Nagarjuna riet dem König: "So wie du gerne darüber nachdenkst, was zu tun wäre, um dir selbst zu helfen, so solltest du gerne darüber nachdenken, was zu tun wäre, um anderen zu helfen."
In dem Maße wie wir die vier edlen Wahrheiten, vor allem jene des Leidens und der Befreiung vom Leiden, in uns selber verstanden und verwirklicht haben, in dem Masse werden sie auch auf die Außenwelt, unsere Mitmenschen und unsere Mitlebewesen anwendbar. Das eigentliche Maß für die Verwirklichung unseres Mitgefühls ist dessen Ausdruck in Handlungen. Der Buddha des Großen Mitgefühls, Avalokiteshvara, wird oft dargestellt mit vielen Köpfen - friedvollen und furchterregenden - und mit tausend Armen, jeder mit einem Auge der Weisheit versehen. Die Arme streckt er in jede Himmelsrichtung aus, um die Wesen zu beschützen, vom Leiden zu befreien und sie den Dharma zu lehren. Zusätzlich zum Mitgefühl braucht es Weisheit und Geschick, um wirklich hilfreich zu sein, was in den Darstellungen von Avalokiteshvara durch das Auge in jeder helfenden Hand illustriert wird.
Durch das Studium
der Lehre und deren praktische Anwendung werden wir zu einem vertieften
Verständnis der Wirklichkeit sowie der Natur des Geistes gelangen.
Dies bedeutet, dass wir beginnen, "abhängiges Entstehen" und somit
die gegenseitig abhängige Vernetztheit und Verbundenheit allen Lebens
zu erkennen und zu erfahren. Es ist diese Erkenntnis, die uns mit dem Leben
verbindet, uns aber auch verpflichtet. Durch Verbundenheit und Einssein
mit den Lebewesen, durch das Wegfallen des Gefühls der Getrenntheit
entsteht eine natürliche Motivation, zum Wohle aller zu wirken. Der
Geist des Bodhisattvas erwacht.
Das traditionelle
Bodhisattva-Ideal bedeutet, zum Wohle aller Wesen die Buddhaschaft erreichen
zu wollen. Konkret kann das oft so aussehen, dass die vollständig
im Dharma Engagierten - ob Mönche oder Nonnen, Lamas oder Zen-Meisterinnen
– zwar als wichtigen Teil ihrer Praxis und als Ausdruck ihrer Verwirklichung
Belehrungen geben, sich aber eher selten sozial, politisch oder einfach
praktisch in der Welt engagieren. Dabei bezieht sich aber die Praxis der
Bodhisattvas doch immer auf eine Auseinandersetzung mit dem Leiden und
dem Wohlergehen aller Lebewesen. Deshalb ist es nicht erstaunlich, dass
es auch immer wieder bedeutende engagierte Buddhisten gab, sei es in Ländern
des Mahayana-Buddhismus, sei es in jenen des Theravada.
Besonders heute wieder scheint im Buddhismus ein Aufbruch stattzufinden; eine Sensibilisierung für die Problematik und das Leiden der Mitwelt. Dies zeigt sich in der wachsenden Zahl der Menschen, die sich für soziale Gerechtigkeit, für die Menschenrechte, für Freiheit und Demokratie, für Natur und Umwelt, für die Erde mit ihrer Artenvielfalt und für die Rechte der Tiere engagieren.
Der Thailänder Sulak Sivaraksa ist ein international angesehener Aktivist für Frieden, soziale Gerechtigkeit und Menschenrechte. Er ist verheiratet, hat drei Kinder und ist Autor einer Anzahl von Büchern, wie zum Beispiel "Saat des Friedens" (erschienen im Aurum Verlag) und erhielt 1995 den Alternativen Nobelpreis. Sein spiritueller Lehrer war Ajahn Buddhadassa, einer der bekanntesten Mönche und Dharmalehrer des modernen Thailand, der als bedeutender Reformator des Buddhismus gewirkt hat. Sulak ist zutiefst besorgt über die Krise, in der sich unsere Gesellschaft befindet und die sich in Ländern wie Thailand noch dramatischer auswirkt als bei uns. Wie unzählige Drittweltländer wird es durch die rasante Industrialisierung und Überflutung durch materialistische Denk- und Verhaltensweisen in seinen sozialen, geistigen, kulturellen und ökonomischen Grundstrukturen und Werten zutiefst erschüttert.
Über Jahrhunderte gab es in Thailand geschätzte und gepflegte Lebensweisen und Werte der Bevölkerung: gegenseitige Achtung, Respekt der Jungen für die Alten, Erziehung in den Werten des Buddhismus, eine gemächlichere Lebensweise, der die Hektik unserer Zeit noch fremd war, sowie eine natürliche Verbundenheit mit der Natur. Diese Haltungen wurden in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten radikal ersetzt durch kurzfristig orientiertes Profitdenken, skrupellose Ausbeutung der Natur, Abwanderung der Jungen in die Städte, etc. Gleichzeitig wurden aber die von alters her bestehenden sozialen und politischen Strukturen keinesfalls durch die westlichen Formen der Demokratie ersetzt.
Deshalb ist Sulak auch seit Jahrzehnten ein unermüdlicher Kritiker der vom Militär gestützten Regierungen Thailands, und dies mit einem großen Risiko: sein Leben und jenes seiner Familienangehörigen und Freunde zu verlieren. Nachdem er die Regierung für den offensichtlichen Mangel an Demokratie und die grassierende Korruption kritisiert hatte, wurde er vor Gericht gestellt, wo er eine Strafe von bis zu 30 Jahren Gefängnis zu gewärtigen hatte. Erst durch internationale Unterstützung von Seiten vieler buddhistischer Freunde, Amnesty International und anderer Menschenrechtsgruppen, wurde er wieder freigelassen.
Er versteht die heutige Krise als spirituell und sozial. Er spricht gegen Korruption, Nationalismus, Kapitalismus und "Konsumismus". Er betont die Notwendigkeit, die Armen zu unterstützen und zu beschützen, und befürwortet die Anwendung von buddhistischen Prinzipien auf die soziale Realität. Durch die Anwendung von Achtsamkeit, Gewaltlosigkeit und Dharmapraxis kann viel Leiden überwunden werden - im Individuum wie in der Gesellschaft. Sulak ist davon überzeugt, dass die alten Bräuche und Werte auf die heutigen Situationen und Bedürfnisse übertragen werden müssen, um den rein konsumorientierten kapitalistischen Kräften, welche das Land und die Leute zerstören, entgegenzuwirken.
Er kämpft gegen die Zerstörung der teilweise noch intakten sozialen und ökonomischen Strukturen und Werte der Familie der ländlichen Gebiete sowie gegen den zunehmend mächtigen Einfluss der dekadenten, zerstörerischen westlichen Zivilisation mit ihrer Konsumhaltung, ihrem Hang zu Gewalt, mit der Drogenabhängigkeit unter den Jungen, mit ihrem Sextourismus. Wegen der zunehmenden Armut unter den Thai-Dorfbewohnern senden Zehntausende von Familien, die sich am Existenzminimum befinden, ihre Töchter als Prostituierte in die Städte, um minimale Mittel zum Überleben zu beschaffen. Allzu oft kehren diese Frauen nach einigen Jahren zurück ins Dorf, leiden unter Aids und gehen durch die Qualen eines schmerzhaften Todes, wobei sie von den Dorfbewohnern und oft selbst von ihren eigenen Familien wegen ihrer Krankheit und weil sie als Prostituierte gearbeitet haben, gemieden werden.
Heute gibt es viele engagierte Buddhisten in Thailand, die gegen diese Missstände ankämpfen und als Aktivisten, durch Erziehung und durch ihr Vorbild versuchen, ganzheitlichen Sichtweisen zum Durchbruch zu verhelfen; Sichtweisen, welche die innere Haltung des Geistes und des Herzens als Grundlage sehen. Sie erkennen die spirituellen, sozialen, politischen, wirtschaftlichen und ökologischen Aspekte des Lebens als untrennbar.
Sulak kämpft auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene für diese Prinzipien, ohne Rücksicht auf persönliche Gefahr und Anfeindung, der er immer wieder ausgesetzt ist. Vor einigen Jahren wurde erneut ein Haftbefehl gegen ihn ausgestellt, nachdem er mit der Tatsache an die Öffentlichkeit getreten war, dass viele burmesische Studenten, die vor dem unterdrückerischen Regime in Rangoon nach Nordthailand geflohen waren, zurück nach Burma gesandt wurden, wo sie Folter und Tod erwartete. Sulak sprach darüber und nannte auch den Namen des verantwortlichen Generals. Daraufhin mußte er in eine ausländische Botschaft flüchten, von wo aus er aus dem Land gebracht wurde. Sulak bleibt jedoch unerschütterlich in der Hingabe zu seiner Arbeit, zu seiner Überzeugung und zu einer inneren Haltung, die menschliche und spirituelle Werte weit über den Egoismus der modernen Konsumgesellschaft stellt. In diesem Sinne zitiert er die folgende Aussage Buddhas:
"Die Taten, durch welche man Verdienste schafft, sind nicht einen Bruchteil der liebevollen Güte wert; denn liebevolle Güte strahlt, leuchtet, scheint und übertrifft jene Taten, gerade so, wie alles Licht der Sterne nicht einen Bruchteil des Mondlichtes wert ist, welches strahlt, leuchtet und scheint."
Man hätte in ihm nie einen Aktivisten gesehen. All die andern Mönche wurden dazu angehalten, auf dem Areal oder unter den Bäumen zu meditieren, nur dem Ehrwürdigen Maha Ghosananda wurde vom Lehrer so viel Vertrauen geschenkt, dass er für sich selber praktizieren durfte.
Er ist einer der wenigen Mönche, die das Pol-Pot-Regime in Kambodscha überlebt haben. Im Laufe des langen, schrecklichen Bürgerkrieges in seinem Lande wurden sein Bruder und alle siebzehn Angehörigen seiner Familie von den Roten Khmer ermordet.
Als Massen seines
Volkes vor den Roten Khmer nach Thailand flüchten mussten, ging er
in die Flüchtlingslager, um zu helfen und um Dharma und Metta-Meditation
zu lehren. Bald erhielt er Drohungen von Seiten der Roten Khmer, denen
seine Aktivitäten missfielen, so dass einer seiner Anhänger ihm
ein Flugbillett von Bangkok nach Paris kaufte, um ihn in Sicherheit zu
bringen. Er ging nach Bangkok in ein Reisebüro, verkaufte dieses Billett
wieder und ließ von dem Geld Zehntausende von Metta-Flugblättern
drucken. Daraufhin bestieg er den Zug, fuhr zurück in die Flüchtlingslager
und verteilte die Blätter unter den Flüchtlingen.
In den neunziger
Jahren begann er damit, Dhamma-Yatras oder Friedensmärsche in seinem
immer noch vom Krieg heimgesuchten Land durchzuführen. Bei der zweiten
dieser Yatras marschierte er mit drei- bis vierhundert Teilnehmenden von
der Grenze Kambodschas nach Phnom Penh. Sie marschierten durch Gegenden,
die selbst von den UNO-Truppen gefürchtet waren und wo es Landminen
gab. Einige der Marschierenden wurden erschossen. Eines Nachts wurde sogar
eine Handgranate in die Dharma-Halle geworfen; die Granate explodierte
jedoch glücklicherweise nicht. Der Marsch wurde fortgesetzt. Der Ehrwürdige
Maha Ghosananda sagt über diese Friedensmärsche: "Jeder Schritt
ist eine Meditation. Jeder Schritt ist ein Gebet. Jeder Schritt baut eine
Brücke."
Kambodscha ist ein Land, in dem es mehr Landminen gibt als Menschen. Maha Ghosananda unterstützt alle Bestrebungen, in seinem eigenen Land, wie auch international, Herstellung, Export und Einsatz dieser heimtückischen Kriegsgeräte zu verhindern. Weltweit wird jede Viertelstunde ein Mensch von einer Mine getötet oder verstümmelt. Dabei trifft es fast ausschließlich Zivilisten, mehrheitlich Frauen und Kinder. Maha Ghosananda betont: "Um wirklich Frieden schließen zu können, müssen wir die Landminen des Hasses, der Gier und der Täuschung in unseren eigenen Herzen räumen."
Ein weiterer Marsch
dieser Art ist bekannt als Dhammayatra-Marsch für den Frieden. Die
Route sollte ursprünglich nach Pailin, der Hochburg der Roten Khmer,
führen und dann weiter zu den immer wieder umkämpften und schwer
verminten Regionen von Nordwest-Kambodscha, um dann bei den buddhistischen
Tempeln von Angkor Wat zu enden. Obschon ein Zwischenfall, bei dem die
Roten Khmer mit automatischen Waffen und Granaten das Feuer eröffneten,
die Marschierenden zwang, ihre Route zu ändern, zogen sie weiter in
Richtung Angkor Wat, welches sie einen Monat später erreichten. Eine
Sprecherin für den Friedensmarsch sagte: "Wenn die Roten Khmer den
Dhammayatra angreifen, ist das wie wenn sie unsere Nation angreifen würden."
Die Roten Khmer-Guerillas entschuldigten sich später und drückten
ihren Wunsch nach Frieden aus.
Maha Ghosananda
wurde gefragt: "Was sagen Sie den Leuten, wenn sie marschieren?" "Zu den
Älteren sage ich: ‘Sagt euren Söhnen, sie sollen die Uniform
ausziehen, ihre Gewehre niederlegen und den Hass in sich selber "töten"’.
Manchmal tun sie das wirklich, und es gab Soldaten, die früher getötet
hatten, die tatsächlich ihre Uniformen auszogen, ihre Gewehre niederlegten,
ihre Dorfbekleidung anzogen und mitmarschierten."
Diese Märsche
haben für die Heilung Kambodschas und um die Menschen für den
Frieden zusammenzubringen mehr getan, als all die UNO-Missionen, Gespräche
und Konferenzen; denn die Leute waren berührt vom makellosen Geist
dieses Mannes und seiner Verpflichtung und Hingabe zum Frieden. Maha Ghosananda
wünscht, dass in den folgenden Worten Buddhas alle Menschen Führung,
Kraft und Mitgefühl in ihrem Herzen finden mögen:
"In jenen, die Gedanken der Anklage und der Rache gegen andere hegen, wird der Hass nie versiegen. In denen, die keine solchen Gefühle hegen, wird Hass sicher erlöschen. Denn Hass wird nie durch Hass gestillt, sondern durch liebende Güte allein. Dies ist ein ewiges Gesetz."
Fred von Allmen ist
ein bekannter Vipassana-Lehrer aus der Schweiz mit einer 30-jährigen
Dharma-Praxis und -Erfahrung bei namhaften Meditations-Lehrern in Asien
aus der Theravada- und Vajrayana-Tradition.
Der Text ist ein
Auszug aus dem Aufsatz „Bodhisattvas am Werk“ abgedruckt in seinem Buch:
"Mit Buddhas Augen sehen - Buddhistische Meditation und Praxis", mit einem
Vorwort von Joseph Goldstein, Theseus-Verlag Berlin, 1997. Er wurde dem
NEB mit freundlicher Genehmigung vom Autor und Verlag zur Verfügung
gestellt.