ÖÖ erobert New York
Es ging ihm so, wie es uns häufig geht, wenn wir glauben, Glück und Zufriedenheit würden sich einstellen, wenn wir ein bestimmtes Ziel erreicht haben: wir sind enttäuscht, weil sich herausstellt, dass das, was wir uns in den rosigsten Farben ausgemalt haben, nicht nur Licht, sondern auch viele Schattenseiten hat. Mehr als die Hälfte seiner 1600 $ Monatsverdienst gingen für die kleine 1-Zimmer-Wohnung drauf. Die Stadt war laut und überfüllt und dreckig. Am schlimmsten war es bei Regen. Der Job war stressig, und das lag nicht nur an der Sprache, sondern auch an der anderen Mentalität. Er hatte gedacht, dass es für ihn, der mit zwei Kulturen, der türkisch-islamischen seiner Großeltern und der westlichen seiner Kindheit und Jugend in Deutschland groß geworden war, leichter sein würde, eine andere Spielart westlicher Kultur kennen zu lernen. Aber alles was er an Deutschland abstoßend gefunden hatte, fand er hier noch schlimmer. Und das Umfeld türkischer Familien, mit dem er über seine Eltern und Mitschüler Kontakt hatte, fehlte ihm mehr, als er jemals gedacht hatte. Das einzige, was wirklich besser war, war dass ihn hier niemand mit seinem Nachnamen aufzog. In Deutschland, wurde er immer als der "Öko" aufgezogen.
Özdemir fand sich unversehens in einer Sinnkrise. Während der Arbeit ging es noch, aber nach Büroschluss war es ätzend. Zwar hatte auch er das reichhaltige Unterhaltungsangebot probiert: Fernsehen, Disko, Spielsalon, Kino und er war auch ein paar Mal mit Kolleginnen ausgegangen, doch jedes Mal hatte er hinterher den Eindruck, er hätte die Zeit zwar erfolgreich totgeschlagen, manchmal sogar etwas Spaß dabei gehabt, aber nichts war so, dass er hinterher wirklich rundherum zufriedengestellt war, irgendetwas fehlte, irgendetwas Unbefriedigendes war mit allem verbunden und Özdemir hatte den Eindruck, dass dies der Sinn des Lebens war. Die Frage nach dem Sinn des Lebens, nach etwas, das er in diesem Leben umsetzen wollte, in dem er sich selbst verwirklichen konnte, das fehlt ihm. Vor diesen Gedanken konnte er zwar davonlaufen, konnte sich in Kinos und Diskos kurz verstecken, konnte diesen Gedanken kurzfristig entfliehen, jedoch sobald diese Zerstreuungen vorbei waren, stellte sich dieses tiefgreifende Gefühl der Unzufriedenheit nur noch stärker ein.
Von einem jungen Pakistani hatte er von einer kleinen Moschee gehört, nur wenige Straßenblocks von seiner Wohnung. Dort ging er jetzt immer öfter hin. In Deutschland war er nur zur Moschee gegangen, wenn dies seine Eltern und vor allem seine Großeltern so wollten, ansonsten stand er dem Islam etwas distanziert gegenüber. Selbstverständlich aß er kein Schweinefleisch und er trank auch (fast) niemals Alkohol und in Deutschland hatte er den Ramadan streng eingehalten, aber ein wirkliches inneres Bedürfnis war ihm der Glaube nicht. Und auch seine Besuche in der Moschee waren nicht von der Art der Frömmigkeit der meisten Moslems. Nicht das Freitagsgebet oder die Verbeugungen und die Rezitationen gläubiger Sätze - wie "Gott ist groß" - waren das, was er hier wirklich suchte. Meist kniete er nur ganz einfach in einem entfernten Winkel der Moschee auf dem Teppich und ließ den Eindruck des Raumes auf sich wirken. Diese Moschee war anders, als diejenigen die sie in Deutschland hatten und die auf ihn immer ein bisschen wie dekorierte Lagerhallen wirkten. Diese Moschee strahlte so etwas wie Erhabenheit aus. Er wusste nicht genau ob dies einAusdruck der Größe Gottes war oder einfach die Botschaft, dass es etwas anderes gab, jenseits des geschäftigen Trubels der Stadt, etwas das für Ruhe, für Sicherheit, für Mut, für Vertrauen, für Kraft stand. Und dieses Gefühl genoss er.
optimale Konzentration
Und er begann auch über sich und
sein Leben nachzudenken. Was war der Sinn seines Lebens? Wer war Özdemir
Öko wirklich? Merkwürdigerweise entdeckte er am meisten über
sich über einen Bleistift. Er hatte diesen Bleistift aus Deutschland
mitgebracht. Es war ein einfacher unlackierter Bleistift, mit einer Aufschrift:
ÖkoBüro Hanau. Er hatte diesen Bleistift nur deswegen behalten,
weil er den Namen irgendwie passend fand. "ÖkoBüro" - und er
hieß Öko und war Bürokaufmann. Er hatte ihn schon während
der Lehrzeit immer auf seinem Schreibtisch liegen gehabt. "ÖkoBüro"
- damit wurde für ihn der Raum, in dem er und vier andere MitarbeiterInnen
arbeiteten zu seinem eigenen Büro, zum Büro von Özdemir
Öko. Und er hatte den Stift auch mit nach New York genommen, er wollte,
dass sein dortiges Büro, indem er mit mehr als einem Dutzend anderer
Leute saß, auch zu seinem Büro wurde. Aber es hatte nicht funktioniert.
Das hektische Rufen, das dauernde Telefongeklingele und die Arbeitsanweisungen,
die sein Abteilungsleiter beständig auf ihn einprasseln ließ,
verhinderten, dass er hier heimisch wurde. Nein, dieses Büro war nicht
sein "ÖkoBüro", es war nur der Platz, wo er seinen Job tat.
Der Platz wo er sich wirklich heimisch fühlte, war hier in der Moschee. Er nahm seinen Stift und legte ihn vor sich "ÖkoBüro Hanau". Wer bin ich? Wer ist Özdemir Öko?
"Ich bin ein Stift", antwortete der Stift, "ich bin ein Stift, einer der noch viel lernen muss, der seine Ausbildung gerade erst angefangen hat, ein Lehrling, ein Stift." Verwundert sah Özdemir den Stift an: hatte der wirklich gesprochen?
"Wer bist du?", fragte Özdemir den Stift erneut. "Ich bin ein Stift und ich ben kein Stift, ich bin die Sonne und das Meer, ich bin der Wald und ich bin der Prophet, ich bin die Luft, die Erde, das Wasser, das Licht und ich bin du, ich bin Özdemir Öko."
Özdemir verstand nicht und sah den Stift fragend an. "Ich bin all das, sagte der Stift, was Ursache von mir ist, denn ich bin in Abhängigkeit vieler Bedingungen entstanden und alle sind in mir. Ich bin der Stift und ich bin voll von Nicht-Stift-Elementen. Ich bestehe aus Graphit, aus Holz und aus Lack. Ich bin nur Graphit, Holz und Lack und doch bin ich Stift. Aber ich bin noch mehr. Schau mein Holz an, es ist Zedernholz aus dem Libanon. In mir sind die Mineralien der libanesischen Hügel, in mir ist das Wasser des Flusses Jordan, in mir ist die Sonne, die die Zeder hat wachsen lassen. In mir ist der Holzfäller, der die Zeder hat wachsen lassen, denn ohne ihn wäre ich nicht hier und in mir ist das Brot, das der Holzfäller gegessen hat und das ihm die Kraft gab, die Axt zu schwingen. Und in mir sind die Eltern des Holzfällers, denn auch ohne sie wäre ich nicht da. Und in mir ist die Liebe der Eltern des Holzfällers, der Hodscha, der ihren Bund besiegelt hat und die sexuelle Vereinigung aus der der Holzfäller entstand. Und in mir ist sogar ein ganz besonderes Kohlestoffatom, es wurde vor mehr als 1500 Jahren von dem Blatt eines Dattelbaums aus der Luft aufgenommen, aus einem Kohledioxidmolekül. Und dieses C-Atom wurde dann in eine Dattel eingebaut. Ein alter Mann kam und hat die Dattel gepflückt und getrocknet. Dann wurden die getrockneten Dattel von einer Frau gekauft, verpackt und auf einem Kamel transportiert. Eines abends landete die Dattel auf einem Teller in einem Zelt. Dort saß er, der Prophet Mohammed (Friede auf ihm) und aß die Dattel. Das C-Atom wurde in ein Haar des Propheten eingebaut und befand sich dort über ein Jahr lang. Es war Bestandteil des Propheten als er den Koran erhielt. Dann fiel das Haar aus. Irgendwann später zersetzte es sich und gelangte wieder in den Kohlenstoffkreislauf, eines Tages war es in der Zeder und heute ist es in diesem Stift. Letztendlich ist die ganze Welt in diesem Stift. Der Stift ist ein naturgetreues Abbild der Welt und die Welt ist nichts anderes als der Stift. Alles ist in allem. Ich bin auch in dir. Und du in mir, denn wir sind die gleiche Welt."
Özdemir war tief beeindruckt von dem, was ihn der Stift gelehrt hatte. Er war von der Welt nicht verschieden und sie von ihm nicht. Alles ist in allem. Überall manifestiert sich die gleiche Wahrheit. Alles durchdringt einander. Wie konnte er dann mit New York unzufrieden sein? Die Stadt war nicht verschieden von ihm, sie war wie er. Genauso oberflächlich und verwirrt wie er manchmal war, genauso oberflächlich und verwirrt war auch die Stadt. Die Stadt zeigte nur verschiedene Aspekte von ihm selbst. Dazu gehören die Kinos, der Dreck, die Hektik, die Peep Shows, die Schnellimbisse aber auch diese Moschee. Es kam letztlich nur darauf an, welche Seite von ihm selbst er entwickeln sollte.
Und ihm begann auch klar zu werden, das er selbst, genau wie der Stift, von vielen Bedingungen abhängig war, Bedingungen, die sich schon in seinem Namen widerspiegelten: Özdemir. Er war türkischer Abstammung und so fand sich vieles aus der türkischen Kultur in ihm und aus dem Islam, aber er war auch in Deutschland aufgewachsen und dort den unterschiedlichsten Einflüssen ausgesetzt und jetzt war es in New York und er hatte verwundert festgestellt, dass er begann, in amerikanischer Sprache zu träumen.
Und dann war noch sein Nachname, der für ihn viele Jahre lang eine schwere Belastung war. In der Türkei und in den USA hatte er nichts zu bedeuten, aber in Deutschland hatten ihn die Kinder schon in der Grundschule gehänselt: "Na, Öko, heute schon dein Müsli gegessen?" oder "Hallo Öko, ordentlich bei Kerzenschein den Müll getrennt?" Zunächst hatte er gar nicht verstanden, was die eigentlich wollten und er begann seinen Namen zu hassen. Mit der Zeit hatte er sich mit dem auseinandergesetzt, was die Leute unter "Öko" verstanden, und er fand das meiste ganz vernünftig. Dann hatte er in der Schule etwas vom Gegensatz zwischen Ökologie und Ökonomie gehört und er hatte sich gefragt, ob er denn ein ökologischer oder ein ökonomischer Öko sei, aber er hatte die Antwort nicht gefunden, irgendwie war beides in ihm. Die Frage hatte ihn so beschäftigt, dass er eine Fachoberschule für Ökonomie besuchte. Aber auch danach wusste er noch nicht, was für eine Sorte Öko er denn sei. Jetzt sah er, dass dies alles in ihm war, dies alles und noch mehr. Das ganze Universum war in Özdemir Öko und letztlich war das Universum nur ein komplexes Gegenbild von ihm, von Özdemir.
Plötzlich schien Özdemir die Welt logisch und klar, er hatte seine Identitätskrise bewältigt. Er ging jetzt täglich für eine Stunde in die Moschee, fühlte sich eins mit der Welt und entdeckte die Gesetze logisch richtigen, geschickten und heilsamen Handelns, er nannte sie die "achtfache Optimierung", wo bei sich an dem Wort Optimierung der Ökonomische Teil in ihm zeigte, wie er lächelnd feststellte. Dies sind die Gesetze der achtfachen Optimierung:
Innovation
Seitdem er die Gesetze der achtfachen
Optimierung aufgestellt hatte, hatte er sich auch eine neue Geschäftsidee
entwickelt: er wollte eine eigene Firma gründen, ein eigenes Logistikunternehmen.
Er hatte eine innovative Geschäftsidee. Innovationen sind technische
oder soziale Neuentwicklungen und ihre wirtschaftliche Umsetzung.
optimale Perspektive
Özdemir hatte schon bald gemerkt,
dass die U-Bahn schneller ist, als die Verkehrsmittel auf der Straße.
Einmal hatte er mit einem Kollegen zusammen ein Taxi benutzt, als dieses
im Stau steckte verließ er einfach das Taxi und ging zu Fuß.
Er war mehr als eine dreiviertel Stunde schneller am Ziel als sein Kollege,
obwohl er gemütlich geschlendert war. Güter, die von Menschen
transportiert werden konnten, wären also meistens schneller am Ziel,
wenn man sich nicht auf Autos verlässt. Sein Geschäftsziel war
ein Unternehmen, das sich spezialisiert hat auf den Transport von Gütern
und Akten bis zu 10 kg. Seine "Grünen Boten" sollten dabei mit Rucksäcken
und Roller Skates ausgestattet sein und je nach Verkehrslage und Entfernung
die Gehsteige, die Straßen oder die Bahnen benutzen. Dazu bekommen
sie einen Helm mit Sprechfunk, damit sie die Hände frei haben und
jederzeit von der Zentrale neue Aufträge bekommen könnten oder
Informationen über schnellere Verkehrsverbindungen. Diese Art des
Transportes eignet sich auch für vertrauliche Akten, bei denen eine
elektronische Übermittlung zu risikoreich war. Die Bezeichnung "Grüne
Boten" hatte er sich ausgedacht, weil jedes Unternehmen - zumal in Amerika
- eine sog. "corporate identity" braucht.
Unter corporate identity versteht man sowohl ein einheitliches äußeres
Erscheinungsbild als auch die Entwicklung eines "Wir-Bewusstseins" bei
den Angestellten. Also sollten die "Grünen Boten" ein einheitliches
Aussehen bekommen, gewissermaßen eine grüne Uniform, natürlich
in grellem Grün, damit sie erstens auffallen (und damit Werbung sind)
und zweitens dadurch im Straßenverkehr geschützt sind. Für
die Farbe grün hatte er sich entschieden, weil ihm die Idee in einer
Moschee gekommen war und "grün" die Farbe des Propheten ist, außerdem
weil sie natürlich zu einer Firma passt, deren Chef "Öko" heißt
und schließlich ist das Fahren mit Roller Skates und Bahnen mit Sicherheit
ökologisch sinnvoller, als mit Autos im Stau zu stehen. Diese Vision
eines sinnvollen Unternehmens war genau das, was Özdemir unter "optimale
Perspektive" verstand.
optimales Bemühen
Wenn man eine Perspektive, eine Vision,
eine Geschäftsidee hat, dann ist noch lange nicht gesagt, dass diese
Erfolg haben wird. Zur Umsetzung jeder Perspektive gehört Bemühen.
Das kannte Özdemir aus seinem noch jungen Leben. Es war nicht selbstverständlich,
dass ein Jugendlicher, in dessen Familie die Umgangssprache türkisch
ist, es schafft, auf eine deutsche Fachoberschule zu gehen. In der achten
Klasse der Gesamtschule wäre er beinahe sitzen geblieben. Erst von
seinen älteren Geschwistern hatte er vermittelt bekommen, wie wichtig
Bildung ist. Und er hatte sich bemüht und angestrengt. Er hatte es
geschafft. Seine Leistungen verbesserten sich und er konnte auf die Fachoberschule
gehen. Da dieses Ziel für ihn nur ein Zwischenziel war, ließ
er in seinen Bemühungen nicht nach. Ihm war völlig klar, dass
er als türkischer Jugendlicher bessere Leistungen bringen musste,
als seine deutschen KlassenkameradInnen, um einen guten Ausbildungsplatz
zu bekommen. Und wieder war sein Bemühen erfolgreich. Im Nachhinein
würde er sein Bemühen auf der FOS heute nicht mehr als "optimal"
bezeichnen, aber "richtiges" Bemühen war es schon. Und auch während
der Ausbildung bemühte er sich richtig. Er wollte unter allen Umständen
übernommen werden, denn er wusste, dass wer nicht übernommen
wird, allenfalls bei einem türkischen Unternehmen unterkommen könnte.
Er aber hatte sich vorgenommen Deutscher zu werden und dazu brauchte er
einen Arbeitsplatz in einem deutschen Unternehmen. Heute weiß er,
dass er mit seinen Bemühungen während der Ausbildung die Aufmerksamkeit
des Personalchefs so stark auf sich lenkte, dass dies seinen Einsatz in
Amerika erst möglich machte.
Aber alle diese Bemühungen waren eigentlich nur Vorübungen für sein wirklich großes Ziel: er wollte Erfolg haben, er wollte New York ein bisschen mitgestalten, ihm ein klein wenig seinen Stempel aufdrücken. Und er wollte sich selbst beweisen wozu er fähig war. Natürlich wollte er dabei auch beweisen, dass sein System der achtfachen Optimierung den härtesten aller Tests bestehen würde. Der Härtetest in der Wirtschaftswelt New Yorks. Und richtiges Bemühen, optimales Bemühen setzt voraus, dass man nicht nur sein Ziel klar kennt (optimale Perspektive) sondern auch geeignete Schritte erwägt, analysiert, auf ihre Tauglichkeit prüft und schließlich umsetzt. Dies gilt für alle Teilbereiche der Planung: Finanzplan, Zeitplan, Werbeplan, Personalplan, Beschaffungsplan.
optimale Ansicht
Allzu oft schon hatte Özdemir Jungunternehmer
zu Gesicht bekommen, von ihnen gehört oder gelesen. Es wimmelt in
New York nur so von Leuten, die das Ziel haben Millionär zu werden.
Fast alle scheitern. Dies konnte Özdemir jedoch nicht entmutigen,
im Gegenteil, er wunderte sich, dass nicht noch mehr scheitern. Bei fast
allen, die willentlich versuchten Millionär zu werden, hatte er nämlich
einerseits starkes Bemühen festgestellt, andererseits aber Ansichten,
die sie zwangsläufig in Widerspruch zu ihren Mitmenschen und damit
zu ihren Geschäftspartnern und Konkurrenten bringen. Die meisten dieser
Menschen hatten das Ziel Millionär zu werden. Özdemir nicht:
er wollte ein erfolgversprechendes Konzept umsetzen und dabei Glück
und Zufriedenheit erreichen. Sein Beweggrund war nicht die Gier, möglichst
viel an sich zu raffen. Wer raffgierig wird, schafft sich Feinde, wer Feinde
hat, hat Leute die ihn hassen und die er hasst, dieser Hass bindet Kräfte,
diese Kräfte sind aber für die optimale Bemühung nicht mehr
zu gebrauchen, sie verbrauchen sich ungenutzt. Außerdem schafft Hass
Gegensatz zu anderen. Genau wie Gier: der Gierige will, dass er viel bekommt,
die anderen wenig, Özdemir hatte aber erfahren, dass es keinen Gegensatz
zwischen ihm und den anderen gab. Alles war in ihm und er war in allem.
Er verspürte auch, wie sich in ihm die Gier regte. Aber er nahm sich
vor, sich nicht von ihr beherrschen zu lassen. Er unterdrückte die
Gier auch nicht mit aller Gewalt, denn er hatte keinen Grund, Kraft an
die Gier zu verschwenden. Wann immer er in sich Elemente von Gier bemerkte,
lächelte er der Gier zu. So entwickelte er optimale Ansicht, das Gegenteil
von Verblendung.
optimales Reden
Je näher er der Umsetzung seiner
Geschäftsidee kam, desto mehr Zeit musste Özdemir mit Verhandlungen
verbringen. Er musste mit potentiellen Kapitalgebern reden, bald auch mit
künftigen Angestellten, mit Lieferanten für die Ausstattung seiner
"Grünen Boten" und schließlich auch mit den Medien. Kommunikation
wurde immer wichtiger für ihn. Zum optimalen Reden gehört nicht
nur, wahrheitsgemäß zu reden. Gemeinhin gibt es nur drei Gründe
zu lügen: um sich einen Vorteil zu verschaffen (aus Gier), um jemand
anderen zu verletzen (aus Hass) oder um in jemand anderem falsche Annahmen
zu erzeugen (Verblendung). Wahrheitsgemäß war Özdemirs
Rede sowieso. Aber da er in allem und jedem auch sich selbst sah - sogar
in den hässlichen Zügen seiner Mitmenschen, denn von allem Hässlichen
war ein ganz klein bisschen auch in ihm - wurde seine Rede auch harmoniefördernder.
Sich selbst in dem anderen erkennend, den anderen in sich selbst erkennend,
bedeutete mit sich selbst in Harmonie zu sein auch mit dem anderen in Harmonie
zu sein. Selbstverständlich durfte er dabei nicht sein Ziel aus den
Augen verlieren: das was er mit den jeweiligen Verhandlungen erreichen
wollte. Seine Rede hatte mithin alle drei Eigenschaften optimaler Rede:
sie war wahr, harmoniefördernd und zielgemäß. Etwas anderes
war aus seiner Rede inzwischen verschwunden: das törichte Plappern
über Gott und die Welt, das oberflächliche Gerede über alle
Mögliche, das er noch als Schüler so oft gepflegt hatte. Im System
der achtfachen Optimierung war dafür kein Platz.
optimales Handeln
Selbstverständlich musste sein Handeln
genau so optimal sein wie seine Rede, in Einklang mit dieser stehen. Nur
wer so handelt wie er redet, dem glaubt man. Und nur wer so handelt wie
er redet, lebt mit sich im Einklang, das aber ist eine der Voraussetzungen
für Zufriedenheit. Ein Beispiel hierfür. Özdemir wollte
seine Kapitalgeber davon überzeugen, dass Roller Blades das optimale
Verkehrsmittel für New York sind, wenn es um Geschwindigkeit geht,
und dass Lasten bis 10 kg problemlos auf diese Weise transportiert werden
können. Was lag also näher, als dass er selbst zu den Verhandlungen
auf Roller Blades erschien und seine Unterlagen in einem Rucksack mit sich
führte. Er hatte inzwischen in seinem neu gegründeten Büro
bereits zwei Angestellte und wenn er bei Verhandlungen noch Unterlagen
brauchte, rief er schnell in seinem Büro an. Immer wieder beeindruckte
es so seine Verhandlungspartner, wenn 15 Minuten später die Unterlagen
da waren. Er erlaubte sich diese Demonstration auch in Fällen, in
denen die Unterlagen auch hätten gefaxt werden können. Denn gemessen
an seinem Zweck, die Darstellung seiner Geschäftsidee, war dies optimales
Handeln.
Da sich Özdemir in allen anderen wiedererkannte und Wesenszüge von allen anderen auch in sich, da er sich mit andern ganz tief verbunden wusste, war es für ihn nur allzu klar, dass sein Betrieb auch in sozialer Hinsicht Ausdruck dieses Gefühls der Verbundenheit mit allem sein sollte. Gewinnbeteiligung für die MiarbeiterInnen war in seinem Unternehmen z.B. selbstverständlich.
optimale Lebensführung
Die Gesamtheit allen Handelns nennt man
Lebensführung. In seinem ganzen Handeln drückte sich daher die
Verbundenheit mit allen Wesen aus. Als moslemisch erzogener Mensch hatte
er früher das Almosengeben als eine religiöse Pflicht angesehen
und in einem Maße danach gehandelt, wie man es bei Pflichten tut.
Er gab, aber er gab nicht freudigen Herzens. Seitdem er sich aber mit allen
Wesen verbunden fühlte, spendete er einen nicht unbeträchtlichen
Teil seines Einkommens für ökologische oder soziale Projekte,
die ihm sinnvoll erschienen.
Schon früher hatte er kein Schweinefleisch gegessen, wie es der Islam lehrte. Mit 17 Jahren hatte er einen Film über Schweinehaltung in Deutschland gesehen. In engen Ställen, ohne Tageslicht werden die sensiblen Tiere gehalten, sie haben Angst und Panik, werden aggressiv, so dass sie ihre Aggressionen an den Artgenossen auslassen, abgefressene Ohren und Schwänze sind daher üblich, alles nur damit die Leute billiges Fleisch bekommen. Ihn hatte geschaudert vor so viel Barbarei der Christen. Allerdings hatte der Film auch einen zweiten Teil. Dort ging es um Tiertransporte, konkret: um Rindertransporte aus Mitteleuropa in moslemische Länder. Die Kühe müssen tagelang in engsten Transportern zu Dutzenden stehen, in knallheißen südeuropäischen Ländern ohne Wasser. Sie lecken an den Metallstangen ihrer Gefängnisse, um sich so etwas Kühlung zu verschaffen, viele kommen nur noch tot an, zahlreiche sterbende Kühe werden von ihren von Panik und Hitze in den engen Lastern geplagten Artgenossen zu Tode getrampelt. Er lehnte seither Fleischessen ganz ab, wurde zum Vegetarier. In dieser Haltung fühlte er sich bestärkt, als es ihm gelang, sich eins mit allem Wesen zu fühlen. Er fühlte wie die Kuh fühlt, wie der Mensch fühlt, wie das Schwein fühlt. Alles war in ihm und er war in allem.
Alkoholgenuss war bei seiner Familie verpönt
und auch er hatte sich (fast) immer daran gehalten. Da er jedoch nie ein
besonders strenggläubiger Moslem war, machte er schon einmal Ausnahmen,
z.B. bei der Betriebsfeier. Er fühlte sich am nächsten Morgen
fit, von Kater keine Spur, er hatte zwar Alkohol getrunken, aber mit Maßen.
Erst als er am Abend in der Moschee auf seinem Teppich saß und sich
konzentrieren wollte, merkte er, dass etwas nicht stimmte. Die volle Konzentration
stellte sich nicht ein, beständig ließ er sich ablenken, durch
Geräusche, durch Gedanken. Erst allmählich fiel ihm auf, woher
dieser Mangel an Konzentration kam. Offensichtlich hat der Alkohol durchaus
subtile Auswirkungen, die man aber nur dann verspürt, wenn man in
feinere Bewusstseinszustände kommt. Diese aber strebte Özdemir
jetzt täglich an, sie waren Teil seiner achtfachen Optimierung und
damit auch Teil seiner Geschäftsphilosophie.
Er war ein glücklicher und zufriedener
Mensch geworden und freute sich, dass sein Unternehmen so gut lief, dass
es inzwischen nicht nur in New York, sondern in 17 anderen amerikanischen
Städten und insgesamt in 23 Ländern vertreten war, von Mexiko
City über Sao Paolo bis Bangkok. Und das er - trotz oder wegen seiner
Spendenfreudigkeit - nebenbei noch ein paar Millionen Dollar Rücklagen
erwirtschaftet hat, fand er kein bisschen störend.
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