(Franz-Johannes
Litsch hatte sich in dem Vortrag bereits mit den Begriffen Natur und Umwelt
befasst und kommt zum Schluss auf den Begriff Ökologie. Der vollständige
Aufsatz erscheint im nächsten Jahr in der Reihe engagierter Buddhismus,
Band 3„Buddhismus und Ökologie“.)
Es soll damit zum
Ausdruck gebracht werden, dass wir nicht mehr wie in der Vergangenheit
nur die Gegenstände für sich (also losgelöst von ihrer Umgebung)
betrachten wollen, sondern dazu
übergehen,
die Erscheinungen in und aus ihren Beziehungen zueinander zu begreifen,
so dass sich auch unsere Vorstellungen von festen Gegenständen zunehmend
zum Konzept von fließenden, dynamischen Strukturen, Systemen oder
Netzwerken hin verändern (Systemtheorie). Und darüber hinaus,
da wo der Begriff zum Qualitätsmerkmal wird, soll damit gesagt werden,
dass der jeweilige Gegenstand unter Berücksichtigung dieser Wechselwirkungen
und größeren Zusammenhänge konzipiert oder erzeugt wurde.
Auf diese Weise wurde ökologisches Denken heute gar zum Synonym für
Ganzheitlichkeit und globale menschliche Verantwortung.
Interessanterweise
kommen wir - unter all den hier betrachteten Begriffen - mit diesem so
ganz modernen Begriff und Wirklichkeits-Verständnis dem zunächst
ja ganz antiken Buddhismus am nächsten. Ja, hier treffen wir unmittelbar
auf das, was heute allgemein als die Essenz der Lehre des Buddha betrachtet
wird, die Lehre von paticca samuppada, vom "wechselseitig bedingten Entstehen
und Vergehen" aller Erscheinungen.
Diese Lehre ist
für das Verständnis des Buddhismus so grundlegend, dass letztlich
keine einzige Lehraussage wirklich verstanden werden kann, wo diese eine
nicht verstanden wird. Buddha selbst hat darauf ausdrücklich hingewiesen:
"Wahrlich, wer das Bedingte Entstehen kennt, der kennt die Lehre; und wer die Lehre kennt, der kennt das Bedingte Entstehen." (Majjhima-Nikaya 28)
"Wenn das besteht, so entsteht jenes. Durch das Entstehen von jenem wird dies hervorgebracht. Wenn jenes nicht ist, so entsteht auch dies nicht. Durch das Aufhören von jenem wird dieses beendet." (Samyutta Nikaya II 28, 65)
In dieser Einfachheit
und Kürze beschreiben die buddhistischen Grundtexte des Pali-Kanon
die Quintessenz der Erkenntnis Shakyamuni Buddhas über sich selbst
und die Wirklichkeit. Wir finden diese Aussage in den Schriften an zahlreichen
Stellen, in ähnlichen Worten und in den unterschiedlichsten Zusammenhängen.
Die Lehre besagt:
Alles ist durch anderes bedingt. Alles ist von anderem abhängig, wird
durch anderes bestimmt und entsteht und vergeht in Abhängigkeit von
anderem. In anderen Worten: Alles ist mit allem verbunden. Alles steht
mit allem in Wechselbeziehung und Austausch. Alles verdankt seine Existenz
anderer Existenz.
Dies führt zu der Aussage, nichts existiert alleine oder kann alleine existieren. Nichts existiert aus sich und für sich selbst. Nichts entsteht und vergeht aus sich heraus oder für sich allein. Alles was geschieht oder existiert, geschieht und existiert nur innerhalb von Beziehungen.
Insofern jedes einzelne
Phänomen der Wirklichkeit Ergebnis und Ausdruck von Wechselbeziehung
ist, gehen nach buddhistischer Auffassung auch alle kulturellen, gesellschaftlichen,
sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Verhältnisse auf
diesem Planeten Erde aus wechselseitig bedingtem Entstehen hervor. Paticca
samuppada, bedingtem Entstehen verdanken sie ihr Entstehen, ihre Veränderung
und ihr Verschwinden.
Die Gesetzlichkeit,
die unsere Mitwelt prägt, ist somit keine andere als die, die den
Einzelmenschen bestimmt und die ebenso den Prozessen des Bewussteins wie
denen der Gesellschaft, der Natur und der gesamten Wirklichkeit zugrundeliegt.
Die zentrale Bedeutung von paticca samuppada in der buddhistischen Lehre zeigt, dass eine isolierte, individualistische, anthropozentrische Betrachtung des Menschen für den Buddhismus nicht möglich ist. Wenn der Buddhismus den einzelnen Menschen sieht, sieht er immer zugleich die Menschen in ihrer Beziehung zueinander, d.h. innerhalb der menschlichen Gemeinschaft und diese wiederum innerhalb der gesamten ökologischen Lebenswelt.
Mit dieser umfassenden
Sichtweise von wechselseitigem Verbundensein, die auch den Geist und unsere
Innenwelt einbezieht, geht der Buddhismus natürlich weit über
das hinaus, wozu die Ökologie als Wissenschaft bereit ist. Für
sie bleibt die Grenze der Beibehaltung der Trennung von Subjekt und Objekt
und die Weigerung, auch den Beobachter und das eigene Bewusstsein in die
Beobachtung und Erkenntnis mit einzubeziehen.
Die Weiterentwicklung
des indischen Frühbuddhismus zum ostasiatischen Mahayana brachte zusätzlich
noch eine Vertiefung im Verständnis von paticca samuppada, eine Vertiefung
im Verständnis der Ganzheit der Lebenswelt und der spirituellen Tiefe
des Daseins. Diese finden wir insbesondere im Avatamsaka-Sutra und in der
chinesischen Hua Yen Philosophie. Das Blumengirlanden-Sutra (Ava-tamsaka)
richtet sein Augenmerk insbesondere auf den Aspekt der durch das wechselseitig
bedingte Entstehen gegebenen Beziehung des Teils zum Ganzem und umgekehrt.
Der bereits erwähnte Dharmalehrer Thich Nhat Hanh hat uns diese Sichtweise in besonders leicht fasslicher Weise zugänglich gemacht. Er gebraucht dafür immer wieder das Beispiel des hier vor uns liegenden Papiers. Das Papier kann nicht existieren ohne den Baum, und der nicht ohne die Erde, die Sonne, den Regen usw. Weiter braucht es den Holzfäller und der wiederum existiert nicht ohne seine Säge, nicht ohne Nahrung, Kleidung oder ohne seine Mutter. Dann braucht es die, die aus dem Holz das Papier herstellen, die es handeln, transportieren und bedrucken usw. Und wenn wir das alles immer weiterverfolgen, erkennen wir letztlich, dass das Papier eine unendliche Kette von Bedingungen voraussetzt, um als das zu existieren, als das es erscheint. Ja, dieses eine Papier setzt die gesamte Erde und den ganzen Kosmos voraus. All das ist notwendig, damit eine einziges Ding so ist, wie es ist. Damit enthält das Papier in sich auch all die Phänomene und Wesen, die es möglich gemacht haben. Dieses Papier enthält so das gesamte Universum.
Auch die Probleme
unserer heutigen Welt können wir im vorliegenden Papier finden. Denn
es ist, selbst wenn es Recycling-Papier ist, aus dem Holz von Bäumen
gemacht, die dafür gefällt wurden. Mit den gefällten Bäumen
haben zahlreiche Wesen ihren Zufluchtsort, ihre Brutstätte oder ihre
Nahrung verloren. Menschen haben vielleicht wichtige Lebensbedingungen,
wertvolles Bauholz, ihr einziges Heizmaterial oder "nur" ihre gesunde,
frische Atemluft verloren – oder auch buddhistische Waldmönche ihren
Ort der Praxis. Bei der Papierherstellung wurden eine Menge Chemikalien
und Wasser verbraucht, Flüsse wurden verunreinigt, Fische starben
und das Trinkwasser von Menschen wurde verdorben. Andererseits sichert
es Druckern und Verlagen ihre Existenz und wir haben die Möglichkeit,
Gedanken über die Zukunft unserer Welt auszutauschen.
Das bedeutet, dass
in jeder Erscheinung, jedem Ding, jedem Wesen alle anderen Erscheinungen,
Dinge, Wesen mitenthalten sind. Teil und Ganzes enthalten und durchdringen
sich gegenseitig. Nichts im ganzen Universum existiert, was nicht das ganze
Universum zur Bedingung hat. Existiert auch nur eine einzige Erscheinung
im Ganzen nicht mehr oder anders, so ist das Ganze nicht mehr das gleiche
Ganze sondern ein anderes.
Das Avatamsaka-Sutra
gelangt zuletzt zu einem mythischen Bild, nämlich dem vom "Netz des
Indra". Dies bezeichnet ein prachtvolles Netz, über das der indische
Götterkönig Indra verfügt, dessen Knoten durch Edelsteine
gebildet werden und von denen jeder einzelne alle anderen reflektiert und
jeder so das ganze Netz in sich enthält. Damit findet der Buddhismus
bereits im 1. Jahrhundert unserer Zeitrechnung zu einer holistischen Netzwerk-Auffassung
von der Wirklichkeit. Auf der Suche nach einem Wort, das diese uralte Einsicht
mit unserer modernen Sichtweise vereint, gelangte Thich Nhat Hanh zu dem
Begriff "Intersein".
Thich Nhat Hanh
sagt darum, dass "mein Ich" sich aus "Nicht-Ich-Elementen" zusammensetzt,
dass das, was "meine Person" ausmacht, gebildet wird aus dem, was oberflächlich
gesehen gerade nicht meine Person ausmacht. Das heißt, ich bin das,
was ich nicht bin, mein wahres Selbst ist das Nicht-Selbst, mein wahres
Ich ist der Andere und das Andere.
Im Diamantsutra finden wir den Satz: "Der Buddha ist nicht der Buddha, darum ist er der Buddha." Und Dogen Zenji, den wir bereits kennen lernten, fasst all dies in die wenigen Worte:
"Den Buddha-Weg erkennen, heißt sich selbst erkennen. Sich selbst erkennen, heißt sich selbst vergessen. Sich selbst vergessen, heißt sich in allem finden"
Erkennen wir die Wirklichkeit als eine umfassende Ganzheit von Beziehungen, dann bedeutet das auch: ist ein Teil oder eine Beziehung verändert, so ist die ganze Wirklichkeit verändert. Darum können wir nie davon sprechen, dass wir als einzelne keinen Einfluss und keine Bedeutung im Ganzen hätten. Ein Gedanke, ein Wort, eine Tat kann die ganze Welt, die ganze Menschheit, die ganze Geschichte verändern, zum Leiden hin oder zur Befreiung hin.
Umgekehrt führt
die Einsicht, dass wir von nichts getrennt sind, dass wir mit allem zu
tun haben zur Folgeerkenntnis, dass uns alles etwas angeht, dass wir für
alles verantwortlich sind. S.H. der Dalai Lama nennt deshalb die Essenz
des Buddhismus: die Einsicht in unsere "Univer-sale Verantwortlichkeit".
Um eben dies letztere
und nur um dies ging es Buddha. Alle die hier betrachteten Lehren des Buddha
erfüllen ihre eigentliche Bedeutung nicht darin, dass sie uns hervorragende
theoretische Grundlagen für das Verständnis der Wirklichkeit
liefern, sondern dass sie uns heilsame Einsichten und Orientierungen für
das Überwinden von dukkha, von Leid in der Welt und in unserem Leben
bieten.
Denn aus der wirklich tief erfahrenen und durchdrungenen Einsicht in unsere Ungetrenntheit mit allen leidenden Wesen gehen allumfassende Liebe (maitri), grenzenloses Mitgefühl (maha karuna) und allgegenwärtige Achtsamkeit (sati) hervor. Nur sie haben letztlich die Qualität und Kraft, uns und unsere leidende Welt zu verändern.
Kommen wir damit zurück zum Ausgangspunkt und zum Schluss: Ich stellte ihnen ein Zitat aus dem Diamant Sutra vor mit folgendem Inhalt:
"Wie viele Arten
lebender Wesen es auch geben mag, ob aus dem Ei geboren, der Gebärmutter,
aus Feuchtigkeit oder unmittelbar, ob sie Gestalt besitzen oder keine,
ob sie wahrnehmen oder nicht, oder ob über sie weder gesagt werden
kann, dass sie wahrnehmen, noch dass sie es nicht tun, wir müssen
alle diese Wesen zum endgültigen Nirvana führen, so dass sie
befreit werden. Und wenn diese unzählige, unermessliche, endlose Anzahl
von Wesen befreit worden ist, dann denken wir in Wahrheit noch nicht einmal,
dass ein einziges Wesen befreit worden ist. Warum? Wenn sich, Subhuti,
einer an der Idee festhält, dass ein Selbst, eine Person, ein lebendes
Wesen oder eine Lebensspanne existiert, dann ist diese Person kein echter
Bodhisattva."
Ich sagte: Auf unsere
Thematik bezogen können wir diese Aussage auf folgende Weise umformulieren:
"Wir müssen unsere Umwelt vor der Zerstörung durch den Menschen
retten. Doch wenn wir dies tun und denken, wir würden unsere Umwelt
retten, dann tun wir dies in Wahrheit nicht."
Ich denke, sie können dieser Aussage nun folgen. Sie will sagen, dass wir nicht in der Lage sein werden, unsere Natur oder Umwelt zu retten bzw. unsere Lebensbedingungen auf diesem Planeten Erde vor der Selbstzerstörung zu bewahren, solange wir nicht erkennen, dass es darum geht, uns in der bedrohten Erde und Natur selbst zu finden und uns selbst in unserem Innersten zu retten. Wir bewahren die Natur nur in dem Maße, in dem wir uns zu unserer eigenen wahren Natur befreien. Die Aufrechterhaltung unseres ökologischen Überlebens wird identisch sein mit der Verwirklichung wahren, erfüllten, menschlichen Lebens.
"Der Bodhisattva soll in bezug auf alle Wesen die Idee entwickeln: dies ist meine Mutter, mein Vater, mein Sohn, meine Tochter, ja dies bin ich selbst. Wie ich selbst von allen Leiden gänzlich frei sein möchte, so möchten alle Wesen frei sein." (Prajnaparamita Sutra)