlich auch eine stärkere Konzentration auf direkte Dharmaarbeit möglich. Ob in Indien oder in anderen Ländern: Der Sinn unserer Aktivitäten ist ja nichts anderes als den Dharma zu üben, Sangha zu bilden und Erleuchtung zu erlangen. Aus diesem Grund versuchen wir, Keimzellen einer Neuen Gesellschaft zu schaffen, in deren Hintergrund immer wieder die Frage stehen muss: Wie hilft diese Institution den Beteiligten auf dem Weg zur Erleuchtung? Was trägt sie zum Wohl anderer bei? Soziale und medizinische Projekte waren und sind nötig, nicht nur in Indien, sondern auch anderswo, wahrscheinlich auch in Deutschland. Solche Projekte sollten aber niemals zur Hauptsache werden. Auf einen „engagierten Buddhismus“, der sich in sozialem Aktivismus verliert, kann die Welt gut verzichten.
Das kann man gerade in Indien sehr deutlich erkennen. Am Erfolg der Arbeit von TBMSG/Bahujan Hitai zeigen sich auch Grenzen einer Betonung des sozialen Engagements, selbst wenn es vom Dharma inspiriert ist. Bezogen auf die Dalits, die bisherigen Hauptadressaten unserer Arbeit heißt das: Erziehung, Ausbildung und die verschiedenen Ansätze zu materiellen und sozialen Verbesserungen können wohl eine gewisse Erleichterung verschaffen, sie vermögen aber nicht die tiefe Wunde der „Unberührbarkeit“ zu heilen. Das jahrhundertlange Stigma hat bei vielen zu einer negativen Selbsteinschätzung geführt, durch die Selbstvertrauen und Eigeninitiative immer wieder von innen aufgefressen werden. Es genügt nicht, ein negatives Selbstbild durch ein positives zu ersetzen. Wirkliches Selbstvertrauen ist selbstlos, und eine solche Haltung wächst nur durch eine immer tiefere Übung des Dharmas. Erst in ihrer Folge wird dann auch ein nachhaltiger sozialer Wandel eintreten. Aber schon jetzt muss einiges geschehen. Anders gesagt: Der Wandel muss auf mehreren Ebenen parallel ansetzen. Das ist um so dringlicher, als auch im Westen Veränderungen geschehen. Unsere indischen Freunde sind sich zunehmend bewusst, dass die westlichen Geldhähne mittel- oder langfristig austrocknen könnten. Die wirtschaftliche Entwicklung im Westen (vielleicht auch eine geringere Bereitschaft zu geben beziehungsweise ein größerer Wettbewerb zwischen „attraktiven“ Projekten um begrenzte Ressourcen) zeigt ihre Auswirkungen. Während es in den Anfangsjahren für die Bewilligung von Geldern auszureichen schien, dass es sich überhaupt um ein soziales oder medizinisches Projekt mit Dalits handelte, misst der Karuna Trust inzwischen die Anträge aus Indien mit ähnlich scharfen Maßstäben wie sie von den großen, weltweit arbeitenden Spendenorganisationen angelegt werden. Wer unterstützt werden will, muss einen gut begründeten und berechneten Projektplan vorlegen und er muss nachweisen, dass qualifizierte Leute für ein effizientes Management, ständige Evaluierung von Programmen, konsequentes Controlling usw. sorgen werden - lauter Dinge, die man nicht gerade unter die indischen Tugenden zu zählen gewohnt ist. Dazu gehört auch eine überzeugende Strategie, wann und auf welche Weise ein mit westlichen Geldern unterstütztes Projekt finanziell unabhängig und eigenständig sein wird. "Nach-haltigkeit" ist auch hier ein Stichwort, das immer wichtiger geworden ist.
Das alles stellt extrem hohe Anforderungen an unsere Freunde in Indien. Sie müssen den Umgang mit Techniken und Instrumenten des Managements lernen, die ihnen kulturell fremd sind und die sie sich oft auch - noch - nicht zutrauen. Sie müssen lernen sich selbst zu helfen und ganz auf eigenen Füßen zu stehen. Wir können uns vielleicht kaum vorstellen, wie bedeutsam es war, als im vergangenen Jahr zum ersten Mal Ordinationen von zwei indischen Ordensmitgliedern geleitet wurden. In Entwicklungen wie diesen wie auch in der selbständigen Führung der Organisationen und Projekte geht es nicht zuletzt um den Gewinn einer echten und positiven Unabhängigkeit auch von den westlichen
Übervätern. Bei meinen Besuchen hatte ich ein wenig Gelegenheit dazu beizutragen. Diese Begegnungen machten mir Indien und die Inder lieb und wert. Ansonsten aber bin ich nach wie vor gegenüber Indien gleichmütig nüchtern wie eh und je. Wer weiß, vielleicht springt ja irgendwann ein Funke über.