Was wollte mir der Engel sagen?

Es war in den letzten Juli-Tagen des Jahres 1972, und ich war mit meinem Campingbus – es war inzwischen schon das dritte Fahrzeug diese Art, das ich in meinem noch jungen Leben mein eigen nennen konnte – allein in Schottland unterwegs, irgendwo in den Highlands, also dort, wo Schottland besonders schottisch ist. Es war ein wunderschöner Tag, die Sonne schien auf diese wildromantischen, damals noch völlig unbewaldeten Hügel, auf denen sattes, fleischiges Gras auf feuchten Böden wuchs. Und da es an diesem Tag für Highland-Verhältnisse ungewöhnlich warm war, ungefähr 20 Grad schätzte ich, entschloss ich mich, mich heraus in die Sonne zu setzen.

Ich hatte meinen VW-Bus neben einer dieser B-Roads abgestellt, die sich einspurig durch die Highlands zogen und zwar asphaltiert waren, wo aber in der Mitte der Fahrspur inzwischen wieder Gras wuchs. Auf den befahreneren dieser Straßen begegnete man etwa einmal pro Stunde einem Auto, auf den abseitsgelegeneren vielleicht einmal am Tag. Für den Begegnungsverkehr gab es alle zwei bis dreihundert Meter eine Ausweichstelle, aber manchmal ging es neben der Straße auch recht ebenerdig und mit nicht morastigem, sondern relativ festen Boden weiter, so wie an der Stelle, wo ich mein Auto geparkt hatte und wo ein Weg abging.

Es war einer dieser nicht befestigten Wege, die man gut zum Wandern verwenden kann, wenn man sich auskennt oder eine quarter-inch-map hat, eine sehr gute Landkarte. Wanderwege waren hier nicht ausgeschildert, dazu gab es einfach zu wenige Wanderer und wohl auch keine Wandervereine oder Touristenorganisationen; Schottland war damals vom Tourismus  noch kaum erschlossen. Dieser Weg war eher so etwas wie festgefahrenes Gras, sicher ging es zu irgendeinem einzelnen Gehöft, denn offensichtlich fuhr auf diesem Weg hin und wieder ein Fahrzeug, vermutlich ein Land Rover.

Und diesen Weg war ich einige hundert Meter gegangen, etwas aufwärts, bis sich von einem Hochplateau eine wunderschöne Aussicht ergab: eine Landschaft, wildromantisch und karg, von Gras bedeckt, das nie gemäht wurde und sich in hundert verschiedenen Farbschattierungen, die alle eine Variante von Grün waren, in die Weite erstreckte. Darüber ein tiefblauer Himmel, an dem in rascher Folge – in Schottland ist es immer windig – Schönwetterwolken vorbeizogen. In einiger Entfernung konnte man ein Loch sehen, einer dieser schottischen Seen, die entstanden, als sich die Eiszeit zurückzog, die Gletscher abschmolzen und bei ihrem Rückzug tiefe Mulden gebildet hatten, die nun mit Wasser gefüllt waren, den Lochs.

Ich wusste: dies müsste der ideale Platz zum Meditieren sein. Also setzte ich mich einige Meter abseits des Weges auf eine kleine Erhöhung, die nicht feucht war – bei diesen schottischen Wiesen muss man immer aufpassen, denn das Land ist sehr niederschlagsreich und die Böden sind meist mit einer Torfschicht bedeckt und daher ideale Wasserspeicher. Aber hier war es ganz trocken. Ich setzte mich also mit gekreuzten Beinen nieder, die Hände auf den Oberschenkeln, und begab mich in Meditation.

Nun muss man wissen, dass Meditation damals nicht gerade zu meinen Hauptbeschäftigungen gehörte. Eigentlich hatte ich solche Anwandlungen, nämlich mich mit gekreuzten Beinen hinzusetzen und bewusst meditieren zu wollen, nie zuvor, so weit ich mich entsinnen kann. Zwei, drei Jahre vorher hatte ich einmal die Idee, meditieren zu wollen, aber jemand überredete mich, stattdessen autogenes Training zu machen, das sei gewissermaßen die europäische Variante und daher für unsereinen viel angemessener als dieses asiatische Meditieren.

Ich hatte das auch eine zeitlang gemacht. Man musste sich dabei hinlegen, die Arme lagen neben dem Körper auf der Unterlage, dem Bett oder was auch immer, und sich suggerieren: „Mein rechter Arm wird immer schwerer, ganz schwer“, und das sollte dann eine entsprechende Empfindung auslösen, bei der man den Arm praktisch nicht mehr heben könnte. Ich hatte das einige Male ausprobiert. Doch ich konnte keineswegs eine Schwere in meinem Arm feststellen. Ich hatte im Gegenteil den Eindruck, mein Arm würde immer leichter. Und als ich dann die Augen aufmachte, stellte ich fest, dass mein Arm, den ich doch auf dem Bett rechts von mir abgelegt hatte, deutlich über dem Bett schwebte, als würde er von unsichtbaren, gasgefüllten Luftballons nach oben gehoben. Ich geriet darob derart in Wut – Geduld war damals nicht gerade meine große Stärke, ein Umstand ,der mir leider gut erhalten blieb – dass ich wütend aufstand und die Wand mit Fäusten traktierte. Ich musste dann einige Zeit mit verbundenen Händen herumlaufen, denn die Knöchel an beiden Fäusten waren aufgeschlagen, außerdem war die Wand noch jahrelang blutbedeckt und mit deutlichen Dellen verunziert. So weit also zu meinen Erfahrungen mit autogenem Training oder Meditation.

Aber nun in dieser herrlichen Highland-Landschaft überkam mich das unbedingte Bedürfnis zu meditieren. Ich saß also mit gekreuzten Beinen da, die Augen geöffnet, und begann Zeit und Raum hinter mir zu lassen. Das Gras, die Wolken, die Sonne, der Wind, der meditierende Horst, das Loch, die sanften Hügel, alles verband sich zu einem Gesamtkunstwerk der Soheit. Ich war sofort völlig absorbiert und wenn ich heute sagen sollte, wie ich mich dabei gefühlt habe, so wäre es am angemessensten zu sagen: wie ein Baum oder wie ein Stein; ein Stein, der seit unendlich langer Zeit hier lag, der die Eiszeit hat kommen und gehen sehen, der die Rodungen der Wälder gesehen hat und die Schlachten zwischen Engländern und keltischen Schotten, ein Stein, der Millionen von Male die Sonne im Osten auf- und im Westen wieder untergehen sah und der mehr Regen hatte auf sich herabprasseln lassen, als der ganze weite Ozean Wasser hat. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich da saß, aber es war ziemlich lange. Ob eine Stunde, zwei oder vier, ich weiß es einfach nicht mehr, ich hatte jedes Zeitempfinden verloren, ich war in einem Raum jenseits der Zeit, und obwohl ich mit offenen Augen diese erhaben-romantische Landschaft vor mir liegen hatte, möchte ich behaupten, ich sei auch außerhalb des Raumes gewesen.

Und wie ich so außerhalb von Raum und Zeit in den Weiten des Universums saß, da kam er. Er kam den Weg entlang. Ich weiß nicht, wie ich auf ihn aufmerksam wurde, denn er machte beim Gehen keinerlei Geräusch, aber er kam von links den Weg entlang, der leicht abwärts ging, bis zu der Stelle, wo ich auf einer kleinen Anhöhe saß und sich dann in die Richtung, in die ich mit dem Gesicht saß, die leichte Hügellandschaft hinabschlängelte, irgendwo in Richtung des Lochs. Ich identifizierte ihn sofort als Engel, war aber auch nicht besonders überrascht darüber, einen Engel zu sehen.

Er kam da einfach, so wie Engel eben einen Weg entlang gehen. Natürlich hatte er keine Flügel, es war ja ein richtiger Engel und keine Märchenfigur. Auf jeden Fall belegte ich ihn gedanklich mit dem „Begriff“ Engel, er stellte sich zwar nicht als solcher vor aber den Palibegriff deva kannte ich noch nicht, also war „Engel“ das angemessene Wort, ihn zu beschreiben, wobei „ihn“ vielleicht auch nicht das ganz richtige Pronomen ist, aber das, welches dem Phänomen noch am nächsten kommt, denn wir sagen ja „der“ Engel. Wenn ich sein Geschlecht jetzt identifizieren sollte, so würde ich am ehesten „androgyn“ sagen, denn es waren keine ausgesprochen geschlechtsspezifischen Merkmale an ihm, ich wäre auch nicht auf die Idee gekommen, darauf zu achten, eben weil es ja ein Engel war, und sich die Frage daher gar nicht stellte.

Wie sieht ein Engel aus? Darüber kann ich leider keine allgemeine Auskunft geben, ich kann nur diesen Engel beschreiben, denn derartige Wesen stellen sich bei mir nicht regelmäßig ein. Also dieser Engel war groß, ziemlich groß. Nicht so wie ein Märchenriese, aber doch ziemlich groß, so an die zwei Meter würde ich sagen. Seine Kleidung war etwa so, wie man sie von einem Engel erwarten würde, also ein langes, helles Gewand, etwas ähnlich wie ein Nachthemd. Das Gewand war aber keineswegs das auffallendste an ihm, sondern dieses Leuchten, dieses Strahlen. Es war nicht gleisendhell, nichts wovon man die Augen abwenden müsste, aber ihn umgab eine strahlende Aura, von daher war es gar keine Frage, dass ich ihn sofort als Engel identifizierte. Die ganze Figur war allerdings nicht so materiell gegenständlich wie Menschen oder Tiere. Sie sah zwar völlig wirklich aus und bewegte sich völlig normal, hatte aber so eine leichte Tendenz ins Transparente; nicht dass man durch ihn durchsehen konnte, es war vielmehr so, wie auf einer weichgezeichneten Fotografie.

Dieses wunderschöne – und ich meine hier nicht wunderschön in dem Sinne, wie man das von einer sehr schönen Frau sagen kann, sondern eher von einer spirituellen Schönheit – dieses wunderschöne Geschöpf kam also den Weg entlang, näherte sich mir, ich sah es, und es sah mich auch. Es erhob die rechte Hand wie zum Gruße, und ich tat ihm gleich, das schien mir wohl die angemessene Art einen Engel zurückzugrüßen; und dann sprach er mich an, sagte nur einen einzigen Satz, einen Satz, den ich niemals vergessen werde, obwohl ich mitunter jahrelang nicht daran zurückdachte, er sagte: „Hüte den Vanitas-Geanken!“ Ich nickte ihm zustimmend zu und er verschwand. Nein, nicht so, dass er sich in Luft auflöste, er ging einfach weiter, ich sah ihn noch einen Augenblick auf dem Weg, der dann eine Biegung machte, und damit verlor ich ihn aus den Augen. Da mich die Begegnung zwar etwas überrascht hatte, aber keineswegs völlig erschütterte, es war für mich eher so als sei ein Engel zwar keine alltägliche, aber auch keine wirklich außergewöhnliche Begegnung, war ich gleich wieder in meiner Meditation versunken. Was vielleicht nicht ganz richtig ist: ich war ja nicht aus der Meditation draußen, als mir der Engel begegnete.

Etwas später, ich weiß nicht wie viel später, aber etwas später, kam es zu noch einer Begegnung. Insgesamt dauerte meine Meditation auf diesem Hügel etwa vier Stunden, wie ich feststellte, als ich später wieder zum Wagen zurückkam und auf die Uhr sah. Diese zweite Begegnung war für mich viel schockierender, obwohl hier nur ganz gewöhnliche Menschen auftauchten, dennoch war sie viel erschreckender, denn sie rief mich in die Realität zurück. Ich sah zwei Leute den Weg herabkommen, offensichtlich ein Paar, augenscheinlich Wanderer, der Kleidung nach. Als sie ungefähr so nahe gekommen waren wie der Engel, als er mich ansprach, grüßte ich sie, allerdings nicht mit erhobener Hand, sie waren ja keine Engel, sondern eben wie Menschen: „Grüß Gott!“ Sie sahen sich verwundert an; er fragte: „What did he say?“, und sie: „Well, I don´t know, my dear.“ Und das schockierte mich nun wirklich! Das Entsetzen muss mir aus den Augen gesehen haben, denn als sie meinen Gesichtsausdruck sahen, erschraken die beiden und beeilten sich wegzukommen.

Aber was war es, was mich schockierte? Nun, es war die Tatsache, dass die beiden meinen freundlichen Gruß weder erwiderten, noch ihn überhaupt als Gruß identifizieren konnten. Wo war ich? Ich schaute mich um: da sind doch Berge, bin ich denn etwa nicht in Österreich im Urlaub? Selbst wenn mir irgendwo in den Alpen Engländer begegnet wären, hätten sie meinen Gruß doch zumindest als dieses merkwürdige österreichische Idiom erkennen müssen.

Da saß ich irgendwo, irgendwann und wusste nicht wo und wann und wie ich dorthin gekommen sein mochte. Ich stand auf, sah mich in der vertraut-fremden Landschaft um. Mir war als hätte ich seit Äonen hier gesessen, wäre Teil dieser Landschaft, und nun wusste ich schlicht nicht mehr wo ich war? Ob ich mein Gedächtnis verloren hatte? Ich stand auf, ging ein paar Schritte auf dem Weg. Ich stellte fest, dass ich nicht nur nicht wusste, wo ich bin, sondern auch nicht wann. Welches Jahr haben wir? Ich konnte mich einfach nicht mehr erinnern. Ich versuchte es systematisch: Kann ich wenigstens sagen, welches Jahrhundert wir haben? Leider auch Fehlanzeige.

In dem Moment kam ich an die Wegbiegung, dort unten stand mein VW-Bus. „O.k.,“ sagte ich mir, „das haben wir schon einmal geklärt, 20. Jahrhundert, und es kann nicht vor 1968 sein, weil da sahen die VW-Busse noch anders aus, also letztes Drittel des 20. Jahrhunderts, vermutlich 70er Jahre.“ Ich versuchte weiter logisch zu denken: „Die Leute sprachen englisch und wunderten sich, dass jemand anderes eine andere Sprache sprach, also muss es sich umein englischsprachiges Land handeln. Vielleicht Kanada?“

„Mäh“, sagten die Schafe am Wegesrand. „Aha,“ stellte ich fest, „Schafe, das spricht eher für Australien oder Neuseeland. Aber ich bin mit dem Auto da, ich spreche deutsch, werde also aus Deutschland sein, das ist ein deutsches Auto, ich werde es mitgebracht haben. Wenn ich aber in Australien bin und das Auto dabei habe, muss ich mit dem Schiff gekommen sein. Gibt es irgendeine Erinnerung an eine Schiffspassage an eine Schifffahrt?“ Und da endlich dämmerte es mir wieder: die Fähre, der Ärmelkanal – ich war in Großbritannien!

Soweit also die historische Erinnerung, nunmehr kommt die Interpretation, dieses Ereignisses.

Der Endteil der Geschichte ist für diese Betrachtung irrelevant. Dass ich ihn hier wiedergegeben habe, dient nur der Verdeutlichung, wie weit ich in meiner Meditation Raum und Zeit entrückt war. Wesentlich sind hingegen drei Dinge, nämlich dass ich überraschend meditiert habe, dass ein Engel auftauchte und dann dieser ominöse Vanitas-Gedanke.

Die Tatsache, dass ich meditiert habe und augenscheinlich in der Meditation recht tief gekommen bin, führe ich darauf zurück, dass ich in früheren Leben meditiert haben muss, sonst wäre mir nicht an dieser (und einigen weiteren Stellen des Lebens) dieses Bedürfnis aufgestiegen und hätte mich relativ weit getragen. Offensichtlich lösen bestimmte Gefühle in mir dieses Verhaltensmuster aus. Eine andere logische Erklärung sehe ich nicht.

Und nun zum Engel. Dass ich die Bezeichnung „Engel“ damals gewählt und auch jetzt beibehalten habe, liegt darin, dass es der geeignetste deutsche Name ist, ein solches Wesen zu klassifizieren. Bis dahin hatte ich Engel für Phantasiewesen gehalten, die zwar in Märchen und religiösen Geschichten auftauchen, aber eher mythologische Figuren sind. Das geschilderte Erlebnis hat natürlich dazu geführt, dass mir von da an klar war, dass es solche engelhaften Wesen gibt, und dass wir mit ihnen Kontakt aufnehmen können, aber nur wenn wir in sehr verfeinerten spirituellen Zuständen sind, wie beispielsweise in meditativen Vertiefungen.

Im Buddhismus nennen wir diese Wesen deva, d.h. wörtlich Götter, meint aber solche Wesen, die im Deutschen am ehesten als „Engel“ klassifiziert werden können. Devas leben in ihrer eigenen Sphäre, sie können aber von Menschen erkannt werden, wenn diese sich in verfeinerten spirituellen Zuständen befinden. Man sagt auch, wenn man in den dhyanas, den meditativen Vertiefungen wäre, würde man in der Sphäre der devas sein. Damit ist für mich als Buddhisten klar, dass es sich bei dem von mir als Engel bezeichneten Wesen, um einen deva gehandelt haben musste.

Bleibt noch diese Aussage des deva – so werde ich ihn von nun an nennen – ich möge den Vanitas-Gedanken hüten. Als ich nämlich zurück bei meinem Auto war und über das Geschehen reflektierte, musste ich zugeben, dass ich keine Ahnung hatte, was ein Vanitas-Gedanke sei. Ich wusste, dass das Wort vanitas aus dem Lateinischen stammte, ich hatte aber seine Bedeutung vergessen und vermutete damals zunächst – wie sich herausstellte, nur teilweise zu recht – dass es sich um so etwas wie Weisheit oder Streben nach dem Vollkommenen handeln müsste. Da ich in den schottischen Highlands war und es damals auch noch kein Internet und damit keine Internet-Cafes gab, sah ich auch für die nächsten Wochen keine Chance, herauszufinden, was sich denn hinter diesem ominösen Begriff versteckte.

Eine Woche später verliebte ich mich recht heftig und damit war der Vanitas-Gedanke erst einmal weit weg. (Wie ich inzwischen weiß aber nicht der carpe-diem-Ansatz, der mit dem Vanitas-Gedanken in einer kritischen Spannung liegt, und das mindestens seit dem 17. Jahrhundert, denn genau dieser führte zu meiner heftigen Verliebtheit.) Und wie das so geht, wenn man sich frisch verliebt hat, verlor ich den deva und seinen Rat bald aus den Augen. Es gab ja auch sooooo viel anderes zu tun. Und immer wenn ich mich an den deva und seinen Rat erinnerte, war leider kein Nachschlagewerk zur Hand, so dass es zwanzig Jahre dauerte, bis ich endlich in einem Lexikon unter „vanitas“ nachschlug - und das Wörterbuch sofort wieder entsetzt schloss, denn dort stand, „vanitas“ hieße „Eitelkeit“ - und mit so etwas wollte ich nun wirklich nichts zu tun haben, nein, so etwas, ich will doch nicht so ein blöder Fatzke sein, der vor dem Spiegel steht, sich die Haare gelt und womöglich die Augenbrauen zupft. Und wieder hatte ich den Rat des deva vergessen. Nein, nicht wirklich vergessen, ich hatte vielmehr den Eindruck, dass unter dem Vanitas-Gedanken etwas anderes verstanden werden müsste als diese blöde Übersetzung aus dem Wörterbuch, forschte aber erst einmal nicht weiter, hatte den Gedanken eben etwas aus den Augen verloren. Und abermals gingen zwanzig Jahre ins Land.

„Vanitas vanitatum et omnia vanitas” Die Vergänglichkeit der Vergänglichkeit und alles ist vergänglich.

Das könnte fast ein buddhistischer Koan sein, obwohl es aus der Bibel ist (Pred. 1,2). Wenn ich heute im Wörterbuch nachschlage, finde ich für vanitas „leerer Schein, Nichtigkeit, Vergänglichkeit“. Wie kam dann mein Nachschlagewerk dazu vanitas mit Eitelkeit zu übersetzen? Nun, inzwischen weiß ich: Martin Luther ist schuld. Er übersetzte bekanntlich die Bibel ins Deutsche und verwendete dabei bei der Übersetzung dieses Wort. Eitel scheint im Mittelalter auch vergänglich gehießen zu haben, und Luther verwendete die damals schon veraltete Übersetzung beim Buch Kohelet, dort heißt es (Prediger 1,14) nach Luther: „Ich sah alles Tun, das unter der Sonne geschieht; und siehe, es war alles eitel und Haschen nach Wind.“ Die deutsche Einheitsübersetzung der Bibel von 1980 übersetzt jedoch: „Ich beobachte alle Taten, die unter der Sonne getan wurden. Das Ergebnis: alles ist Windhauch und Luftgespinst.“ Also nix mit Eitelkeit, es geht vielmehr um Vergänglichkeit.

Was aber ist Vergänglichkeit in der buddhistischen Sicht. Vergänglichkeit, auf pali anicca, ist eines der drei laksanas, der drei Wesensmerkmale alles abhängig Entstandenen, man könnte auch sagen alles Irdischen, also von allem außer Nirvana. Diese drei laksanas sind dukkha (Unvollkommenheit), anicca (Vergänglichkeit) und anatta (Wesenslosigkeit, Prozesshaftigkeit).

Was also wollte der deva mir sagen, als er mich meditieren sah? Nun er machte mich darauf aufmerksam, welches der drei laksanas ich langfristig (deshalb: Hüte es!) in den Mittelpunkt meiner Betrachtungen stellen sollte, nämlich Vergänglichkeit.

Nun könnte man einwenden, dass der deva keine real existierende Person war, sondern eine Projektion meines Geistes, die in der Tiefe meiner Meditation aufgestiegen war, und der Vanitas-Gedanke irgend etwas, das ich während meiner Schullaufbahn einmal vernommen hatte, was jedoch aus meiner bewussten Ebene ins Unbewusste abgestiegen war. Dafür spräche auch, dass mir der Spruch: „Vanitas vanitatum et omnia vanitas“, während meiner Schullaufbahn in Latein schon einmal über den Weg gelaufen war. Aber das würde letztlich nichts anderes bedeuten, als dass aus meinem Unbewussten etwas aufgestiegen war, was mich ermahnen wollte, einen wichtigen Aspekt mehr in den Mittelpunkt meiner Betrachtungen zu stellen. Diese beiden Interpretationsmöglichkeiten gelten jedoch nur, wenn man zwischen einem „in mir“ und einem „da draußen“ unterscheidet, das würde wiederum eine Subjekt-Objekt-Dualität voraussetzen, die genau durch Einsicht in die drei laksanas überwunden werden sollte. Damit ist dieses Problem obsolet.

Bleibt natürlich die Frage, warum mir gerade jetzt dies alles auffiel. Warum war jetzt die Zeit reif, bei etwas anzuknüpfen, das mir – von außen oder von innen – verkündet worden war: Hüte den Vanitas-Gedanken?

Ich befand mich zu dieser Zeit auf einer 24-tägigen Einzelklausur: Meditation, Studium der buddhistischen Lehre und Reflexion darüber stand auf meiner Agenda. Und während ich die erste Zeit meiner Einzelklausur mit meinen Meditationen recht zufrieden sein konnte, war plötzlich, seit etwa zwei, drei Tagen ein altes Meditationshindernis wieder da: Müdigkeit, tiefe Müdigkeit. An äußeren Bedingungen konnte es nicht liegen, also war es irgendein innerer Widerstand. Mir war klar, dass es sich um einen Widerstand gegen die Objekte meiner Meditation handeln musste. Irgend etwas in mir sagte: Nein, das nicht! Und schaltete ab.

Und dann plötzlich war dieser Satz wieder in meinem Kopf: Hüte den Vanitas-Gedanken. Ich wusste da zwar immer noch nicht, was Vanitas ist, war ja noch immer von Luthers etwas misslungenem Übersetzungsversuch irregeleitet, aber mein Entschluss stand fest: ich würde mich dieser Vanitas oder auch diesem Vanitas-Gedanken zuwenden müssen, was immer es war. Das schien es, was mir mein Körper mit seiner Müdigkeit sagen wollte; und plötzlich war ich hellwach, jetzt wo ich wusste, was ich zu tun hatte, womit ich mich zu beschäftigen hatte.

Ich saß auf meinem Kissen, strahlend wie ein junger Gott, richtete die Augen auf die Buddha-Figur mir gegenüber, und es schien mir, als würde diese Figur zurücklächeln, der Raum sah plötzlich viel freundlicher, viel einladender aus. Er war mit vielen winzig kleinen Elektrolämpchen geschmückt, wie man sie in der Weihnachtszeit z. B. an den Fenster verwendet. Nur eine einzige Kerze brannte, sie stand direkt vor der Rupa, der Buddhafigur und ließ die Hände und das Gesicht der Figur in mildem Licht strahlen.

Ich wollte gerade zufrieden meine Augen wieder schließen, da vernahm ich ein merkwürdiges zischendes Geräusch – es kam aus der Gegend der Rupa. Erschrocken starrte ich auf den Schrein – und sah etwas Unheimliches. Die Kerze leuchtete hell auf, und dann wurde ihre Flamme kleiner, immer kleiner, obwohl die Kerze doch noch groß genug war, noch Stearin für viele, viele Stunden hatte. „Um Himmels willen“, dachte ich, „gerade jetzt, wo ich so guten Mutes über meine künftigen Meditationen war, wird diese Kerze doch nicht erlöschen, das wäre ein miserables Omen.“

Doch die Flamme wurde immer kleiner. „Bitte, bitte nicht!“ dachte ich, doch die Flamme war jetzt schon winzig klein. „Wie soll meine Meditation gelingen, wenn ich es nicht einmal schaffe, eine brennende Kerze am Brennen zu halten?“ frug ich mich und begann meine ganze Willenskraft auf die Kerze, auf den Docht zu konzentrieren. Doch sie verlosch, zunächst war die Flamme noch sehr klein und dann – dann war sie aus, nur der Docht klomm noch. Zu spät!

Dennoch konzentrierte ich weiter meine ganze Willenskraft auf den nur noch leicht glimmenden Docht. „Buddha hilf mir! Das soll kein schlechtes Omen sein, sie soll wieder strahlend leuchten!"
Und dann, entgegen meinen physikalisch-naturwissenschaftlichen Erwartungen, zeigte sich wieder eine ganz kleine Flamme, eine Flamme, die anwuchs, größer wurde und heller und klarer zu leuchten schien als je zuvor. Und das Lächeln der Rupa schien mir noch milder als sonst.

Nun weiß ich inzwischen nicht nur was vanitas ist, nämlich Vergänglichkeit, sondern ich weiß auch mehr über den Vanitas-Gedanken, denn dass war ja der Begriff, den der deva verwendet hatte, also recherchierte ich danach. Der Vanitas-Gedanke befasst sich natürlich mit Vergänglichkeit, und er ist ein beliebtes Kunstmotiv, vor allem in der Malerei. Totenschädel, welkende Blumen, verrottendes Obst und erloschene Kerzen sind einige der wichtigsten Motive bildnerischer Kompositionen  des Vanitas-Gedankens.

Und da fallen mir sofort zwei Dinge ein. Einmal natürlich die erlöschende Kerze auf meinem Schrein. Diese war offensichtlich nicht nur Bestätigung meiner Willenskraft, sondern das Erlöschen war auch ein Vanitas-Symbol. Und das obwohl sie nicht endgültig verloschen ist – oder vielleicht sogar gerade deshalb, heißt es doch: Vanitas vanitatum et omnia vanitas. Und das Zweite, was mir dazu einfällt ist, dass ich vor einigen Jahren an einer Veranstaltung mit dem Titel „Malen und Meditieren“ teilnahm. Krönender Abschluss dieser Veranstaltung war ein Bild, das jeder nach einem Motiv seiner Wahl zeichnen oder malen konnte. Mein Bild hieß „Scully mit Kerz´“ und es zeigte einen Totenschädel und daneben eine erloschene Kerze. Ich wusste zwar nicht, was der Vanitas-Gedanke ist und dass er ein wichtiges Motiv in der Malerei ist, aber ich verwendete ihn, irgend etwas aus meinem Inneren versuchte sich dem Vanitas-Geanken zuzuwenden, wann immer sich die Gelegenheit dazu bot.

Und auch in der Literatur spielte der Vanitas-Gedanke eine wichtige Rolle, entscheidend prägte er die Literatur des Barock. Bei meinen Recherchen dazu stieß ich immer wieder auf zwei Namen, den eines Lyrikers und den eines Prosadichters. Der Lyriker war Matthias Gryphius, und ich erinnere mich inzwischen wieder, dass dieser zu meiner Schulzeit im Deutschunterricht eine nicht unbeträchtliche Rolle spielte, der andere Dichter war Johann Jakob Christoph von Grimmelshausen.

Vom Fenster meines Meditationsraumes, in dem ich gerade sitze, kann ich das Denkmal des „Simplizissimus“ sehen, der bekanntesten Roman-Figur des hier in Gelnhausen geborenen Barock-Dichters Grimmelshausen. Daneben, gewissermaßen als Nachbarhaus von Meditation am Obermarkt, steht ein großes Verwaltungsgebäude; hier war bis 1542 ein katholisches Kloster. Mmanchmal habe ich mich gefragt, ob ich gezielt hierher nach Gelnhausen gegangen bin, weil ich aus früheren Existenzen Erinnerungen an diesen Ort und an das Kloster habe.

Das Kloster wurde 1542 – die Reformation Martin Luthers hatte in Gelnhausen Einzug gehalten – in eine Lateinschule umgewandelt worden – vanitas vanitatum et omnia vanitas. Hier ging Johann Jakob Christoph von Grimmelshausen im Barock zur Schule. Später wurde die Schule nach ihm benannt: Grimmelshausen-Gymnasium.

Und so fügt sich eins ins andere, wächst zusammen, was zerrissen erschien, kommt ein Mosaikstein zum anderen. Unnötig zu sagen, dass ich in den anderthalb Jahren hier in Gelnhausen schon drei Romane von Grimmelshausen gelesen habe, darunter die „Landstörzerin Courage“ in der der Vanitas-Gedanke noch viel deutlicher ausgearbeitet ist, als im Simplizissimus. Während meiner Schulzeit war übrigens Brechts überarbeitete Fassung dieses Romans, die „Mutter Courage“, mein Lieblingsstück.

Die Courage, Grimmelshausen, eine erlöschende Kerze, mein Umzug nach Gelnhausen, Scully mit Kerz und ein Engel – oder deva – in den schottischen Highlands, es fügt sich eins ins andere. Was zerstreut war und unklar, ergibt allmählich einen Sinn, fügt sich zusammen wie die Pinselstriche eines Malers zum Gesamtkunstwerk. Ich bin angekommen.

Ich werde den Vanitas-Gedanken üben, hüten.
Ich werde den anicca-Aspekt in meiner Praxis stärker betonen.

O wunderbares Tun! O unbeständigs Stehn!
Wenn einer wähnt, er steh, so muss er weitergehn.
O schlüpfrigster Stand! Dem statt vermeinter Ruh
Schnell und zugleich der Fall sich nähert zu,
Gleich wie der Tod selbst tut. Was solch hinflüchtig Wesen (anatta)
Mir habe zugefügt, das wird hierin gelesen;
Woraus zu sehen ist, dass Unbeständigkeit (anicca)
Allein beständig ist - immer, in Freud und Leid (dukkha).
(Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen)

© Copyright 2011 by Horst Gunkel, Gelnhausen
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Zu Meditation am Obermarkt
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