Buddhismus und Gesellschaft - Teil II -

von Franz Johannes Litsch

Wir schaffen die Welt

Buddha lehrte: Ausgangspunkt der vom Menschen geschaffenen Verhältnisse ist der menschliche Geist: "Vom Geiste gehen die Dinge aus, im Geist sind sie gemacht", so heisst es im Eingangsvers des Dhammapada (Pali-Kanon). Dies besagt, die Dinge sind letztlich so, wie wir sie selbst geschaffen haben. Sie sind das Produkt unserer selbst, und sie sind das Produkt unseres Geistes. Sie sind nicht einfach vorgegeben, sie sind nicht unabänderliches Schicksal, wir sind ihnen nicht als unschuldige Opfer ausgeliefert. Es ist nicht wahr, dass wir an den Verhältnissen, an unserem eigenen Leben oder an uns selbst nichts verändern können. Wir sind immer die Schöpfer unserer selbst und unserer Welt. Wir selber, unsere mentalen Vorgänge sind verantwortlich für das, was wir sind und das was ist. Wir sind verantwortlich, weil wir die Welt, die wir erleben, in uns selbst, in unserem Bewusstsein erschaffen. Die Welt wird nicht einfach von unserer Wahrnehmung gespiegelt, sondern die Welt entsteht als solche erst in uns und sie entsteht so, wie wir sie entstehen lassen, wie wir sie sehen wollen oder zu sehen gewohnt sind. Es ist also nicht so, dass wir die Welt so sehen, wie sie ist, sondern dass die Welt so ist, wie wir sie sehen.)

Die Welt ist so, wie wir selbst sind. Die Welt ist der Spiegel unserer selbst. Die Welt ist unser in die Materie projezierter Geist, unser nach Aussen gekehrtes Inneres. Die uns umgebende und gegenüberstehende Wirklichkeit ist Ausdruck, Manifestation und Materialisierung unserer Gedanken, Absichten, Wünsche, Empfindungen und Gefühle.

Diese, neben der Lehre von paticca samuppada zweite fundamentale Lehre Buddhas besagt nicht, wie so oft missverstanden wird (an westlich- oder hinduistisch-philosophischer Tradition orientiert), dass Buddha irgendeiner Art von erkentnistheoretischem Solipsimus, Subjektivismus oder Idealismus das Wort geredet hätte. Buddha hat nie die Existenz von Dingen, Erscheinungen und Bedingungen "ausserhalb von uns" bezweifelt. Er hat nie behauptet, die Welt existiere "nur in uns", denn damit wäre er ja hinter seine Einsicht und Lehre von der Nicht-Existenz eines Ichs d.h. eines vom Objekt abtrennbaren Subjekts zurückgefallen. Wie wir bereits sahen, wird ja nicht nur die wahrgenommene Welt von uns geschaffen, sondern auch das wahrnehmende Ich. Gibt es jedoch kein Ich, kein Subjekt, keine Innenwelt mehr, so gibt es auch kein Nicht-Ich, kein Objekt, keine Aussenwelt mehr. Unsere Wahrnehmung der Welt schafft die Welt und schafft dabei auch uns selbst. Beides, Ich und Welt sind eins und untrennbar eine Wirklichkeit.

Das heisst allerdings: ich bin für alles verantwortlich und alles ist für mich verantwortlich. Mein Selbst und mein Leben ist nicht abtrennbar vom Leiden und Glück unserer Welt, nicht vom Leben und Tod der Pflanzen, der Bäume, der Tiere, nicht vom Leiden und der Überwindung des Leidens der Menschen und nicht abtrennbar von den Bedingungen, die all dem zugrundeliegen. In all dem leben, leiden, sterben, wachsen und wiedererstehen wir selbst. Darum ist meine Verblendung auch die deinige und mein Weg des Erwachens auch dein Weg des Erwachens. In diesem Sinne stellt S.H. der 14. Dalai Lama in den Mittelpunkt seiner Botschaft und Lebenspraxis die Einsicht in unsere "universale Verantwortlichkeit"). Das Satipatthana Samyutta Sutta (Nr. 19) fasst dies in schlichter Klarheit in dem Satz:

"Auf mich selbst achtend, achte ich auf den anderen,
Auf den anderen achtend, achte ich auf mich selbst."
Unser Ichkonzept ist identisch mit dem Dualismus von Subjekt und Objekt. Ich und Welt gehen aus dieser Trennung hervor. Dabei wird unser Ich mit dem Subjektanteil unseres Bewusstseins identifiziert. Dementsprechend wird der Objektanteil zum Nicht-Ich, zur Aussen-Welt, zum Anderen, zum Fremden. Doch wie das Subjekt auf dem Weg der trennenden Wirklichkeitssicht - auf Grund der wechselseitig bedingten Kontinuität der mentalen Vorgänge - zur scheinbar festen dauerhaften Entität wird, so werden auch die Objekte des Bewussteins - auf Grund ihrer wechselseitig bedingten Kontinuität - zu scheinbar festen, dauerhaften Einheiten und Gebilden unabhängig davon, ob sie nur Begriffe sind (wie "Freiheit", "Kapital" oder "Gott") oder ob sie Erscheinungen bezeichnen, die "ausserhalb von uns" existieren und "Dinge", "Gegenstände" oder "Wesen" genannt werden.

Auf der Grundlage dieser verobjektivierenden, substanzierenden, verdinglichenden Wahrnehmung schaffen wir Objekte, Mächte, Verhältnisse, die sich schliesslich verselbständigen und uns, dem Subjekt bzw. ihrem Erzeuger nun fremd und feindlich gegenüberstehen. Wir schaffen eine entfremdete Welt, die uns existentiell bedroht und die uns zu Opfern unserer eigenen Schöpfung macht. Unser herrschendes Ichkonzept, das sich als "Freiheit" von allem ausgibt, stellt sich als unser eigenes Gefängnis, als Ursprung unserer eigenen Unterwerfung und Versklavung heraus.

Die Bereiche des Leidens

Auf der Grundlage von paticca samuppada bestreitet Buddha allerdings nicht einfach nur die Existenz eines Objekts, das "Ich" genannt werden kann, sondern benennt zugleich auch die Phänomene, aus denen unsere Vorstellung von einem Ich und einer Person hervorgeht. Dem begegnen wir in der Lehre von den 5 Skandhas, den sogenannten "fünf Gruppen der Anhaftung". Darin hat Buddha 5 Ebenen der menschlichen Existenz aufgezeigt, die unsere Vorstellung von einem Ich oder einer dauerhaft und abgrenzbar existierenden Person ausmachen. Es sind dies die Wirklichkeitsebenen: Körper (rupa), Empfindungen (vedana), Wahrnehmungen (sañña), Geistesformationen (sankhara), Bewusstein (vinññana).

Ein von uns als menschlich identifiziertes Wesen existiert auf allen diesen fünf Ebenen und zwar durch Prozesse und Wechselbeziehungen, die innerhalb und zwischen diesen Ebenen in kontinierlichem Fluss aufeinanderfolgen. Nichts innerhalb dieser Prozesse ist dauerhaft und beständig und nichts davon hat eine feste Grenze oder Identität. Dauerhaft ist lediglich der Fluss, die fortlaufende Bewegung selbst. Die erlebte Kontinuität allein ist es, die uns die Vorstellung eines festen, beständigen Ichs und fester, beständiger Dinge vermittelt. Unser Nichterkennen dieses Vorgangs bringt uns dazu, die Kontinuität dem Ich und den Dingen selbst zuzuschreiben. Die in unserer Alltagswahrnehmung vermeintlich klar fassbare menschliche Person wird im Buddhismus darum als ein in Wirklichkeit lediglich "Zusammengesetztes" gesehen, das nur auf Grund unserer Anhaftung an seinen Daseinselementen und -Momenten als exakt identifizierbar und definierbar erscheint. Die Tatsache unserer Anhaftung an der dauerhaften und abgrenzbaren Realität des Zusammengesetzten bewirkt unser Leiden.

Es ist nur wieder folgerichtig zu erkennen, dass dieser Vorgang der leiderzeugenden Identitätsbildung sich nicht nur in Bezug auf die einzelne menschliche Person vollzieht, sondern dass er ebenso in der menschlichen Gesellschaft und ihren kulturgeschichtlichen Erscheinungen zu finden ist. Dem folgend können wir sagen: die menschliche Gesellschaft mit all ihren starren mächtigen Institutionen und Strukturen ist nichts anderes als die Projektion oder Vergrösserung des Einzelindividuums nach aussen.

All unsere Probleme und Konflikte auf der Ebene von Gesellschaft, Nation, Kultur, Menschheit, Umwelt haben keine anderen Ursachen, Gesetze und Antriebe als die innerhalb jeder einzelnen menschlichen Person. Sie alle sind in jedem von uns enthalten. Doch machen wir – wie im Vorgang der Verselbständigung (Ver-Selbstung) individueller Prozesse zur realen, autonomen Person – auch gesellschaftliche Erscheinungen, Prozesse, Strukturen und Kräfte zu realen, autonomen Gebilden, die gleichsam als Personen oder Ich-Einheiten auf kollektiver Ebene ("der Deutsche", "der Staat", "die Wirtschaft", "die Technik") auftreten. Als solche beginnen sie selbständig zu agieren und werden zu dem, was wir dann "Realität" nennen und als "notwendig" und "unabänderlich" erklären. Tatsächlich beruhen die meisten dieser gesellschaftlichen Mächte und Zwänge lediglich auf unserer selbst zu verantwortenden, selbsttäuschenden Anhaftung.

Anhaftendes Denken und Handeln schafft behaftete Wirkungen und Folgen. Diesen Aspekt des bedingten Entstehens nannte Buddha Karma. Behaftete Wirkungen und Folgen, sog. karmische Verstrickungen halten den Einzelnen zutiefst im Leiden fest. Die Umgangssprache nennt dergleichen zutreffend einen "Teufelskreis", Buddha sprach vom "Rad der Wiedergeburt", also der Erneuerung und Fortpflanzung von Leid (Samsara). Nirgendwo wird diese Logik deutlicher wie in der Anwendung von Gewalt. Gewalt gebiert nichts als Gewalt, so lehrte uns Buddha. Nie war und ist Gewalt in der Lage, sich selbst zu überwinden sondern immer nur dazu, sich zu vergrössern (zu eskalieren) und zu wiederholen.)

Wie es individuelles Karma gibt, so gibt es – wo es kollektive Formen von Selbst gibt – auch kollektives Karma. Aus wechselseitig bedingtem Entstehen gehen historische Erscheinungen und Ereignisse hervor, die wiederum die nachfolgenden Erscheinungen und Ereignisse prägen. Da die meisten dieser Prozesse auf Anhaftung beruhen und von Anhaftung geprägt sind, schaffen sie sog. karmische Wirkungen und Prozesse, die zu tragischen historischen Leidensgeschichten werden. Kollektive karmische Handlungen und Absichten lassen kollektive Kreisläufe des Leidens entstehen, die die jeweiligen geistigen Zustände immer mehr vergiften und schliesslich zu riesigen gesellschaftlichen Problemen und Katastrophen führen.) Die jüngere Menschheitsgeschichte ist in erschreckendem Ausmass geprägt davon.

Die Wurzeln des Leidens

Unser grundlegendes Nicht-Wissen über uns selbst (und die Welt), unsere Selbsttäuschung oder Ich-Illusion äussert sich nach der Lehre des Buddha mental insbesondere als Gier (lobha), Hass (dosa) und Verblendung (avijja). Dabei bedeutet Gier: Haben-Wollen, Hass: Nicht-Haben-Wollen und Verblendung: Illusion und Ignoranz über uns selbst und über die Wahrheit der Wirklichkeit. Diese drei Geistesgifte sind nach Buddha die Quellen, aus denen ganz konkret alles Leid für uns selbst und für die Welt hervorgeht.

Gier, Hass und Verblendung sind die Faktoren, die insbesondere heute das globale gesellschaftliche Leben weithin beherrschen. Sie prägen das tägliche Denken und Leben der Einzelnen und sie prägen unsere gesellschaftlichen Beziehungen und Verhältnisse. Sie manifestieren sich in Strukturen und Institutionen der Gier, des Hasses und der Verblendung und in Formen der institutionellen Gewalt. Die beherrschenden Mächte der modernen globalen Gesellschaft können gar in überraschender Weise als der unmittelbare Ausdruck exakt jener von Buddha genannten drei Geistesgifte erkannt werden. Die "Gier" (Habenwollen, Besitz, Konsum, Profit) ist das Grundprinzip, das dem heutigen globalen Wirtschafts- und Verteilungssystem zugrundeliegt. Der "Hass" (Ablehnung, Feindschaft, Aggression, Gewalt) ist das Grundprinzip, das dem globalen Militär-, Rüstungs- und Bewaffnungssystem unterliegt. Und die "Illusion" ist das Grundprinzip, welches das globale Medien-, Informations- und Unterhaltungssystem beherrscht. Diese drei, die Menscheit heute weltweit bestimmenden gesellschaftlichen Mächte mit ihren jeweiligen Institutionen sind nichts anderes als die Mächte und Kräfte, die auch den Einzelmenschen bestimmen. Sie haben ihre Wurzel allein in uns selbst. Aber sie sind die riesenhaften Manifestationen und Projektionen unseres eigenen Geistes, unserer Innenwelt in die Aussenwelt.)

Wir können dieselben Mächte auch in den in der Moderne herausgebildeten, dominierenden gesellschaftlichen Ideologien und politischen Antagonismen erkennen: in Kapitalismus, Kommunismus und Faschismus. Diese enthüllen sich uns als die jeweilige weltanschauliche Verabsolutierungen eines dieser drei Geistesgifte. Der Kapitalismus beinhaltet die Gier (die Sucht nach Geld, Kapital, Profit, Besitz und Konsum) als beherrschendes gesellschaftliches Leitprinzip, der Sozialismus den Hass (gegen die Klasse der Herrschenden, Besitzenden und Ausbeuter) und der Faschismus die Verblendung (über "Wir" und "die Anderen", die Nation, die Rasse, die Hautfarbe). Doch wie grundsätzlich nichts voneinander trennbar ist, enthalten jene drei die jeweils anderen Aspekte ebenfalls in sich und sie alle produzieren letztlich Gewalt und erzeugen Formen und Strukturen der Gewalt.)
Gewalt hat ihren Ursprung in extremer Verblendung. Gewalt will Wirklichkeit zwingen, anders zu sein oder auch nicht zu sein. Gewalt ist fanatische Wirklichkeitsverweigerung und führt darum fast immer zum Widerstand, zur Gegengewalt und zum Krieg. So entsteht aus Gier, Hass und Verblendung der Krieg der Kassen, der Klassen und der Rassen.

Wie bereits Buddha unter diesen "drei Geistesgiften" der Gier die grösste Aufmerksamkeit zukommen liess und sie als die vorherrschende Quelle des menschlichen Leids identifizierte, so ist heute die Vorherrschaft der Gier in Form der global herrschenden, konsumistischen Ökonomie die gesellschaftliche Form, die unsere Welt am stärksten erfasst hat und alle davon bisher noch unberührten Daseinsbereiche in ihren Sog zieht. Wenn ‚Globalisierung‘ inzwischen zu einem Droh- und Angstbegriff geworden ist, dann nicht eigentlich deshalb, weil heute weltweit wirtschaftlich produziert und ausgetauscht wird. Solche weiträumigen wirtschaftlichen Zusammenhänge gab es bereits in den Zeiten des klassischen Altertums. Nein, im Begriff Globalisierung kommt tiefergehend zum Ausdruck, dass nunmehr alles und jedes, jeder Mensch und jeder Gegenstand und jeder Ort und jeder Aspekt der Wirklichkeit immer stärker von diesem einen einzigen Antrieb, nämlich der wirtschaftlichen Gier nach Haben und Konsumieren bestimmt und beherrscht wird.)

Befreiung ist möglich

Was wir bis hierin betrachtet haben, gibt das wieder, was Buddha in der Ersten und Zweiten Edlen Wahrheit zusammenfasste: Es gilt das Leiden ernsthaft und tiefgehend zu sehen und wahrzunehmen, es gilt die Ursachen des Leidens, insbesondere die falsche Vorstellung von uns selbst zu ergründen und zu erkennen. Indem wir die Ursachen unseres Leidens wirklich aufdecken, sind wir fähig, die Entstehung neuen Leids zu beenden und den Ausstieg aus dem Kreislauf der Gier, des Hasses und der Verblendung zu realisieren. Es gibt also Auswege, Wege zur Befreiung - so lehrt uns der Buddha in der Dritten Edlen Wahrheit.
Der Weg der Befreiung beginnt in der Tradition des Buddhismus mit der "Zuflucht zu Buddha, Dharma und Sangha". Dies kann allerdings nicht unserer ganzen Gesellschaft und schon gar nicht der Menschheit als Ausweg gewiesen werden, solange darunter der Übertritt, die Bekehrung oder das Bekenntnis zum Buddhismus als Religion verstanden wird. Tatsächlich war es auch nie Buddhas eigene Absicht oder Zielsetzung, eine neue Religion, oder auch die erste Weltreligion zu gründen, zu der der Buddhismus historisch geworden ist. Daran erinnernd schrieb der weltweit prominenteste Vertreter des heutigen Buddhismus, S.H. der Dalai Lama in einem offenen Brief an die deutschen Buddhisten: "Ich bin nicht daran interessiert, andere Menschen zum Buddhismus zu bekehren, sondern daran, wie wir Buddhisten, entsprechend unseren eigenen Vorstellungen zu einer menschlichen Gesellschaft beitragen können.")



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