Claude An Shin Thomas, Schüler von Thich Nhat Hanh und Glassman Sensei, meldet sich als 17-jähriger nach einer von Gewalt und Missbrauch geprägten Kindheit freiwillig zum Einsatz in Vietnam. Nach 13 Monaten Krieg kehrt er in die USA zurück. Von der eigenen Gesellschaft an den Rand gedrängt, begibt er sich auf eine Odyssee von Drogenmissbrauch, Arbeits- und Obdachlosigkeit, bis hin zur Straffälligkeit - ein Leben voller Wut, Verzweiflung und Gewalt. In einem Retreat für Vietnamveteranen findet er 1991 den Zen-Meister Thich Nhat Hanh, der ihn später dazu anregt, seine Lebenserfahrungen weiterzugeben und eigene Meditationsseminare zu halten. 1995 ordiniert Bernhard Tetsugen Glassman Roshi, der Begründer der sozial engagierten Greyston Foundation, Claude zum Zen Mönch. Claude An Shin Thomas ist aktives Mitglied der Buddhist Peace Fellowship und hat von Dezember 1994 bis August 1995 einen Großteil des interreligiösen Friedensmarsches von Auschwitz nach Hiroshima begleitet.
Dieser Artikel handelt von einem dynamischen Prozess, den ich in meinem Leben viele Male erfahren habe. Ich habe an dieser Dynamik teilgehabt, war von ihr ergriffen und ihr Opfer geworden. Der dynamische Prozess ist nicht auf eine Person, eine Gruppe oder eine Organisation beschränkt, und ich möchte hier also nicht irgendeine Person, eine Gruppe oder ihre Mitglieder verdammen. Soweit ich erfahren habe, handelt es sich um eine Dynamik, die überall präsent ist. Was ich in diesem Artikel erreichen möchte, ist Licht in eine dunkle Ecke menschlicher Erfahrung zu bringen.
Wenn wir einen Baum betrachten, sehen wir den Stamm, die Rinde, die Zweige und die Blätter. Was wir nicht sehen ist das, was dem Baum Stabilität verleiht und ihn nährt: das Wurzelwerk. So hoch wie der Baum ist, so tief reicht seine Pfahlwurzel unter die Erde. Wir wissen nicht, wie ausladend die Wurzeln sind oder in welchem Zustand sie sich befinden, bis wir sie freilegen oder ausgraben. Aber eines ist klar: wenn die Wurzeln nicht gesund sind, ist auch der Baum nicht gesund. Hat man dies erkannt, dann muss man sich um diese Wurzeln kümmern, wenn der Baum überleben soll. Er kann sich nicht erholen, wenn die ungesunden Teile mit Erde einfach zugeschüttet werden.
Mit einer Kerngruppe von ungefähr 25 Leuten wandere und lebe ich seit November 1994 auf einer Pilgerreise für Frieden und Leben. Ich schreibe dies im Mai 1995.
Ich bin nicht frei von tiefem Leiden. Ich kann dieses tiefe Leiden in anderen sehen und erkennen, weil ich gelernt habe, es zu erfahren, und zu akzeptieren. Ich hatte als großen Vorteil das Glück, in Situationen zu geraten, die mich zwangen, mich mit meinem Leiden auseinander zu setzen und wach zu sein. Situationen, die mir die Verleugnung und alle Illusionen, die damit einhergehen, unmöglich gemacht haben: Krieg, Obdachlosigkeit und Arbeitslosigkeit sowie die Ausgrenzung aus meiner Gesellschaft und meiner Kultur, habe ich früher nur als Fluch verstanden, konnte sie nicht als Geschenk begreifen und das waren sie doch in Wirklichkeit. Die Natur des Leidens, die mich zu diesen Plätzen getrieben hat, war mir damals ebenfalls nicht vertraut. Auch ich war in einer Wirklichkeit befangen, aus der heraus die meisten dieser Gruppe handeln. Dies ist eine Wirklichkeit, die durch soziale und kulturelle Normen diktiert wird. Normen, die uns raten, Gefühle, auch wenn sie nur ansatzweise unangenehm sind, nicht anzuerkennen, darüber nicht zu sprechen und uns vor ihnen zu verstecken.
Diese Gesellschaft und Kultur drängt mich und andere, die mir ähnlich sind, an den Rand. Sie drängen uns an den Rand, denn wenn sie mich und andere mit ähnlichen Erfahrungen wirklich annehmen wollten, müssten sie bereit sein, die Tiefe von Gefühlen und von Leiden in sich selbst zu erfahren. Um dies zu vermeiden, lehnen sie uns ab.
Ich nehme wahr, der Fokus der Menschen unserer Gruppe befindet sich außerhalb ihrer selbst. Sie sprechen oft darüber, sich irgendwie verletzt und unterdrückt zu fühlen. Das Vertrackte am Umgang mit dieser Projektion ist, dass das Gefühl der Verletzung meist auf einem starken Maß an Rechtfertigung basiert. Als ich mit diesen Menschen gelebt habe, mit ihnen gegangen bin und gegessen habe, konnte ich beobachten, wie sie sich bewusst oder unbewusst darum bemühten, sich mit anderen zu verbünden, die ähnliche Ansichten hatten. Je stärker das Leiden oder die Verleugnung dieses Leidens ist, um so stärker sind die Bemühungen, die Berührung damit zu vermeiden.
Für die, die sich der Verleugnung verschrieben haben und die grundsätzlich ablehnen, das Leiden zu berühren, ist es eine gebräuchliche Praxis, z.B. durch das Bekleiden einer Führungsposition Kontrolle auszuüben oder sich durch eine Position eine Identität zu verschaffen. Wenn sich Menschen ähnlicher Grundhaltungen miteinander verbinden, dienen ihre gleichen Meinungen dazu, ihre Ablehnungsmechanismen zu bestärken, die persönliche Schuld zu verdrängen.
Die Frage, die mich ständig beschäftigt, wenn ich mit dieser Dynamik konfrontiert bin, ist: Wie kann hier Heilung unterstützt werden, oder wie kann die Realität, dass wir alle für die Notwendigkeit zur Heilung verantwortlich sind, angesprochen werden? Wie kann man einladen zur Aussprache und zum Erforschen dessen, wie Heilung vonstatten gehen kann? Es ist keine Frage für mich, dass Heilung nicht durch einfaches Vergessen stattfinden kann. Heilung findet auch nicht äußerlich statt. Heilung wird immer ein zutiefst persönlicher, oft schmerzhafter und schier verrückt machender Prozess sein, der einen (auf jeden Fall mich) sehr oft in Konflikt mit vielfältigen, fundamentalen sozialen und kulturellen Normen bringt in welcher Form sie auch jeweils erscheinen mögen: mit der Familie, der Nachbarschaft, dem Erziehungssystem, der Kirche oder anderen Gruppen.
Da ich diese Dynamik auf der Pilgerreise erfahre, kann ich bezeugen, wie Menschen in ihrem Bemühen, ihr Leiden zu vermeiden, dies auf aggressive Weise leugnen. Sie wählen z.B. traditionelle Machtpositionen aus, um dann beispielsweise durch ihre Titel und das Zurückhalten von Informationen Macht auszuüben. Ich habe in der Vergangenheit erfahren, dass diese individuellen und kollektiven Bemühungen, seien sie passiv oder aktiv, stets schreckliche Konsequenzen haben, denn sie erleichtern nicht die Heilung, sondern sie verstärken und perpetuieren intensive Verleugnungsstrukturen.
Als ich die Dynamik der Verleugnung in dieser Gruppe anschaute, habe ich bemerkt, dass die verschwiegenen Verbindungen der Leidenden in einen bewussten oder auch unbewussten Wettkampf miteinander münden. Jeder findet immer gewichtigere Argumente, um seinen jeweiligen Standpunkt zu rationalisieren. Sie kämpfen und hadern miteinander, ein Kreislauf, in dem es darum geht, den anderen immer zu übertreffen.
Die Vermeidung von Leiden, seine Verleugnung, erfahre ich als einen gewalttätigen Akt, der in vieler Hinsicht kraftvoller ist als Gewehre oder Bomben, da er nicht offensichtlich wirkt, sondern auf versteckte Weise. Weil ich mit dieser Gruppe verbunden bin, frage ich mich, wie Menschen solch gewalttätige Handlungen begehen können und gleichzeitig behaupten, für den Frieden zu arbeiten?
Immer wenn die Gruppe durch ein gefährliches Gebiet kam (Bosnien-Herzegowina, Irak oder Kambodscha), durch Orte, in denen Menschen auf Grund von Zwang mit Leiden konfrontiert wurden, ignorierte und unterdrückte die Gruppe eigene Ängste. Der Einfluss dieser schwelenden Ängste bewirkte, dass einzelne nicht mehr mitfühlend, sondern unkontrolliert und wahllos handelten. Die Aktion entsprang aus der Furcht, die Kontrolle zu verlieren. So entwickelten sich Tyrannen, die irrationale Entscheidungen fällten. Das Gefühl für die Bedürfnisse anderer ging verloren. In diesem Raum des Ausagierens wurde die Gruppe auch eigenen Bedürfnissen gegenüber unsensibel und damit notgedrungen auch unsensibel gegenüber der Kultur oder dem Volk, dem sie gerade begegnete. Wenn dieser Kreislauf sich entwickelt, beobachte ich, dass sich Menschen mit Sensibilität, Empathie und Fürsorglichkeit für andere zurückziehen. Diejenigen, die sich hinter ihrer Verleugnung verschanzen, sind so sich selbst überlassen, entscheiden, manipulieren, kontrollieren und taktieren. Sie leben ihre Verdrängungsmechanismen erfolgreich aus, und ich stelle mir die Frage: Was kann ich tun? Wie kann ich mitfühlend handeln?
Dies kann ich durch Erfahrungen in meinem Leben bestätigen, z.B. fällte ich meine Entscheidung, in den Krieg zu ziehen, weil ich dachte, damit dem Frieden dienen zu können. Ich wollte wirklich mit dem Gewehr für den Frieden kämpfen!
Vielleicht ist es wirklich so, dass abgesehen von Fällen, in denen Menschen an klar diagnostizierbaren, organischen oder physiologischen Fehlfunktionen leiden, Gewalt das Resultat davon ist, dass wir uns von unseren Gefühlen, auch der Wahrnehmung unseres Leidens, entfernt haben. Ich kapituliere vor meinem Leiden und agiere es im großen oder kleinen Rahmen aus. Im Zentrum des militärischen Trainings steht schließlich auch die Selbstentfremdung und Unterdrückung von Gefühlen. Denn es ist nicht möglich, Menschen zu töten und gleichzeitig eigene Gefühle und die wahre Natur zu berühren.
Ich lerne mehr und mehr durch das Leben von Frieden, durch in Frieden sein, dass Friede in einer echten Form nicht wirklich existieren wird, bevor nicht eine ganz persönliche Heilung geschieht. Ansonsten ist die vermeintliche Heilung nur eine kurze Erholung vom Schmerz. Dies ist dann nicht viel anders als der Gebrauch einer Droge, die wieder und wieder neu genommen werden muss... Dieser Kreislauf wird selbst zur Quelle des Schmerzes, denn wir bekommen nie genug von der Droge. So geht der Zyklus des Leidens weiter: nach Geburt folgen Tod und Wiedergeburt.