Die vier edlen Wahrheiten der modernen Gesellschaft
von Santikaro Bhikkhu 
Dieser Vortrag wurde gehalten auf der INEB-Konferenz "Dhammagemäße Gesellschaft - das Internationale Netzwerk Engagierter Buddhisten entdeckt seine Aufgabe" (Dhammic Society: Towards an INEB Vision). Sie fand im Frühjahr 1995 in einem thailändischen Kloster statt. Wir veröffentlichen einen Auszug.
Die deutsche Fassung erschien erstmals in dem Buch: „Wege zu einer gerechten Gesellschaft, Beiträge engagierter Buddhisten zu einer internationalen Debatte.“ Evangelisches Missionswerk in Deutschland, Hamburg 1996.

 

"Gier" (lobha): Kapitalismus und die Ideologie des Konsums

Wir wollen nun die Gier betrachten. Wo sie in einer sozialen Struktur verankert ist, endet das in etwa beim Kapitalismus. Namhafte Vertreter der Kapitalismustheorie behaupten ganz unverfroren, Gier sei gut und notwendig. Damit ist Kapitalismus lediglich eine andere Bezeichnung für institutionalisierte, in Strukturen gegossene Gier. Wenn uns als Kindern die kapitalistische Lebensweise beigebracht wird, dann lernen wir, habsüchtig und ehrgeizig zu sein, also selbstsüchtig. Daraus folgt, dass die Gier, die sich normalerweise in jedem Menschen entwickelt, durch das Gefüge der uns umgebenden Gier verstärkt wird. Dadurch wird das Problem im Persönlichen und Gesellschaftlichen noch hartnäckiger. Das gilt weltweit, seitdem jetzt der Kapitalismus das herrschende wirtschaftliche System geworden ist.

Der moderne Kapitalismus, insbesondere seit dem Zweiten Weltkrieg und der "Entwicklungsära", hat die systemische Gier noch einen Schritt vorangetrieben und damit die Ideologie des Konsums, den Konsumismus erzeugt. Hier wird die Rolle des privaten Eigentums noch gewichtiger. Während eine winzige Elite ihren Zugriff auf das Kapital einer Gesellschaft und die Produktionsmittel behauptet, wird die Mehrheit durch diese Struktur der Gier zu zwanghafter Anhäufung von "Gütern" (sind sie denn gut?) verleitet, im Trachten nach "sinnlichem Vergnügen" (kama) und Sicherheit. Weil sie so viel Plunder besitzen dürfen, merken sie gar nicht, dass jemand anderem die Gesellschaft gehört. Es kommt sogar oft vor, dass sie selber der Besitz von jemandem sind.
Der Tourismus schließlich verkauft Kulturen, Künste, Speisen, die Umwelt und Menschen in der ganzen Welt als Gebrauchsgüter für den Konsum. All dies sind nicht mehr Ressourcen, allen zugänglich für Wohlergehen, Verständnis, Zusammenhalt, Glück und Frieden, sondern es wird aufgekauft, zerstückelt und vermarktet. Den Ortsansässigen wird nicht einmal zugetraut, dass sie solche wichtigen Ressourcen verwalten können. Sie läßt man lediglich die Wäsche waschen, servieren, Taxi fahren und "Kultur-Shows" nach dem Geschmack der Tourismuskonsumenten vortragen.

In einem solchen System genügt es nicht, wenn einzelne Buddhisten die Ausmerzung der Gier für sich persönlich anstreben. Wir müssen gemeinsam daran arbeiten, die Struktur der Gier in ein System der "Nicht-Gier" (alobha) umzuwandeln. Es ist durchaus möglich, dass ein paar herausragende Einzelne die Gier in sich selber ausschalten können. Sie würden jedoch auch weiterhin an einer Gesellschaft teilhaben und von ihr abhängen, die strukturell voller Gier ist. Wir anderen aber, die wir keine spirituellen Superstars sind, werden von der uns umgebenden Gier gerüttelt, verhext und manipuliert. Es wird uns sehr schwer fallen, das auszuschalten. Wir müssen es natürlich versuchen, aber wir könnten uns auch dafür einsetzen, uns selber, unseren Freunden und späteren Generationen diese Schwierigkeiten zu ersparen.

"Ärger" (kodha): Militarismus und Ungerechtigkeit

Als nächste Befleckung möchte ich den Ärger nennen. Das Wort "Ärger" hat viele Synonyme - Abneigung, Wut, böser Wille, Zorn, was seine weitverbreitete Gebräuchlichkeit bestätigt. Wenn wir ärgerlich sind, möchten wir ausschlagen, verletzen, zerstören oder töten, ob es sich nun um einen Moskito, einen Rabauken in unserer Klasse oder um Leute in der Gesellschaft handelt, die wir nicht mögen. Unser Ärger zeigt sich immer dann, wenn wir uns gegen das "andere" wenden und beschließen, dass wir "sie" nicht mögen, weil sie anders sind, weil sie etwas haben, das wir auch haben wollen, oder wenn wir Spaß an der Erregung und dem Reiz des Ärgers haben.

Gesellschaftlich gesehen hat Ärger die strukturelle Form von Militarismus, als da sind: Armeen, Geheimdienste, ungeheure Waffenindustrien, Spionagesatelliten,

Atomkraft (niemals für Frieden), zentralisierte Infrastrukturen und nationale Sicherheitsapparate der modernen Nationalstaaten. Wir schaffen diese Institutionen und Technologien unter dem Vorwand, uns vor "anderen" zu schützen. Sie werden jedoch viel häufiger im Angriff eingesetzt und sind oft durch Ärger motiviert. In der Mehrzahl der Länder werden sie gerade gegen die Bürger eingesetzt, die sie zu "beschützen" vorgeben. "Wir kennen viele Technologien, können unglaubliche Dinge im Weltraum tun, können Atome spalten und haben vielfältiges akademisches Wissen aufgehäuft. Aber was tun wir damit? Wir benutzen das alles nur, um die Vorteile und Interessen der Befleckung zu nutzen und voranzutreiben. Das wird uns deutlich an den Leuten, deren ganzes Bestreben es ist, die Welt zu beherrschen."

Natürlich wissen wir, dass die Struktur des Militarismus historisch eng verknüpft ist mit wirtschaftlichen Interessen und in der modernen Welt mit dem Kapitalismus und mit den meisten modernen Strukturen der Politik, ob nun links oder rechts. Dieser Militarismus - national, regional (zum Beispiel NATO) und global - ist eine einzige Darstellung strukturellen Ärgers.

Struktureller Ärger taucht auch in unseren sogenannten "Gerechtigkeitssystemen" auf, die von vielen Ländern zur Kontrolle benutzt werden. Strafe trifft diejenigen, die keine Macht haben. In vielen Fällen sind die Bestraften die Armen, die Minderheiten und die Frauen. Wenn zum Beispiel in den Vereinigten Staaten ein Mann seine Frau tötet, kommt er oft innerhalb von fünf Jahren aus dem Gefängnis. Falls aber eine Frau ihren Mann tötet, selbst wenn er sie jahrelang brutal geschlagen hat, kommt sie für 20 Jahre ins Gefängnis und hat kaum eine Chance auf Bewährung. Dies müsste man eher "Ungerech-tigkeitssystem" nennen. Obwohl es in den letzten Jahrhunderten zumindest für einige Länder Fortschritte gegeben hat, beispielsweise durch Bewegungen für Menschenrechte und von Ureinwohnern, bleiben Ungerechtigkeiten weiterhin bestehen. Sie sind entweder sehr raffiniert in sogenannten "Demokratien" verankert oder in die "Entwicklungsländer" exportiert worden. Solange "Gerechtigkeit" auf dem Gedanken von Bestrafung beruht - sprich Rache - wird sie eine Struktur des Ärgers bleiben.

"Hass" (dosa): Rassismus, Klassendenken und Ausschlusspolitik

Hass ist ein weiteres negatives Gefühl, eine tiefempfundene, angeborene Abneigung gegen jemand oder etwas. Durch Anhaften am Selbst - das wir als gut, ehrlich, schön usw. voraussetzen - projizieren wir das Böse auf den anderen, und daraus wird Hass. Eine strukturelle Form von Hass ist Rassismus, der sich in einem Großteil der reichen westlichen Welt wieder erhebt und es fraglich erscheinen läßt, ob diese Länder so "entwickelt" sind, wie sie zu sein vorgeben. Rassismus zeigt sich in weitverbreiteten Vorurteilen gegen den Islam, in der Furcht vor einer wirtschaftlichen Vorherrschaft Asiens, in der Verschiffung von Giftmüll nach Afrika und in der Überzeugung, dass westliche Regierungen besser wissen, wie die Artenvielfalt in den Ländern der Dritten Welt erhalten werden kann.

Auch Klassendenken, in den meisten Kulturen und Hierarchien verwurzelt, ist eine Form von strukturellem Hass. Nicht nur in ihren krassen Formen wie der Apartheid und dem Kastensystem, sondern in allen Gesellschaften, einschließlich der hierarchischen, autoritären Gesellschaften  Asiens, erzeugen Klassenunterschiede Hass und Vorurteile zwischen Gruppen innerhalb der Gesellschaft. Eine ähnliche Erscheinung ist das religiöse Sektierertum. Indem wir uns mit einer Religion identifizieren, mit einer bestimmten Gemeinschaft oder Sekte innerhalb einer Religion, wenden wir unseren Hass und unsere Abneigung gegen andere Religionen oder religiöse Gruppen. Das dient häufig den Interessen des Kapitalismus und anderen Formen der Befleckung. Ein Beispiel ist unser Vorurteil, aufgrund dessen wir beschließen, dass Urbevölkerungen nicht wirklich menschlich sind, weil sie nicht so zivilisiert sind wie wir. Und daher haben wir das Recht, ihr Land zu beschlagnahmen, ihre Gewässer zu verschmutzen, ihre Töchter und Söhne zu Prostituierten zu machen.

Schließlich ist auch die Politik der Ausgrenzung eine strukturelle Form des Hasses. Wo immer kleine Gruppen andere von der Macht ausschließen, nämlich von dem Recht, über ihren Lebensweg zu entscheiden, da wird Gewalt ausgeübt und ist Hass am Werk. Offensichtlich besteht keine der hier aufgeführten Strukturen unabhängig von den anderen. Wir haben eine bedingte Welt, und diese verschiedenen Strukturen der Befleckung und Selbstsucht verstärken sich gegenseitig.

"Verblendung" (moha): Bildung und Medien

Verblendung (moha) heißt, die Dinge so zu sehen, wie sie nicht sind, also in Verkennung dessen, was wirklich ist - Schlimmes für gut zu halten und Gutes für schlimm. Täuschung ist heute bereits in unseren Bildungssystemen verankert. Ajahn Buddhadasa nennt das eine "Erziehung für Stummelschwanzhunde". "Es kümmert niemanden, dass Studenten überhaupt nichts über Ethik oder Dhamma lernen, obwohl dies notwendig zur Menschwerdung wäre." Ich kenne keinen Ort in der Welt, wo eine gewöhnliche Bildung zu Einsicht beiträgt, also Kindern, Erwachsenen und auch alten Menschen hilft, den wichtigen Fragen des Lebens zu begegnen und damit zurechtzukommen. Wir stehen vielmehr Multiple-Choice-Fragen gegenüber und müssen, anstatt die richtige Antwort zu finden, die "beste" aus den vorgegebenen unsinnigen Antworten auswählen.
Einsicht ereignet sich nicht in Grundschulen, weiterführenden Schulen oder Universitäten. Es mag ehrlichen Geist der Wahrheitssuche in einigen wenigen Schulen geben. Aber das sind die Ausnahmen, die die Regel bestätigen, da das nicht der Zweck unserer Bildungssysteme ist. Diese dienen hauptsächlich dem Ziel, uns mit den hier besprochenen "Ismen" zu durchdringen: Kapitalismus, Konsumismus, Individualismus, Rassismus, Militarismus. Um uns bei der Stange zu halten, wird eine gehörige Portion Angst verwendet. Bildung ist in dem Maße erfolgreich, wie Menschen willig den beschriebenen gesellschaftlichen Strukturen dienen. Höchst selten gibt es sinnvolle, ehrliche, offene Wahrheitssuche über die Sachverhalte dieser Strukturen. Müssten wir das nicht "Strukturen der Miss-Bildung" nennen? Wie erbärmlich ist es, wenn ein Hund nicht einmal einen Schwanz zum Wedeln hat.

"Verblendung" (moha) durchdringt unter dem Mantel von Information die Medien. In Wirklichkeit werden wir mit einer Menge Pseudoinformation überflutet. Wir erfahren nicht die wichtigen Einzelheiten, sondern nur die oberflächlichen, die ein Spektakel erzeugen, um uns zu kitzeln, aufzureizen, zu erregen und uns letztendlich von der Wahrheit abzulenken. Wir erfahren nie die wirklichen Fakten.

In den letzten drei Jahren haben Thai-Zeitungen willig den korrupten Interessen in der Regierung, im Militär und gewissermaßen einer Geschäftsmafia gedient, um den Ruf zweier unserer besten Naturschützer-Mönche zu zerstören: Phra Pongsak Dejadhammo und Phra Prachak Kuttacitto. Durch Korruption bis hinein in die "Mönchsgemeinschaft" (sangha) wurden beide gezwungen, die Mönchsrobe abzulegen. Wir werden mit dem Spektakel politischer Kampagnen unterhalten, die die Illusion nähren, die Politiker seien wirklich diejenigen, die alles unter Kontrolle haben. Die Medien enthüllen uns nie, wer eigentlich bestimmt, was wir sehen und lesen, oder wer die Politiker ihrerseits kontrolliert. Diese Dinge werden nie hinterfragt oder überprüft.

Wir sehen also, dass sich die Verblendungen aus den Medien und den Miss-Bildungssystemen in gesellschaftliche Strukturen verwandeln. Darin wiederum wirken sich die Befleckungen der Langeweile und der Aufreizung aus, besonders in bezug auf die Medien, und tragen dazu bei, das Spektakel, die Ablenkung und die Verblendung aufrecht zu erhalten.

Ein Gewirr von "Ismen"

Wir haben bisher einige der vorherrschenden Strukturen der Selbstsucht erörtert. Wenn die Liste auch nicht vollständig ist, zeigt sie doch unseren Ansatz. Wir sollten nunmehr klar erkennen können, dass diese Strukturen einerseits in den persönlichen Befleckungen wurzeln, die in jedem Individuum auftreten - Gier, Sinneslust, Ärger, Hass, Einbildung, Konkurrenz, Verblendung, Angst, Sorge, Langeweile, Aufregung. Gleichzeitig beeinflussen gerade diese starken Strukturen der Selbstsucht und Befleckung den einzelnen mit großer Heftigkeit und machen es um so leichter - was manche sogar notwendig finden - gierig zu sein, ärgerlich, ängstlich zu sein.

Es gibt eine Wechselwirkung und Triebkraft, eine Bedingtheit, zwischen diesen Strukturen der Befleckung in jedem von uns und den Strukturen der Selbstsucht und der Befleckung in der Gesellschaft. Das böte eine Möglichkeit, die Ursachen für gesellschaftliches "Leiden" (dukkha) zu untersuchen. Dieser Ansatz leugnet nicht die Wirksamkeit bestimmter wirtschaftlicher, politischer, geschlechtsbezogener und ökologischer Analysen. Wir versuchen lediglich, sie aus einem spirituellen und ethischen Blickwinkel zu betrachten. Wir können diesen Ansatz dann mit entsprechenden Analysen verknüpfen, die sich auf Wirtschaft, Politik, Feminismus beziehen und dadurch viele Einzelheiten und Mechanismen ergänzen.

Unwissenheit: Die eigentliche Ursache

Um diese Analyse ein wenig gründlicher zu gestalten, sollten wir herausfinden, was der Buddhismus als die eigentliche Ursache von "Leiden" betrachtet. Könnte das auch die eigentliche Ursache unseres gemeinsamen sozialen "Leidens" sein? Die Grundursache all dieser Strukturen der "Befleckung" (kilesa) ist "Unwissen-heit": wir sehen die Dinge nicht so, wie sie wirklich sind.

Eine der häufigsten Formen von Unwissenheit heutzutage kann "Pseudowissenschaft" oder "Wissen-schaftlichkeit" genannt werden. Da wird vorgetäuscht, die Wirklichkeit von Dingen zu untersuchen, und dabei werden die wichtigen Teile der Realität außer acht gelassen. Pseudowissenschaft ist ein reduktionistischer Vorgang. Sie zerbricht Dinge in ihre Einzelteile und unterstellt, dass Dinge nichts weiter sind als die Summe ihrer Teile. Dabei läßt die Pseudowissenschaft die ganzheitliche, eine Gesamtheit darstellende Natur der Dinge unbeachtet. Sie ist besessen von materiellen Phänomenen und Ursachen und übersieht dabei die geistigen, ethischen, spirituellen und wertbezogenen Phänomene in den Ursachen sozialer Probleme. Außerdem haben die mechanistischen Tendenzen der Pseudowissenschaft - der blinde Glaube an Fortschritt, Evolution und positive Entwicklung, die Annahme, dass der Beobachter von dem beobachteten Objekt abgesondert ist, und damit die Wirklichkeit subjektiviert und objektiviert wird - hat alles dies zusammengenommen die Wissenschaft in Pseudowissenschaft verwandelt.

Um das anders auszudrücken, entsprechend der traditionellen Erklärung des Buddha für Unwissenheit, gesellschaftliche Unwissenheit zeigt sich vierfach:

Der erste Aspekt ist der, dass wir unsere sozialen Probleme nicht kennen.

Zweitens verstehen wir die Ursachen und Gründe für unsere sozialen Probleme nicht. Gewöhnlich hören wir in den Schulen, im Fernsehen und von unseren Politikern nur die oberflächlichsten Analysen, die uns von den wirklichen Gründen, nämlich Kapitalismus, Militarismus, Rassismus und Sexismus, nur ablenken.

Drittens begreift Unwissenheit nichts vom "Auslöschen" des gesellschaftlichen "Leidens", nichts davon, wie die Gesellschaft sein könnte, wenn wir denn diese Strukturen von Selbstsucht ausschalten würden. Dieser Mangel an Vision ist so schlimm, dass wir überhaupt nicht mehr darüber nachdenken. Das gehört nicht mehr zu unserem gesellschaftlichen Diskurs. Wir haben die unwillkürliche Tendenz, jede höhere Vision von Gesellschaft als utopisch oder idealistisch zu verspotten, herabzusetzen und zu verurteilen. Es ist aber notwendig, Ideale zu haben. Sie herabzusetzen bedeutet, uns selber zu niedrigen Maßstäben zu verurteilen. Idealistisch zu sein ist großartig, wenn wir gleichzeitig praktisch sein können. Sobald aber heute etwas als idealistisch oder utopisch abgestempelt ist, wird es verlacht, und das wiederum, um uns von jedwedem höheren Ziel in unserem gemeinsamen Leben abzulenken.

Letztlich und viertens begreift Unwissenheit den Pfad nicht, den wir als Gruppen gemeinsam gehen müssen, als Nicht-Regierungsorganisationen, als Gesamtgesellschaften und als Gattung. Wir lassen den Pfad außer acht, der diese entmenschlichenden und befleckten sozialen Strukturen beseitigen kann, der uns ermöglichen kann, in einer wahrhaft menschlichen Gesellschaft zu leben, die auf Grundsätzen der Weisheit und des Mitgefühls beruht. Unwissenheit versteht nichts von gesellschaftlichem Leiden, seinen Gründen, seinem Ziel und dem Pfad, dem wir zu seiner Beendigung folgen müssen.

Unwissenheit schert sich überhaupt nicht darum. Von Unwissenheit zeugt der Gebrauch der intellektuellen Quellen unserer Gesellschaft - unserer großen Forschungsstätten, der Denkfabriken und Datenbanken, die wir für so ziemlich alles nutzen, außer für die Grundfragen des Lebens und der Gesellschaft. Es ist Unwissenheit, dass unsere Politiker nie auf dieses Dilemma eingehen. Es ist Unwissenheit, dass die führenden Gestalten unserer Religion uns einnebeln mit Trugbildern vom Leben nach dem Tode, um uns vom Erreichen des Nibbana hier und jetzt in dieser Welt abzulenken. Unwissenheit heißt nicht verstehen, sich nicht kümmern, nicht interessiert sein, nicht hinsehen, nicht suchen und gleichzeitig selbstgefällig und zufrieden in den von uns geschaffenen "Existenzzyklen" (samsara) umherzuschweifen.
 

Diese vier Aspekte gesellschaftlicher Unwissenheit können wir nun auch zusammenfassend bezeichnen als nicht wissen, dass wir alle miteinander zusammenhängen, nicht erkennen, dass wir alle voneinander abhängig sind. Wenn wir gegen diese Tatsache, dass wir im Leben "miteinander in Beziehung stehen" (idap-paccayata), blind sind, schaffen wir damit die inneren Ego-Strukturen und die äußeren gesellschaftlichen Strukturen der Selbstsucht. Auf traditionelle Thai-Art ausgedrückt: Unwissenheit heißt zu vergessen oder außer acht zu lassen, dass wir alle Gefährten sind in Geburt, Alter, Krankheit und Tod, kurz Gefährten im "Leiden" (dukkha).
Wenn wir gesellschaftliche Probleme aus dieser Perspektive diskutieren, ist es nicht einfach, die Probleme von ihren Ursachen zu unterscheiden. Alle genannten "Ismen" könnten ebenso gut für die Probleme gehalten werden. Alle hängen zusammen, sind gegenseitig abhängig und bedingen einander. Trotzdem will ich diesen Rahmen aus zweierlei Gründen beibehalten. Indem wir die Ursachen der gesellschaftlichen Missstände in den Strukturen der Befleckung ansiedeln, fällt es uns leichter, die Verflechtung persönlicher und struktureller "Be-fleckung" zu sehen. Wie sie sich ausspielen, sich voneinander nähren und gegenseitig auffressen - das ist die Dynamik, die den Lauf der "Existenzen kreisen" lässt (samsara).

Wenn wir uns hier aber auf Selbstsucht und "Befleckung" konzentrieren, dann verleihen wir außerdem Buddhisten gegenüber der Einstellung gehörigen Nachdruck, dass die Gesellschaftsstrukturen verändert werden müssen. Und letztlich beweisen wir damit allen, dass gesellschaftliche Probleme nicht nur - und nicht einmal hauptsächlich - in Wirtschaft und Politik begründet sind. Sie sind ebenso kulturell, sittlich und spirituell begründet.

Zugegebenermaßen ist diese Analyse ein bloßer Beginn, ich hoffe aber, dass dieser Ansatz zu mindestens dazu beitragen wird, dass

Wir müssen jedoch mit großer Gründlichkeit herangehen und die Methoden immer wieder überprüfen. Die richtigen Ansätze werden aber stets die sein, die dazu helfen, dass die Menschheit von den Strukturen der Unwissenheit, des Ego, der Selbstsucht und von "Leiden" befreit wird.



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