Der Biertrinker 
und die Erdnuss der Achtsamkeit

von Horst Gunkel - veröffentlicht im BuddhaNetz-Info Nr. 11 - Sommer 2000 - letztmals überarbeitet: 2012-05-21

Unlängst fuhr ich zum Studienkurs für Mitras der FWBO (Freunde des Westlichen Buddhistischen Ordens) nach Minden. Dies erwies sich als gute Gelegenheit, theoretisches Studium und praktische Übung zu verbinden – und als Gelegenheit die eigene Un8samkeit zu betrachten.

Im Zug nach Minden studierte ich den für den Kurs vorzubereitenden Vortrag „A Vision of Human Existence“ von Sangharakshita. In diesem Vortrag wird unter anderem auf das Rad des Lebens eingegangen, eine Darstellung, in der in zwölf Bildern aufgezeigt wird, wie wir uns durch unser eigenes Handeln dem Rad aus Wiedertod und Geburt ausliefern. Im siebten Bild dieses Lebensrades wird Berührung dargestellt, Sinnenkontakt: eines unserer Sinnesorgane (das Auge) kommt mit einem Sehobjekt in Berührung. Aufgrund dieser Berührung entsteht Gier, entsteht Greifen. Dies wird im achten Bild deutlich: eine schöne junge Frau serviert einem durstigen Mann ein kühles Bier. Sinnenberührung führt zu Verlangen, zu Gier, zum Greifen, dies zu Anhaften und dadurch wird das Lebensrad – angetrieben von Gier, Aversion und Uneinsichtigkeit – weiter in Schwung gehalten (vgl. Einführung in Paticca Samuppada, BNI 4-6). Das entscheidende aber ist: es gibt eine Möglichkeit aus diesem Rad zu entkommen. Daher erscheint der Buddha neben dem Rad und deutet auf eine kleine Lücke zwischen dem siebten und dem achtem Bild hin, denn es ist nicht notwendig, wie der Pawlowsche Hund auf einen Sinnenkontakt mach dem Reiz-Reaktions-Schema zu funktionieren. Ich muss nicht, wann immer eine schöne junge Frau an einem heißen Tag ein kühles Bier serviert, zugreifen (weder nach dem Bier noch nach der Frau). Mit dieser Entscheidung – und das ist natürlich kein einmaliger Akt, sondern eine dauernde Übung – befreit man sich, so Sangharakshita, aus dem zyklischen Daseinskreislauf und gelangt auf den spiralförmigen Pfad, der zur Erleuchtung führt.

Ein schönes Bild, und doch mischte sich in dem Augenblick, da ich mit dieser Wahrheit einmal mehr konfrontiert war, dukkha: vor mir lag das aufgeschlagene Skript mit Sangharakshitas Vortrag und daneben eine Packung Erdnüsse, eine angebrochene Packung Erdnüsse. Eine Packung Erdnüsse, die ich mir an einem Automaten im Hanauer Hauptbahnhof geholt hatte. Ich hatte sie nicht geholt, weil ich Hunger hatte. Ich hatte vielmehr gerade zuvor zu Mittag gegessen. Ich hatte sie nur geholt, weil ich am Bahnsteig stand. Neben mir war ein Automat. Es kam zu Sinnenkontakt: mein Auge traf auf ein Sehobjekt. In mir stieg der Wunsch auf zuzugreifen, und ich holte mir die Erdnüsse.

Dumm gelaufen, schon wieder hatte ich einen Schritt im Zyklus des Daseinskreislauf, des Samsara, gemacht. Als ich meine Un8samkeit beobachtete, fielen mir weitere Greifakte auf. Hätte ich nicht noch den Vortrag im Zug zu studieren gehabt, ich hätte – wie es so meine Art ist – am Bahnhof eine Zeitung gekauft. Nicht etwa, weil ich sonst nicht über den Weltenlauf informiert gewesen wäre, sondern einfach, um Input in mich hineinzustopfen. Auch dieses Greifen nach Lesestoff, nach Input und Sinnenerfahrung, ist die gleiche Art des Greifens. Warum greife ich im Wartezimmer des Zahnarztes nach Illustrierten? Nach Illustrierten, die teilweise keine tiefergehenden Erkenntnisse vermitteln, als dass der Herr Schumacher immer noch gern mit dem Auto im Kreis herumfährt und dass die Frauen noch immer zwei Brüste haben (wahrlich keine überraschenden Erkenntnisse).
Warum schaue ich nach so banal-blödem Input, wenn ich genauso gut einen Block und einen Stift nehmen könnte, um meine Gedanken zu Papier zu bringen? Warum übe ich nicht auf diese Art Konzentration – im Zug, auf einer Parkbank, beim Zahnarzt? Ich weiß doch genau, auf diese Art kommt es zur Einspitzigkeit des Geistes, kommt zu Gedankenfassung und diskursivem Denken, kommt es zu Freude und Begeisterung.

Vielleicht war dies die effektivste Packung Nüsse, die ich jemals aus Un8samkeit gekauft habe: ich war zu dem Entschluss gekommen in neuer Weise zu üben, auch abseits des Meditationskissens – mit Stift und Papier. Doch kaum hatte ich diesen Entschluss gefasst, stieg in mir der Gedanke auf: viel effektiver könnte ich sicher im Zug, auf der Parkbank und beim Zahnarzt üben, wenn ich ein Notebook, einen kleinen tragbaren Computer besäße, dann könnte ich dort auch immer gleich etwas für´s BuddhaNetz-Info tun. Diesen Gedanken verwarf ich jedoch als notorischen Versuch des inneren Widersachers, den Greifmechanismus, die Gier nach Dingen in neuer Verpackung durch die Hintertür wieder einschmuggeln zu wollen.
In Minden angekommen ging ich bei strahlendem Wetter durch die Altstadt. In einem Straßencafé saßen zwei sichtlich erhitzte, durstige Männer in der Sonne. Eine schöne junge Frau mit kurzem Rock und bayerisch anmutendem Dekolleté servierte den durstigen Männern gerade kühles Weißbier. Beide Männer strahlten glücklich (wohl gleichermaßen wegen des Bieres und wegen der Kellnerin). Auch über mein Gesicht breitete sich Schmunzeln aus, auch in mir stieg Freude auf. Nicht über das Bier, eher schon über die Kellnerin, mit Sicherheit aber über diese lehrbuchhafte Szene, die so genau dem achten Bild im Lebensrad entsprach. Ganz Minden schien mich einzuladen, die Lücke zwischen dem siebten und dem achten Bild des Lebensrades zu sehen und Berührung nicht in Gier, nicht in Greifen ausarten zu lassen.

Am Abend um halb elf gehe ich noch durch die Straßen Mindens, es ist mildes Wetter, die Biergärten sind geöffnet. Nach einigem Reflektieren, ob ich das tun sollte, setzte ich mich in eines dieser offenen Lokale (bewusst nicht in das mit der oben erwähnten Kellnerin) und bestelle mir ein Getränk (nein, kein Bier). Ich hole meinen Block und meinen Füller heraus und beginne meine Gedanken zu ordnen, das Thema schreibe ich in die Mitte des Blattes: Der Biertrinker und die Erdnuss der Achtsamkeit.

Als der Entwurf fertig ist, sitze ich einfach da, genieße die kühler werdende Luft, genieße das Sitzen, genieße den Anblick der Altstadt und den von schönen vorübergehenden Frauen – aber lasse sie auch ebenso, wie sie aus meinen Augen verschwinden, auch aus meinen Gedanken verschwinden.

Und erblickt der edle Jünger eine liebliche Form, so haftet er nicht an, weder an der ganzen Erscheinung noch an irgendeinem Teil (so sagt es der Buddha im Pali-Kanon.) Aber der flüchtige Genuss des Sinnenkontaktes geht in Ordnung, bei einer schönen Blume, einem schönen Gebäude, einer ansprechenden Melodie oder einer hübschen Frau, eben immer dann, wenn das Vergängliche die Idee des Vollkommenen erahnen lässt.


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