Der
Dharma im Krieg
Buddhisten
in den USA und die Folgen des 11. September
Amerikanische Buddhisten stehen derzeit im Konflikt zwischen Spiritualität und Patriotismus: Während die einen Trauer und Mitgefühl für die Opfer zum Ausdruck bringen, gibt es auf der anderen Seite Dharma-Anhänger, die über die buddhistische Legitimation eines Verteidigungskrieges und des Tötens der Schadensstifter aus „höherem bodhisattvischen Mitgefühl“ nachdenken.
Die „Ledersandalen des Geistes“
Einiges wird derzeit diskutiert und geschrieben zum Thema Dharma und Krieg. Nehmen wir an dieser Stelle nur eine einzige Ausgabe einer US-buddhistischen Zeitschrift zur Hand, so zeigt sich allein darin bereits ein beachtliches Spektrum an Einschätzungen und Auffassungen. In der Ausgabe März/April/Mai 2002 von MANDALA - BUDDHISM IN OUR TIME finden sich neben Artikeln über „Feng Shui“, „Dealing with depression“ und „Sexual behavior“ auch eine Reihe von Beiträgen zum Thema „Buddhism and armed conflict“, die alle den 11. 9. und den darauf folgenden Krieg in Afghanistan zum Anlass nehmen, um sehr unterschiedliche buddhistische Analysen und Handlungsempfehlungen vorzutragen.
Glenn H. Mullin hat
sich in seinem Beitrag (War and peace in Tibetan Buddhism) der tibetischen
Geschichte angenommen und ist dabei auf den indischen Meister Shandideva
gestoßen, der mit seinem Gleichnis von den „Ledersandalen des Geistes“
den inneren Frieden des Geistes, gegründet auf Sanftmut und Gewaltlosigkeit,
für das einzig wirklich Erreichbare in der von Leid und Gewalt geprägten
Welt ewigen Wandels hielt. Man könne die Welt nicht von allen Dornen
befreien und sie auch nicht mit Leder überziehen, um die Menschheit
zu schützen, lehrte Shandideva einst. Schützen könnten wir
jedoch unsere eigenen Füße mit Sandalen aus Leder, und noch
wichtiger sei es, so Shantideva weiter, den eigenen Geist mit den Ledersandalen
der Güte und Gewaltlosigkeit zu schützen. Mullin scheint dieser
Ansatz sehr individualistisch zu sein, denn er versucht nun zu zeigen,
dass es in der buddhistischen Tradition neben der Kultivierung des eigenen
Geistes auch stets Bemühungen gegeben hat, die Herausbildung von sozialen
und politischen Institutionen zu fördern, die eben diesem Ziel dienen.
Solche Bemühungen werden engagierte Buddhisten sicherlich ohne Vorbehalte
unterstützen. Doch an diesem Punkte vollzieht Mullin eine überraschende
Wendung: Wenn es denn nur aus der Motivation reinen Mitgefühls und
um eines höheren Zieles willen geschehe, so dürften Buddhisten
auch Handlungen begehen, die ansonsten den fünf Grundgeboten buddhistischer
Ethik widersprechen. Zur Illustration muss eine Jataka-Geschichte herhalten:
Als Laie in einem früheren Leben fuhr Buddha einst auf einem Schiff
mit 500 Händlern als er gewahr wurde, dass sich an Bord auch ein Räuber
befand, der vorhatte, das Boot zum Sinken zu bringen, um die Passagiere
auszurauben. Geistesgegenwärtig „befreite er ihn, indem er ihn tötete“,
und rettete damit die mit dem Schiff reisenden Kaufleute. Mullin meint,
dass buddhistische Laien auch heute mit militärischer Macht für
den Schutz der Sangha und der Schwachen eintreten müssten:
„Gerade wie buddhistische
Laien Tiere töten müssen, damit die buddhistische Gemeinschaft
Fleisch zu essen hat, und ebenso wie sie in Liebe und Sexualität involviert
sind, damit die menschliche Rasse auch weiterhin Kandidaten für künftige
Mönche und Nonnen hervorbringen kann; in der gleichen Weise müssen
buddhistische Laien manchmal durch militärischen Kampf das Land verteidigen;
und bisweilen müssen sie aufstehen für die individuellen Rechte
der Schwachen und Machtlosen gegen die Tyrannei; so verteidigen sie die
Kultur und die Zivilisation, wenn die Barbaren ihre hässlichen Häupter
erheben.“ (S.10).
Der Buddhismus so
Mullin, habe den Menschen sowohl in den Zeiten des Friedens wie auch des
Krieges etwas zu sagen. Die Politik strikter Gewaltfreiheit, wie sie der
heutige Dalai Lama vertritt, sei dabei nur eine der möglichen Linien.
Frühere Dalai Lamas hätten in der tibetischen Geschichte ihre
Ziele nicht nur mit Liebe und Frieden, sondern ebenso mit den Mitteln von
Macht und Abschreckung durchzusetzen gewusst. Mullins Exkursionen in die
tibetische Geschichte führen uns zu dem König Songtsen Gampo,
der von den Tibetern auch als „Vater Tibets“ bezeichnet wird. Songtsen
Gampo wird als eifrig praktizierender Buddhist beschrieben, den die Tibeter
ebenso wie andere, friedliche spirituelle Würdenträger als Ausstrahlung
der liebenden Güte des Bodhisattva Avalokiteshvara verehren, obgleich
seine Herrschaft auf brutale Macht und Unterwerfung gegründet war.
Zur Stabilisierung seiner Macht machte er gleich zwei Prinzessinnen aus
den Nachbarländern Tibet und China zu seinen Frauen. Der nepalesische
Meister Shilamanju fand in Lhasa die folgende Situation vor, als er dort
eintraf, um den König im Dharma zu unterweisen:
„ ... der König
hatte die Gewohnheit, jeden Tag Dutzende von Männern enthaupten zu
lassen. Ich begab mich zu ihm und rief laut: ‚Es tut mir leid, Herr, aber
ich kann Euch nicht im Dharma unterweisen, solange Ihr Euch in dieser Weise
verhaltet. Es wäre nutzlos.’ Der König lächelte und sprach:
‚O Ehrwürdiger, lass mich erklären, war hier vorgeht. Als ich
mich entschied, in diesem Land der Barbaren fleischliche Gestalt anzunehmen,
um die Menschen und das Land auf den Pfad der Erleuchtung zu bringen, war
mir klar, dass dies keine leichte Aufgabe sein würde. Ich konnte es
nicht über mich bringen, anderen Wesen zu schaden, und so - gleichzeitig
mit meiner eigenen Inkarnation - ließ ich mein Selbst zur Wiedergeburt
in Zehntausenden von weiteren Verkörperungen ausstrahlen, von denen
jede nur den Zweck verfolge, mein Gesetz zu brechen und dann von mir folglich
als abschreckendes Beispiel bestraft zu werden. Die zehntausend Männer,
die ich während der Zeit meiner Herrschaft enthauptet habe, sind nichts
weiter als Ausstrahlungen meines eigenen Selbst. Mit dem Tod eines jeden
von ihnen bin nur ich es, der den Schmerz erfährt. Darauf hin nahm
er seinen Turban ab und zeigte dem nepalesischen Mönch das Bild des
Buddha Amithaba in seiner Aura, und deutete sodann auf die zehntausend
Narben auf seinem Nacken, die nach und nach auf mysteriöse Weise erschienen
seien, nachdem jede seiner Emanationen enthauptet worden war.“
Die getöteten Gegner zu Teilen des eigenen Selbst zu erklären, heißt, sie ihrer menschlichen Individualität zu berauben. Es gibt in Asien die grausame Tradition der orientalischen Despotie, in der das Wort und die Macht des Herrschers stets mehr gilt als jedes Recht und jedes Gesetz. Typisch für Länder wie China und Tibet ist das Fehlen (oder Scheitern) revolutionärer Bewegungen, die gegen die Macht absolutistischer Herrscher Freiheitsrechte des Individuums einfordern und durchsetzen. Die philosophische Negation eines bleibenden Selbst in der buddhistischen Lehre hat möglicherweise für die Bewahrung feudalistischer Herrschaftsstrukturen eine konservierende Rolle gespielt. Aus heutiger – und insbesondere westlicher Sicht – dürfen hier zwei Ebenen nicht vermischt werden: die Nicht-Existenz eines Selbst auf einer höherer Ebene der Realität und die faktische (und schützenswerte) Existenz eines Selbst, d.h. der menschlichen Individualität auf der gesellschaftlich Ebene. Die politische Anerkennung und der Schutz menschlicher Individualität ist eine der zentralen Errungenschaften der westlichen Zivilisation. Ohne die Anerkennung menschlicher Individualität gäbe es vermutlich keine Menschenrechte und keine demokratischen Gesellschaften. Auch wenn das Selbst von einer höheren, religiös-philosophischen Ebene her gesehen vergänglich und illusorisch ist, so darf doch an seiner faktisch-politischen Existenz und seiner gesellschaftlich schützenswerten Rolle kein Zweifel aufkommen. Auf dieser Ebene ist die Existenz eines Selbst anzuerkennen – oder wer möchte ernsthaft für den gesellschaftlichen Rückschritt in eine autoritäre feudalistische Buddhokratie staatlich verordneter „Selbstlosigkeit“ durch absolute Herrscher und hohe Priester plädieren, sei deren Motivation auch noch so wohlwollend? Mit einer Buddhokratie können wir das asiatische Gegenstück zur europäischen Theokratie bezeichnen, also ein Staatswesen, in dem religiöse und weltliche Macht in einer Hand vereint sind. Wie im europäischen Mittelalter vielfach geschehen, so neigt auch in einer solchen Gesellschaft die Religion dazu, zur nicht hinterfragbaren Legitimationsinstanz für alle möglichen Grausamkeiten zu degenerieren.
Neben der Geschichte
von Song-sten Gampo zitiert Mullin noch eine ganze Reihe weiterer Beispiele,
die belegen sollen, dass auch in Tibet die religiösen Oberhäupter
nicht vor der Anwendung von Gewalt und militärischer Macht zurückschreckten,
wenn sie dies zum Schutz des Landes für erforderlich hielten. So habe
der 13. Dalai Lama eine Armee von 10.000 Soldaten entsandt, um den britischen
Vormarsch auf Tibet zu stoppen. 15 Jahre später habe er sogar ein
dreijähriges Yamanataka-Retreat unterbrochen, um eine weitere Invasion
der Engländer abzuwehren. Nach dem mandschurischen Einfall in 1909
habe er vom indischen Exil aus den Untergrundkampf gegen diese Invasoren
organisiert, die schließlich im Jahre 1913 kapitulierten.
Das Muster dieser
Argumentation ist von ergreifender Schlichtheit: In der Welt gibt es nur
die Guten und die Bösen, die Angreifer und die Verteidiger des Landes.
Der Dienst am (buddhistischen) Gemeinwesen erfordert es nun leider manchmal,
im Dienst der guten Sache den Mächten der Finsternis auch mit kraftvollen
Mitteln den Garaus zu machen. Solange solches Tun von liebevollen Absichten
durchdrungen sei, da ist es auch erlaubt, dem Erzschädling einen „drolwa“,
das heißt die „Befreiung durch Tötung“ angedeihen zu lassen.
„Heiliger Krieg“ auch im Buddhismus?
Dass es im tibetischen
Buddhismus nicht nur so etwas wie einen „Dschihad“ gibt, sondern auch eine
ausgeprägte Gegnerschaft zum Islam, zeigt Alexander Berzin in seinen
Beitrag „Holy wars in Buddhism and Islam: the myth of Shambala.“ Berzin
präsentiert in seinem Artikel allerdings keinen Standpunkt, sondern
recherchiert Fakten und Quellen, vergleicht und analysiert Aussagen und
Standpunkte. Nicht nur der Islam mit dem Dschihad und das Christentum mit
seinen Kreuzzügen, ja, auch der Buddhismus – zumindest der tibetische
– füge im Kalachakra-Tantra dem spirituellen Kampf gegen die negativen
Kräfte und Einstellungen des Geistes ebenso eine nach außen
gerichtete Dimension hinzu. Bereits 800 Jahre vor seinem Erscheinen auf
der Weltbühne sei im Kalachakra-Tantra die Entstehung und Ausbreitung
des Islam vorhergesagt worden:
„ ... in 176 v.
Chr. versammelte König Manjushri Yashas die religiösen Führer
von Shambala, um Prophezeiungen und Warnungen (...) vor einer nicht-indischen
Religion auszusprechen, die in 624 nach Chr. in Mekka entstehen wird (...)
Die Gründung des Islam im Jahre 622, zwei Jahre vor der im Kalachakra
vorausgesagten Zeit, wird von den meisten Gelehrten als diese nicht-indische
Religion identifiziert. Andere Beschreibungen dieser Religion in den Kalachakra-Texten
unterstützen diese Schlussfolgerung und verweisen auf das Schlachten
von Tieren, während der Name ihres Gottes rezitiert wird, das Umkreisen
(heiliger Objekte), verschleierte Frauen und fünfmal tägliche
Gebete mit dem Haupt in Richtung des Heiligen Landes (...) Der erste Kalki
sagte ferner voraus, dass Indien eines Tages von den von Anhängern
dieser nicht-indischen Religion beherrscht werden wird. Doch im Jahr 2424
(nach Chr.) wird ein König von Dehli aus die Eroberung Shambalas in
Angriff nehmen. Randrachakrin, der 25. Kalki, wird dann in Indien einmarschieren
und den Nicht-Indern in einem großen Krieg eine Niederlage bereiten.
Sein Sieg wird das Ende des Kali Yuga einleiten, des Zeitalters, in dem
der Dharma degenerierte; und ein goldenes Zeitalter wird folgen, in dem
die Lehren zur Blüte gelangen, insbesondere die Kalachakra-Lehre.“
(S.20).
Gegen den Ansturm
der nicht-indischen Mächte des Hasses und des Bösen sei es erlaubt
auch mit gewaltsamen Mitteln zu kämpfen, solange die Grundlagen des
Mitgefühls und Achtsamkeit bewahrt würden:
„Die Prophezeiung
war somit, dass destruktive Kräfte, die der spirituellen Praxis abträglich
sind – nicht jedoch eine spezifizierte moslemische Streitmacht – in Zukunft
angreifen werden und ein nach außen geführter ‚Heiliger Krieg’
notwendig werden wird. Die darin implizierte Aussage lautet, dass, falls
friedliche Methoden scheitern und man in den Heiligen Krieg ziehen muss,
dieser Kampf auf den Prinzipien von Mitgefühl und tiefen Bewusstseins
für die Wirklichkeit gegründet sein soll.“ (S.22).
Es soll an dieser Stelle noch einmal darauf hingewiesen werden, dass auch im Islam mit dem Dschihad keinesfalls in erster Linie ein Kampf gegen äußere Mächte gemeint ist. Die eigentliche Bedeutung von Dschihad ist der innere Kampf im Ertragen von Leid und Entbehrungen, etwa im Fastenmonat Ramadan. Auch die Unterstützung der eigenen Familie durch ehrliche Arbeit, der mühevolle Erwerb von Wissen und das aufopferungsvolle Geben an Arme und Bedürftige sowie der Kampf gegen die Mächte im eigenen Innern werden als Aktivitäten mit dem Begriff Dschihad beschrieben. Der militärische Kampf gegen einen äußeren, islamfeindlichen Aggressor, ist nur eine Dimension des Dschihad; und es gibt auch Mosleme, die bestreiten, dass eine solche Auslegung überhaupt dem Geist des Koran entspricht.
„ ... Buddhistische und islamische Lehren kennen heilige Kriege. In beiden Religionen wurde missbräuchlich zu äußeren Kampfhandlungen aufgerufen, als destruktive Kräfte die Ausübung der religiösen Praxis bedrohten. Ohne Missbräuche zu leugnen oder in ihnen zu schwelgen, sollten wir uns in beiden Glauben eher inspirieren lassen von der Konzentration auf den Nutzen, einen inneren heiligen Krieg zu entfachen.“ (S.22).
Im Stechschritt um die Stupa
Der „Kriegerbuddhismus“ à la Shambala hat auch unter jungen Amerikanern eine ganze Schar von Anhängern gefunden. Mark Thorpe hatte schon immer eine Schwäche für alles Militärische: „Ich mochte den Drill, die Uniformen und die damit verbundene Disziplin, aber wenn es nicht auf Sanftmut und grundlegender Güte aufbaute, sah ich keine Perspektive, mich einzubringen.“ (S.31) In „An engaged military“ beschreibt er seine Begegnung mit dem bekannten tibetischen Meister Chogyam Trungpa, der seine Leidenschaft fürs Militärische offensichtlich teilte: „Er empfand großen Respekt und Wertschätzung für westliche Dinge, insbesondere in militärischen Ritualen sah er potentiell geschickte Mittel, um das Beschützer-Prinzip umzusetzen und sich praktisch in der Welt zu engagieren.“ (S.30).
Mit der „Kasung-Praxis“, die sich auf die Schutzgottheit Mahakala bezieht, sollen „Güte und Furchtlosigkeit“ sowie das „Männliche und das Weibliche“ zusammengebracht werden (siehe S.2). Für Mark Thorpe bietet diese Praxis die Möglichkeit, sich in einer ihm angenehmen Form dem Dharma zu widmen und gleichzeitig seine militärische Passion weiter pflegen zu können. Militärische Dinge, verkündet er, „ ... sind neutral und können sowohl in guter wie auch in schlechter Weise genutzt werden, obgleich wir üblicherweise das ‚Militärische’ als aggressiv wahrnehmen. In der westlichen Militärtradition gibt es Beispiele für geschickte Mittel, Disziplin und Geistestraining und in vielen Fällen auch für Humor sowie Wertschätzung für und Hingabe an andere. Diese Elemente sind in keiner Weise inhärent aggressiv. Das Problem mit der westlichen Militärtradition liegt vielmehr in der Sicht dessen, was zu schützen ist – Selbstschutz und Schutz des Meinen, meines Landes, meines Territoriums gegen "andere", die als Nicht-Ich wahrgenommen werden ...“
So ist der Krieger
in der Shambala-Tradition nach Thorpe jemand, der Krieg und Aggression
überwindet, im Unterschied zum verbreiteten Bild eines Kriegers, der
sich insbesondere in Kriegshandlungen hervortut.
Ein Foto belegt,
wie Kasung praktisch aussieht: Ein Gruppe junger Männer in Khakiuniformen
und sportlichen Baretten exerziert in geschlossener Marschformation vor
der Dharmakaya Stupa; rechts und links treiben „Unteroffiziere“ mit gelben
und schwarzen Schulterkordeln den Zug an. Daneben ein paar große
Zelte und zwei Masten, von denen Fahnen schlaff herabhängen. Ein Bild,
als ob US-Marines in Tibet einmarschieren.
Ein Lama schreibt an den amerikanischen Präsidenten
Der renommierte Lama Zopa Rinpoche hat kürzlich einen offenen Brief an den amerikanischen Präsidenten geschrieben, in dem er für „spirituelle Lösungen“ plädiert, um die „gegenwärtige Weltkrise“ durch Gebete und Ritualpraktiken tibetisch-buddhistischer Prägung zu lösen. Doch bereits den ersten Satz in seinem „Open Letter to a President“ beginnt er nicht etwa mit einer Kritik am Krieg in Afghanistan, sondern mit Unterstellungen und Forderungen an die Kriegsgegner:„Seitdem der Krieg erklärt wurde, sind eine Reihe von Menschen am protestieren und fordern lautstark Frieden. Aber wenn das, was diese Leute wirklich wollen, der Frieden ist, dann sollten sie zunächst mit klaren und praktischen Ideen kommen, wie die terroristischen Angriffe auf die USA und andere Länder gestoppt werden sollen. Andererseits schreit ihr nach Frieden während die Vereinigten Staaten vollständig von Terroristen zerstört werden?“ (S.36).
Um die Auslöschung
der USA geht es ja nun nicht gleich, aber wie sehen denn die „praktischen
Ideen“ von Lama Zopa aus? Ein breitgefächertes Angebot von Gebeten,
Ritualen und Rezitationen aus der tibetischen-buddhistischen Tradition
„könnte ein Schritt einer spirituellen Lösung“ sein:
„Der Buddhismus
– und insbesondere der tibetische Buddhismus – verfügt über so
viele Methoden, um den fühlenden Wesen zu Frieden und Glück zu
verhelfen. Falls die Regierung an der Möglichkeit interessiert ist,
spirituelle Methoden einzusetzen, um die gegenwärtigen Probleme zu
lösen, so wäre es erforderlich, sich mit den spirituellen Häuptern
jeder der verschiedenen Traditionen zusammenzusetzen. Danach könnten
dann entsprechende Praktiken für ein paar Monate oder ein Jahr ausgeführt
werden, um Wirkungen zu erzielen.“ (S.36).
Gebete und Rezitationen für den Frieden sind sicherlich eine gute Sache, doch warum braucht man dafür einen Regierungsauftrag?
Wenn es nicht auf diese Weise geht, so hat Lama Zopa noch einen anderen Vorschlag parat, dann bliebe als weitere „Lösung“ eben der Krieg, natürlich ein Krieg besonderer Art:„Eine andere Lösung wäre ein Krieg ohne Hass, etwas das als grausam erscheint, sich aber tatsächlich als positiv erweist. (...) Der Buddhismus basiert auf dem Nicht-Verletzen und der Hilfe für andere Wesen. Wenn jedoch ein böses Individuum sich selbst und im großen Maßstab anderen und der Welt schadet, dann sind im Mahayana-Buddhismus große Heilige, genannt Bodhisattvas, durch ihr unerschöpfliches Mitgefühl qualifiziert, diesem Wesen das Leben zu nehmen (...) Sie tun dies, um diesem Wesen zu helfen, indem sie es davon abhalten, sich weiterhin in unheilsame Taten zu verstricken und ebenso für den Frieden und das Glück anderer.“ (S. 37f).
Ist das wirklich
ernst gemeint und zur Lösung eines konkreten Konflikts gedacht? Wer
einen Krieg ohne Hass ernsthaft vorschlägt, muss sich fragen lassen,
wer ihn denn führen wird: Wo und wer sind die großen Bodhisattvas,
die Kraft ihrer heiligen Lebenswandels zum Töten der Erzbösewichte
qualifiziert sind. Werden die Bodhisattvas die Bombenflugzeuge steuern
und die Zielbahnen der Raketen berechnen? Sollen die gemeinen Soldaten
erst durch spirituelle Würdenträger qualifiziert werden und ein
buddhistisches Motivationstraining durchlaufen, bevor sie ins Feld rücken?
Und weiter: Was wird bei einem solchen Krieg eigentlich anders sein, außer
der „reinen Motivation“ der vermeintlich Edlen – wer ist für die
„Kollateralschäden“
und den Tod und die Leiden Unschuldiger und Unbeteiligter verantwortlich?
Was hinter Lama Zopas ohne Zweifel wohlmeinenden, „spirituellen Lösungen“ leider durchschimmert, ist die Tradition einer vormodernen, feudalistischen Buddhokratie, in der Staat und Religion unentwirrbar miteinander verflochten sind. In einer solchen Gesellschaft ist das Zelebrieren von Ritualen und Absingen von Mantras im Regierungsauftrag und zur Erlangung praktischer Zwecke eine übliche Praxis. Dort fragt kaum jemand nach der Rationalität von Mittel und Zweck. In modernen Gesellschaften hat das Anpreisen von Magie und Ritual als probaten Mitteln zur Lösung praktischer Probleme für die allermeisten Leute jedoch eher den grotesken Geschmack einer Hokus-Pokus-Veranstaltung, selbst wenn es sich um buddhistische Sutren handelt. Die Moderne hat die Wissenschaft von der Welt der Religion geschieden. Gegen diese Trennung ist zurecht vorgebracht worden, dass sie die Welt in Teilrationalitäten zerlege. Die Wissenschaft kennt nur noch Mittel und Zwecke und fragt nicht nach Sinn und Ziel. So gerät die ethische Verantwortung für das eigene Leben in die Hände mächtiger Institutionen. Aber das ist nur die eine Seite dieser Entwicklung. Durch die Trennung der Sphären von Religion und wissenschaftlicher Wahrheit wurde auf der anderen Seite der Zweifel und die Überprüfung von Aussagen anhand von Fakten und Tatsachen zum Prüfstein und zur dynamischen Triebkraft der Gesellschaft. Magie und Ritual können diesen Prüfstein nicht überwinden, was nicht heißt, das sie wirkungslos wären; sie können sich jedoch nicht auf die allgemein akzeptierten Kriterien von Rationalität und empirischer Überprüfbarkeit stützen. Ansonsten könnte mit gleichem Recht auch jede andere religiöse und weltanschauliche Gruppe, von christlichen Gemeinschaften über friedliebende Muslime bis hin zu Esoterikern aller Schattierungen, solche staatlichen Mittel und Aufträge einfordern. Somit ist es ein zu Recht aussichtsloses Unterfangen, die Regierung eines demokratischen Landes für ein solches Projekt gewinnen zu wollen. Anhänger des tibetischen Buddhismus begehen sicherlich kein Sakrileg, wenn sie einem geistigen Lehrer in politischen Fragen die Gefolgschaft verweigern. Spirituelles Vertrauen ist nicht blind und sollte die Kritik an politischen Torheiten nicht ausschließen.
Die Beiträge des engagierten Buddhismus
Buddhistisches Engagement für Frieden und Gewaltlosigkeit muss nicht mit Ratlosigkeit und Konfusion in praktisch-politischen Fragen einhergehen. Dies belegt insbesondere der Beitrag „Embracing anger“ von Thich Nhat Hanh in der gleichen Ausgabe von MANDALA. Sein grundlegender Rat ist: Handelt nicht aus Emotionen von Wut und Hass heraus. Achtsames Atmen und achtsames Gehen klären unseren Geist und führen uns zu bewusstem Handeln. Thich Nhat Hanh kennt das Leid des Krieges auf der Seite der Opfer wie auch der Täter. Durch sein Leben in Vietnam und später in den USA kam er schließlich zu tiefen Einsichten in die Natur von Krieg und Gewalt:
„Ich war imstande zu sehen, dass der wirkliche Feind des Menschen nicht der Mensch ist. Der wirkliche Feind ist unsere Unwissenheit, unsere Art des Urteilens, ist Furcht, Verlangen und Gewalt (...) Durch den Buddhismus kennen wir die Praxis des echten Zuhörens, des anteilnehmenden Zuhörens; eine wunderbare Methode, um Kommunikation herzustellen – Kommunikation zwischen Partnern, zwischen Vätern und Söhnen, zwischen Müttern und Töchtern, Kommunikation auch zwischen Nationen, um das Leiden der anderen zu verstehen.“ (S.17)
Thich Nhat Nanh berichtet, wie er mit einem solchen Training der Achtsamkeit Palästinenser und Israelis zu einer gemeinsam Praxis in seinem Zentrum in Plum Village in Südfrankreich brachte und wie sie sich daraufhin gemeinsam bemühten, diesen Samen der Achtsamkeit in ihrer von Gewalt überzogenen Heimat keimen zu lassen.
David L. Roy, ein profilierter buddhistischer Denker aus den USA hatte bereits in einem Beitrag, der im Herbst letzten Jahres im BUDDHA-NETZ-INFO (Nr. 17 – Winter 2001/02) erschien, vor einem neuen „Heiligen Krieg gegen das Böse“ gewarnt und dabei auch nicht auf eine politische Kritik an den USA verzichtet. Dem alten „Zarathustra-Glauben (...), die Welt als Schlachtfeld eines kosmischen Krieges zwischen Gut und Böse“ (S.14) aufzufassen, setzt er eine differenzierte Sicht der Wirklichkeit gegenüber. Dabei versucht er auch, die Absichten der Terroristen zu ergründen, selbstverständlich ohne sie zu verteidigen.
Verlassen wir das Schwarzweißdenken und sehen wir die Dinge in ihrer Entwicklung und ihren Zusammenhängen, so ist leicht zu erkennen, dass gerade die amerikanische Politik in diesem Konflikt eine äußerst ambivalente Rolle spielt. Wer von Flugzeugträgern aus Granaten in libanesische Dörfer feuert oder Zivilisten, die in einen Bunker in Bagdad Schutz suchten, mit „smart-Bomben“ tötet, wer - wie in Vietnam und Kambodscha - ganze Dörfer mit Napalm niederbrennt und Zivilisten massakriert, Putsche gegen demokratische Regierungen anstiftet (wie in Chile und in anderen lateinamerikanischen Ländern), Israel gegen die Palästinenser aufrüstet, auf der ganzen Welt mit seiner Militärmacht protzt, und dabei die Rechte und Interessen anderer Länder und internationale Abkommen missachtet, wer glaubt einem solchen Land noch, wenn es sich zum Statthalter des Guten auf diesem Planeten erklärt. Erst wenn wir beginnen, die Ursachen für den 11. September auch in Amerika selbst zu suchen, öffnet sich der Horizont des Verstehens als Voraussetzung einer friedlichen und gewaltfreien Konfliktlösung.
„Drolwa“ als letztes Mittel?
Es bleibt die Frage der Anwendung von Gewalt als ultima ratio zur Lösung von Konflikten, nachdem sämtliche Möglichkeiten zur friedlichen Lösung eines Problems gescheitert sind und, in einem hypothetischen Fall, die Nicht-Anwendung von Gewalt unmittelbares Leiden und den Tod von Unschuldigen oder Nicht-Beteiligten zur Folge hätte. Kriegsdienstverweigerer, die früher vor die Tribunale der Kreiswehrersatzämter treten mussten, kennen solche konstruierten Situationen und Fragen wie:
„Nun stellen Sie sich einmal vor, da ist ein Krieg und fünf Russen stürmen ihr Haus, rauben alle Wertgegenstände und wollen gerade beginnen, ihre Mutter und ihre Schwester zu schänden und setzen an, ihren dabeistehenden wehrlosen Vater zu töten. Zufällig steht da nun ein geladenes Gewehr griffbereit neben ihnen. Ist da der Schutz ihrer Familie nicht das oberste Ziel?“
Gibt es eine „buddhistische
Antwort“ auf eine solche Frage? – Vielleicht wäre „drolwa“ die richtige
Antwort. Aber das Problem ist nicht diese konstruierte und hypothetische
Situation, sondern die Absicht, die der verfolgt, der diese Frage stellt.
Antwortete in diesem Fall der Verweigerer mit: „Ja, ich werde natürlich
die Waffe nehmen und meine Familie und mich schützen“, so wurde ihm
entgegnet: „Nichts anderes als die Verteidigung unseres Landes, und auch
der Mütter und Schwestern anderer Familien, ist doch die Aufgabe unserer
Armee. Warum können Sie da nicht Ihren Wehrdienst leisten?“ (Als in
Deutschland solche Fragen an junge Kriegsdienstverweigerer gestellt wurden,
da waren Auslandseinsätze der Bundeswehr noch vom Grundgesetz her
verboten). Wer heute ähnliche Beispiele aus den Jataka-Legenden oder
der tibetischen Geschichte hervorkramt, sollte sich zunächst einmal
überlegen, welche konkrete Gegenwartshandlung er denn damit illustrieren
will oder zu rechtfertigen beabsichtigt. Im Westen behauptet heute zudem
kaum jemand, irgendeinen Krieg aus Hass auf den Gegner heraus zu führen.
Auch die US-Regierung wird nicht müde zu verkünden, dass der
Schutz ihrer und der Bürger anderer Länder der einzige Zweck
ihres
„Krieges gegen den
Terror“ sei.
Vor ein paar Jahren war ich auf einer internationalen buddhistischen Konferenz in Kanchanaburi, einer Provinz in Thailand. Von Bangkok fuhren wir mehrere Stunden mit einem gemieteten Bus vorbei an Reisfeldern und Kautschukplantagen. Mittags machten wir Rast in einem Kloster, dessen Mönche für vielfältige soziale und engagierte Aktivitäten in ganz Thailand bekannt sind. Der Abt wurde aufgrund seines Engagements vor einigen Jahren aus der offiziellen Sangha ausgeschlossen. Das Kloster sorgt selbst für seinen Unterhalt durch den Anbau von Obst und Gemüse. Auf Stroh werden Pilze gezüchtet. Ca. 20 Westler lauschten nach einem gemeinsam Essen dem Abt, der seine Vorstellungen eines Buddhismus mit ausgeprägtem sozialen Engagement vortrug. Einer der Zuhörer, ein junger Amerikaner, hatte dem Vortrag schon eine ganze Zeit mit etwas kritischem Blick gelauscht, und als die Zeit zum Fragen stellen gekommen war, meldete er sich als erster zu Wort. Das Kloster sei ja in vielfältige Graswurzel- und Friedensaktivitäten involviert, und das sei auch gut so, aber Krieg sei ja nur möglich, wenn da eine Armee mit Soldaten bereitsteht, die ausgebildet ist, ihn wirklich zu führen. Daher wolle er wissen, warum der Abt denn nicht konsequenterweise zur Verweigerung des Militärdienstes beim Thai-Militär aufrufe.
Den asiatischen Teilnehmern stockte der Atem. Solche Fragen durfte man hier nicht stellen und schon gar nicht beantworten. König und Militär sind in Thailand heilige Kühe. Und der Abt wäre nicht der erste Buddhist gewesen, der wegen „Majestätsbeleidigung“ für mehrere Jahre im Gefängnis gelandet wäre, wenn er Zweifel an seiner Staatstreue hätte aufgekommen lassen. Er blieb jedoch ganz ruhig und antwortete einfach und klar: „Du sollst kein anderes Wesen töten, das ist ein Grundsatz des Dharma, befolge ihn immer und unter allen Umständen.“ Doch der Amerikaner war mit der Antwort nicht zufrieden und bohrte weiter: „Wenn ich mich dem Militärdienst entziehe und am Krieg nicht teilnehme, dann verweigere ich dem Staat und den militärischen Vorgesetzten den Gehorsam; töte ich hingegen, so übertrete ich die Gebote des Dharma. Was soll ich also tun?“ Der Abt wiederholte jedoch lediglich seine erste Antwort und fügte hinzu: „Du wirst in jeder Situation einen Weg finden, die Gebote des Buddha zu befolgen.“ Der junge Amerikaner aber war noch immer nicht zufrieden und bohrte trotzig und hartnäckig weiter. Der Abt antwortete nicht. Nicht verstehend, dass dessen Schweigen die Antwort war, fuhr der Amerikaner fort Situationen zu konstruieren und philosophierte über Prinzipien letzten Handelns, die sich auch in der Extremsituation eines Krieges bewähren müssen. Der Abt schwieg zunächst längere Zeit, dann antwortete er in wenigen kurzen Sätzen: „Im Samsara gibt es immer Krieg und Gewalt. Du selbst bist für dein Handeln und seine Folgen verantwortlich. So wie du das Leben liebst und es nicht verlieren willst, so sollst du es auch keinem anderen nehmen. Das ist es, was der Buddha lehrte.“
Alle englischen Zitate
wurden vom Verfasser ins Deutsche übertragen.