Ein neuer Heiliger Krieg gegen das Böse?
Eine buddhistische Antwort von David Loy
Hier ein Essay des amerikanischen Zen-Buddhisten David Loy zum aktuellen Weltgeschehen. David Loy ist einer der profiliertesten buddhistischen Denker aus den USA und Autor zahlreicher Buecher. Er lebt seit vielen Jahren in Japan und ist dort Dozent an einer Universitaet. Der Beitrag wurde aus dem Englischen uebersetzt von Wolfgang Waas, Innsbruck.


Wie die meisten Amerikaner hatte ich Probleme, die Ereignisse der letzten Woche zu verdauen. Es hat eine Zeitlang gedauert, bis ich imstande war zu erkennen, wie psychisch betaeubt viele von uns sind. In wenigen Stunden ist unsere Welt eine andere geworden. Wir wissen noch nicht was diese Aenderungen im Einzelnen mit sich bringen werden, aber die wichtigsten  Langzeitwirkungen koennten die psychologischen sein.

Die Amerikaner haben die USA immer verstanden als einen besonderen und einmalig privilegierten Ort. Die Puritaner sahen in New England das Verheissene Land. Nach Melville sind "wir Amerikaner das einzigartige, das auserwaehlte Volk". In vielen Teilen der Welt war das zwanzigste Jahrhundert von besonderen Schrecken begleitet, aber die USA waren so abgeschottet von diesen Tragoedien, dass wir zu der Meinung kamen, dagegen immun zu sein - obwohl  wir nicht selten zu ihnen beigetragen haben. Diese Zuversicht ist jetzt ganz ploetzlich zusammengebrochen. Wir mussten entdecken, dass es in der Welt der grenzenlosen Globalisierung fuer uns keine Zuflucht gibt vor Hass und Gewalt, die in vielen Teilen der Welt dominieren.

Jeder Tod weckt in uns den Gedanken an unseren eigenen; und ploetzlicher, unerwarteter Tod in einem so grossen Massstab macht es noch schwieriger, das Bewusstsein unserer eigenen Sterblichkeit zu unterdruecken. Unsere Besessenheit von Dingen wie Geld, Konsum, Leistungssport ist demaskiert worden als das was sie ist: der Beachtung nicht wert, die wir ihnen zuwenden. Es gibt hier etwas Wertvolles zu lernen - aber diese Wahrheit ist uns unbehaglich. Wir wollen nicht an den Tod denken, wir ziehen es ueblicherweise vor, abgelenkt zu werden.

Sprueche von Vergeltung und "in die Steinzeit zurueckbomben" sind vielen von uns suspekt, aber wir haben von Natur aus ein Beduerfnis zurueckzuschlagen. Am Freitag hat Praesident Bush erklaert, dass die USA aufgerufen sind zu einer weltweiten Mission "die Welt vom Boesen zu befreien", und am Sonntag sagte er, die Regierung sei entschlossen "die Welt von Uebeltaetern zu befreien". Unser Land der Freiheit hat jetzt eine Verantwortung, das Boese in der Welt auszurotten. Wir haben nicht laenger ein "Reich des Boesen" zu besiegen, aber wir haben ein noch heilloseres Boeses entdeckt, das zu zerstoeren einen langfristigen totalen Krieg notwendig machen wird.

Wenn irgendetwas boese ist, dann waren diese terroristischen Angriffe boese. Ich teile diese Ansicht, aber ich glaube es waere
noetig, das verwendete Vokabular ein wenig unter die Lupe zu nehmen. Wenn Praesident Bush sagt, er wolle die Welt vom Boesen befreien, dann schrillen in meinem Kopf die Alarmglocken, denn genau das ist es, was Hitler und Stalin ebenfalls vorhatten.

Ich will keinen von diesen Uebeltaetern verteidigen, sondern ihre Absichten erklaeren. Wie hat das Problem mit den Juden ausgesehen, das eine "Endloesung" erforderlich machte? Die Erde konnte fuer die "arische Rasse" nur gereinigt werden, indem man die Juden, die "unreinen Schaedlinge", ausloeschte. Stalin musste die Kulaken beseitigen, um seine ideale Gesellschaft von Kollektivbauern zu verwirklichen. Beide versuchten, diese Welt zu vervollkommnen, indem sie ihre "Unreinheiten" entfernten. Die Welt kann nur gut gemacht werden, indem man ihre "schlechten Elemente" zerstoert. Doch paradoxerweise war einer der Hauptgruende fuer das Boese in dieser Welt immer der menschliche Versuch, das Boese auszurotten.

Die 'Washington Post' zitierte am Freitag Joshua Teitelbaum, der sich mit einem eher zeitgenoessischen Uebeltaeter beschaeftigt hat: "Osama bin Laden sieht die Welt ganz in nackten Schwarz-Weiss-Kontrasten. Fuer ihn repraesentieren die USA die Kraefte des Boesen, die Korruption und Despotismus ueber die islamische Welt bringen."

Was ist der Unterschied zwischen bin Laden's Ansicht und der von Bush? Sie sind Spiegelbilder. Was bin Laden als gut ansieht - einen Heiligen Krieg gegen einen gottlosen und materialistischen Westen - sieht Bush als boese. Was Bush als gut ansieht - Amerika als Verteidiger der Freiheit - sieht bin Laden als boese. Sie sind zwei entgegengesetzte Versionen des gleichen 'Heiligen Krieges zwischen Gut und Boese'.

Verstehen Sie mich hier bitte nicht falsch - ich will sie nicht moralisch gleichsetzen, ich will in keiner Weise die Schreckensbilder von letztem Dienstag entschuldigen. Nur - unter buddhistischen Perspektive gibt es eine gefaehrliche Taeuschung in den spiegelbildlichen Ansichten beider Seiten. Wir muessen verstehen, wie dieses Schwarzweissdenken nicht nur die islamischen
Terroristen verblendet, sondern auch uns selbst, und so das Leid in der Welt vermehrt.

Dieser Dualismus von 'Gut gegen Boese' ist verlockend, weil er eine einfache Weltsicht bietet, und er ist vielen von uns sehr vertraut. Er ist zwar nicht auf die abrahamitischen Religionen beschraenkt, Judentum, Christentum und Islam, aber er ist ihnen besonders zentral. Das ist einer der Gruende, warum es immer so schwierig war, Konflikte unter ihnen friedlich zu bereinigen: ihre Anhaenger tendieren dazu, ihre eigene Religion mit dem Guten zu identifizieren und die anderen als die Boesen zu sehen. (Historisch scheint dieser Dualismus auf den Zarathustra-Glauben zurueckzugehen, der die Welt als Schlachtfeld eines kosmischen Krieges zwischen Gut und Boese sah, und einen apokalyptischen Sieg fuer die Kraefte des Guten am Ende der Zeiten annahm. Die Juden haben diese Idee vermutlich waehrend der babylonischen Gefangenschaft aufgegriffen, und sowohl
das Christentum als auch der Islam haben diesen Dualismus von ihnen uebernommen.)

Es ist schwierig die andere Wange hinzuhalten, wenn wir die Welt durch diese Brille betrachten, denn sie rationalisiert das
entgegengesetzte Prinzip: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Wenn die Welt ein Schlachtfeld zwischen guten und boesen Kraeften ist, dann muss das Boese mit allen zur Verfuegung stehenden Mittel bekaempft werden. Die Saekularisierung der modernen westlichen Welt hat dieser Tendenz nicht Einhalt geboten, sie hat sie in mancher Hinsicht sogar intensiviert, da wir ja nicht mehr auf einen uebernatuerlichen deus ex machina warten. Wir muessen uns auf uns selbst verlassen, um den endgueltigen Sieg des Guten herbeizufuehren - so wie es Hitler und Stalin taten. Es ist unklar, inwieweit bin Laden und Bush Hilfe von Gott erwarten.

Warum betone ich diesen Dualismus? Das grundlegende Problem mit dieser Art von Konfliktverstaendnis ist, dass sie das Denken ausschliesst, weil sie so simplistisch ist. Sie haelt uns davon ab, tiefer hineinzusehen, davon, Gruende entdecken zu wollen. Sobald etwas als boese identifiziert ist, gibt es keine Notwendigkeit mehr es zu erklaeren; dann ist es Zeit, sich auf den Kampf dagegen zu konzentrieren. Hier hat der Buddhismus etwas Wichtiges beizutragen.

Der Buddhismus sieht drei Wurzeln des Uebels, bekannt als die Drei Gifte: Gier, Hass und Wahn. Die abrahamitischen Religionen betonen den Kampf zwischen Gut und Boese, weil fuer sie das Grundproblem in unserem Willen liegt: auf welche Seite stellen wir uns?

Im Kontrast dazu betont der Buddhismus Unwissenheit und Erleuchtung, weil das Grundproblem hier in unserer Selbsterkenntnis liegt: verstehen wir wirklich unsere eigenen Motive? Nach dem Buddhismus liegt jedes Geschehen eingebettet in ein Netz von Gruenden und Bedingungen - das Gesetz des Karma. Eine Moeglichkeit, die zentrale Lehre des Buddhismus zusammenzufassen ist, dass wir leiden und andere leiden machen durch Gier, Hass und Wahn. Karma impliziert, dass, wenn unsere Handlungen gesteuert werden von diesen Wurzeln des Boesen, ihre negativen Folgen dazu tendieren, auf uns zurueckzufallen.

Der buddhistische Loesungsansatz zum Leiden schliesst ein, unsere Gier zu Grosszuegigkeit zu wandeln, unseren Hass zu liebender Guete, und unseren Wahn zu Weisheit.

Wohin bringen uns diese buddhistischen Lehren in der Situation, in der wir uns jetzt konkret finden? Folgendes ist dem heutigen
Statement der Buddhist Peace Fellowship entnommen:

"Die Nationen leugnen die Kausalitaet, indem sie andere schlecht machen als 'Terroristen', 'Schurkenstaaten' u. ae.  Indem wir einen Feind aus dem Hintergrund herausloesen, schliessen wir die Selbstpruefung kurz, die noetig waere um unsere eigene karmische Verantwortlichkeit zu sehen fuer die schrecklichen Dinge, die uns zugestossen sind...  Solange bis wir Gruende sehen, Verantwortung auf uns zu nehmen fuer (in diesem Fall) den Mittleren Osten, wird die Gewalt der letzten Woche fuer uns nicht mehr Sinn machen als ein Erdbeben oder ein Wirbelsturm, ausser dass es uns durch ihren menschlichen Ursprung zu Wut und Rache verleitet."

 Wir duerfen uns nicht konzentrieren auf die zweite Wurzel des Uebels, den Hass und die Gewalt, die jetzt gegen die Vereinigten Staaten gerichtet worden sind. Die drei Wurzeln sind miteinander verflochten. Hass kann nicht getrennt werden von Gier und Wahn. Das verlangt von uns die Frage: Warum hassen uns so viele Leute, besonders im Mittleren Osten, so sehr? Was haben wir getan um diesen Hass zu verstaerken? Amerikaner sehen Amerika als Verteidiger von Freiheit und Gerechtigkeit, aber ganz offensichtlich sehen sie uns anders. Sind denn nur sie falsch informiert, oder sind wir es, die
falsch informiert sind?

"Glaubt denn wirklich jemand, dass wir die USS New Jersey losschicken koennen, um Volkswagen-grosse Granaten in Libanesische Doerfer zu schleudern - Reagan, 1983 - oder 'smart bombs' auf Zivilisten zu lenken, die in einem Bunker in Bagdad Schutz gesucht haben - Bush, 1991 - oder cruise missiles in eine Medikamentenfabrik im Sudan - Clinton, 1999 - und dann nicht irgendwann unseren Teil zurueckzubekommen?"  (Micah Sifry)

Im speziellen - wie sehr war unsere Aussenpolitik im Mittleren Osten motiviert von unserer Liebe zu Freiheit und Demokratie, und wie weit von unserem Bedarf - unserer Gier - nach seinem Oel? Wenn unsere hauptsaechliche Prioritaet war, unseren Oelnachschub zu sichern, heisst das dann, dass unsere auf Oel basierende Wirtschaft eine der Gruende war fuer die Angriffe der letzten Woche?

Und schliesslich fuehren uns die buddhistischen Lehren auch dazu, die Rolle der Verblendung im Schaffen dieser Situation zu
betrachten. Verblendung hat im Buddhismus eine besondere Bedeutung. Die grundlegende Verblendung ist das Bild unserer Abgetrenntheit von der Welt, in der wir uns befinden - einschliesslich der anderen Menschen. Insofern wir uns von anderen getrennt fuehlen, sind wir mehr geneigt sie zu manipulieren, 'um zu bekommen was wir wollen. Das schafft natuerlich Unwillen - sowohl in den anderen, die nicht benuetzt werden wollen, als auch in uns selbst, wenn wir nicht bekommen was wir wollen...  Trifft das auch im Kollektiv zu?

Verblendung wandelt sich zu Weisheit, sobald wir erkennen, dass "niemand eine Insel ist". Wir sind voneinander abhaengig, denn wir sind alle Teil voneinander, verschiedene Facetten des einen Juwels, das wir 'die Erde' nennen. Diese Welt ist nicht eine Ansammlung von Objekten, sondern eine Gemeinschaft von Subjekten. Diese Interdependenz bedeutet, dass wir der Verantwortung fuereinander gar nicht entkommen koennen. Das trifft nicht nur fuer die Bewohner von Lower Manhattan zu, die sich jetzt vereinigen in ihrer Reaktion auf diese Katastrophe, sondern fuer alle Menschen der Welt, so verblendet sie sein moegen - ja, einschliesslich der Terroristen, die diese entsetzlichen Akte gesetzt haben, und jene die sie unterstuetzen.

Bitte verstehen Sie mich hier nicht falsch. Jene, die fuer diese Angriffe verantwortlich sind, muessen sicherlich ergriffen und dem
Gesetz ueberantwortet werden. Das ist unsere Verantwortung all jenen gegenueber, die gelitten haben; und das ist auch unsere
Verantwortung gegenueber den verblendeten und hasserfuellten Terroristen, denen Einhalt geboten werden muss. Aber wenn wir diesen Kreislauf aus Hass und Gewalt durchbrechen wollen, dann muessen wir uns darueber klar werden, dass unsere Verantwortung damit nicht beendet ist.

Unsere Interdependenz und gegenseitige Verantwortung fuereinander zu erkennen, heisst mehr als das. Wenn wir diese Interdependenz leben, dann heisst sie Liebe. Liebe ist mehr als ein Gefuehl, sie ist eine Seinsweise in der Welt. Im Buddhismus sprechen wir meist von Mitgefuehl, Grossherzigkeit und liebender Guete, aber all das reflektiert ebendiese Seinsweise. Eine solche Liebe wird manchmal missachtet als schwaechlich und nutzlos, sie kann sich aber, wie Gandhi gezeigt hat, als sehr maechtig erweisen. Und sie verkoerpert eine tiefe Weisheit darueber, wie der Kreislauf von Hass und Gewalt funktioniert und wie er beendet werden kann. 'Auge um Auge' macht die ganze Welt blind, aber es gibt eine Alternative. Vor 25 Jahrhunderten hat der Buddha gesagt:

"Er hat mich missbraucht, er hat mich geschlagen, er hat mich zu Fall gebracht, er hat mich beraubt" - wo solche Gedanken gehegt werden, wird nie der Hass enden.

"Er hat mich missbraucht, er hat mich geschlagen, er hat mich zu Fall gebracht, er hat mich beraubt" - wo solche Gedanken nicht gehegt werden, wird der Hass enden.

Noch nie in dieser Welt, Hat Hass gestillt den Hass. Nur liebende Guete stillt den Hass. Dies ist ein ewiges Gesetz.    (Dhammapada, 3-5)

Selbstverstaendlich ist diese verwandelnde Einsicht nicht dem Buddhismus allein vorbehalten, schliesslich war es nicht der Buddha, der uns das Bild vom Hinhalten der anderen Wange gegeben hat. In den abrahamitischen Religionen koexistiert die Tradition des heiligen Krieges zwischen Gut und Boese mit diesem 'ewigen Gesetz' ueber die Kraft der Liebe. Das heisst nicht, dass alle Religionen der Welt dieses Gesetz im gleichen Mass verwirklichen. Tatsaechlich frage ich mich, ob das nicht ein Massstab der Reife einer Religion ist, oder zumindest ihrer heutigen Relevanz fuer uns: wie weit die befreiende Wahrheit dieses Gesetzes erkannt und unterstuetzt wird. Ich weiss fuer einen Vergleich nicht genug ueber den Islam, aber z.B. im Fall von Buddhismus und Christentum ist es so, dass in den Zeiten wo diese Wahrheit nicht betont wurde, beide Religionen am  staerksten von weltlichen Herrschern und nationalistischen Leidenschaften untergraben worden sind.

Wo fuehrt uns all das an diesem Tag hin? Wir stehen an einem Wendepunkt. Das Verlangen nach Rache und gewaltsamer Vergeltung wird staerker, und es wird noch angefacht von einem Fuehrer, der in seiner eigenen Rhetorik von einem Heiligen Krieg gefangen ist, um die Welt vom Boesen zu reinigen. Ueberlegen Sie: beschreibt dieser Satz bin Laden oder Praesident Bush? Wenn wir dem Pfad der Gewalt in einem grossen Massstab folgen, dann werden bin Laden's und Bush's heiliger Krieg zu zwei Seiten desselben Krieges.

Niemand kann alle Konsequenzen eines solche Krieges vorhersehen. Es ist durchaus moeglich, dass er ausser Kontrolle geraet und sich verselbstaendigt. Jedenfalls bringt das 'ewige Gesetz' einen ernuechternden Effekt eindeutig mit sich: eine massive Vergeltung der USA im Mittleren Osten wird den Samen einer neuen Generation von selbstmoerderischen Terroristen hervorbringen, begierig darauf, ihren Platz in diesem heiligen Krieg einzunehmen.

Aber breit gestreute Gewalt ist nicht die einzige Moeglichkeit. Wenn diese Zeit der Krise uns ermutigt, die Rhetorik des Krieges zur Ausrottung des Boesen zu durchschauen, wenn wir die verflochtenen Wurzeln des Uebels zu verstehen beginnen, einschliesslich unserer eigenen Verantwortung, dann mag vielleicht aus dieser katastrophalen Tragoedie doch etwas Gutes erwachsen.



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