Aus der Vortragsreihe "Der Edle Achtfältige Pfad (2015)"
Vortrag 3

       samma ditthi - Rechte Schauung

          zuletzt geändert am 30. Oktober 2015
Im ersten Vortrag aus der diesjährigen Reihe "Der Edle Achtfältige Pfad" befassten wir uns mit der wichtigsten Lehre des Buddha, dem "Bedingten Entstehen". Beim zweiten Vortrag ging es um eine Anwendung des Bedingten Entstehens, nämlich darauf, wie es kommt, dass wir ganz häufig unzufrieden sind; der Buddha nennt dies die Vier Edlen Wahrheiten, nämlich
  • Die Wahrheit von der Unzufriedenheit (dukkha)
  • Die Wahrheit vom Entstehen der Unzufriedenheit
  • Die Wahrheit vom Aufhören des Unzufriedenseins
  • Die Wahrheit vom Pfad zum Beenden der Unzufriedenheit
Dieser "Pfad zum Beenden der Unzufriedenheit" ist das, was der Buddha auch den "Den Edlen Achtfältigen Pfad" nennt. Dieser Edle Achtfältige Pfad besteht aus acht Pfadgliedern, die wir nicht alternativ gehen können, vielmehr sind alle acht Übungsfelder nötig, jedes einzelne davon. Es ist auch nicht so, dass wir erst ein Pfadglied perfektionieren und uns dann dem nächsten zuwenden können. Vielmehr müssen wir gewissermaßen auf allen acht Baustellen gleichzeitig arbeiten. Aberd as klingt komplizierter als es ist.

Die Palibezeichnung für das erste dieser acht Pfadelemente ist samma ditthi. Sehen wir uns diesen Begriff näher an.

Der Begriffsbestandteile "samma" wird allen acht Pfadelementen vorangestellt und er wird meist entweder mit "Rechte" oder mit "Vollkommene" übersetzt. Die altindischen Sprachen Pali und Sanskrit sind indogermanische Sprachen, sie sind also mit den meisten europäischen Sprachen, namentlich mit der deutschen, verwandt. In "samma" steckt mit dem Wortstam "sam-" etwas, das wir auch aus den deutschen Worten "sammeln", "gesammelt" und "zusammen" kennen. Auch das lateinische "summa" und das deutsche davon abgeleitete Wort "Summe" sind hier zu nennen. Es drückt also etwas aus, was aus vielen Einzelheiten besteht, die alle zusammen kommen, die alle gesammelt werden, die sich alle aufsummieren.

Die Übersetzung "Vollkommene" bedeutet, dass dieses Pfadglied bis zur Perfektion eingeübt wurde, es bezeichnet gewissermaßen die Vollendung eines Einübensprozesses. Die Einübung selbst, das Training setzt voraus, dass die Übungen auf "rechte", also auf "richtige" Weise geübt werden. Fortwährendes immer perfekteres Einüben bestimmter Verhaltensweisen führt also zur vollkommenen Beherrschung des Eingeübten. Solange wir etwas noch einüben, beispielsweise das Pfadglied "Schauung" spricht man auch vom Pfadmoment, dann ist es noch nicht vollentwickelt, ist aber dabei sich in die richtige (=rechte) Richtung entwickelt worden. Ist diese Übung erfolgreich abgeschlossen, dann spricht man vom Fruchtmoment, denn wir können die Früchte unserer Exerzitien, unserer Übungen, ernten. Dann haben wir das Pfadglied zur Perfektion eingeübt.

Das Bild, das für den "Edlen Achtfältigen Pfad" verwendet wird, ist das Bild des achtspeichigen Rades, des "Dharma-Cakra", des Rades der Lehre, wie wir es oben auf dieser Seite sehen. Hier scheint ein gewisser Widerspruch zum Wort Pfad zu bestehen: was ist es denn nun, ein Rad oder ein Pfad? Tatsache ist, dass zu einer Fortbewegung zwei Dinge nötig sind, nämlich einerseits ein Pfad, ein Weg, eine Straße und andereseits ein Verkehrsmittel, die Füße, ein Radfahrzeug, was auch immer.

Es gibt Beschreibungen, die den Pfad als eine Abfolge einzelner Schritte zeigen, nämlich beispielsweise im upanisa-Sutta, wo die Pfadabschnitte Unzufriedenheit (dukkha), Vertrauen (saddha), pamojja (Freude), Piti (Begeisterung) usw. aufeinander folgen, eines entsteht nach dem anderen. Beim "Edlen Achtfältigen Pfad" ist es hingegen eher so, dass wir alle Pfadglieder gleichzeitig entwickeln müssen, wir üben an diesem und dann an jenem, dann wieder an einem anderen und so bewegen wir uns allmählich zum Ziel voran. Ganz ähnlich ist es bei einem Rad mit Speichen. Alle Speichen sind nötig, damit sich das Rad gut fortbewegt. Fehlen einzelne Speichen oder sind sie zu schwach, dann läuft das Rad nicht rund. Das Bild des achtspeichigen Rades soll uns also gewissemaßen immer wieder daran erinnern, dass wir alle acht Elemente immer perfekter (samma) einüben sollen, wenn wir sprituell vorankommen wollen, wenn wir zu einem immer perfekteren Wesen werden wollen. Ein vollendetes Wesen, dass alle diese acht Baustellen erfolgreich bearbeitet hat, alle acht Übungsfelder zur höchsten Perfektion entwickelt hat, nennen wir eine oder einen Budddha.

Soweit zum Begriff "samma", mit dem jedes der acht Übungsfelder bezeichnet wird. Kommen wir also nun zum eigentlichen Thema des heutigen Tages, das erste Übungsglied, das zunächst richtig, dann immer besser und zum Schluss bis zur Perfektion eingeübt werden soll: ditthi. Ich habe es hier mit "Schauung" übersetzt und lehne mich damit an den Begriff an, den mein Lehrer Sangharakshita in Englisch mit "Perfect Vision" beschrieben hat. Die häufigste deutsche Übersetzung ist hingegen das Wort Ansicht.

Das Wort "Ansicht" ist jedoch meist eher negativ besetzt, etwa wenn man sagt: "Ja, das ist deine Ansicht, ich sehe die Sache ganz anders." Damit verweisen wir darauf, dass es unterschiedliche Ansichten zu einer Sache geben kann. Dann könnte es sein, dass eine Ansicht richtig ist, die andere falsch. Oder aber, das jeder der beiden nur bestimmte Seiten einer Sache betrachtet und so zu völlig verschiedenen Ansichten kommt.

Auch das Paliwort "ditthi", das "Ansicht" heißt, ist genauso negativ besetzt. Das Problem mit "Ansichten" wird traditionell mit dem Gleichnis von den Bilden und dem Elefant erläutert, ich zitiere es hier (leicht gekürzt) nach Wikipedia:

Im Gleichnis "Die blinden Männer und der Elefant" untersucht eine Gruppe von Blinden einen Elefanten, um zu begreifen, worum es sich bei diesem Tier handelt. Jeder untersucht einen anderen Körperteil (aber jeder nur einen Teil), wie zum Beispiel die Flanke oder einen Stoßzahn. Dann vergleichen sie ihre Erfahrungen untereinander und stellen fest, dass jede individuelle Erfahrung zu ihrer eigenen, vollständig unterschiedlichen Schlussfolgerung führt.

Im Gleichnis steht die Blindheit für nicht in der Lage sein, klar zu erkennen; der Elefant steht für eine Realität (oder eine Wahrheit).

Die Geschichte soll aufzeigen, dass die Realität sehr unterschiedlich verstanden werden kann, je nachdem, welche Perspektive man hat oder wählt. Dies legt nahe, dass eine scheinbar absolute Wahrheit durch tatsächliche Erkenntnis von nur unvollständigen Wahrheiten auch nur "relativ wahr", d.h. individuell und subjektiv, verstanden werden kann.

Jede einzelne Ansicht ist also durch ihren Blickwinkel oder durch den Standpunkt des Betrachters einseitig. Das wird in den Sozialwissenschaften besonders deutlich durch die verschiedenen -ismen. Liberalismus, Sozialismus, Kommunismus, Nationalismus, Katholizismus, Protestantismus, idealismus oder Materialismus haben alle einzelne völlig richtige Aspekte. Da sie jedoch andere - ebenso richtige Aspekte - ignorieren, nicht sehen oder nicht sehen wollen, sind sie einseitig. In der momentanen gesellschaftlichen Diskussion heißt es zum Beispiel häufig, der Islam sei eine tolerante Religion, der Islamismus jedoch eine verbohrte, einseitige, scheuklappenbewehrte Einstellung. In diesem Zusammenhang muss man feststellen, dass der westliche Name für den Dharma, also die Lehre des Buddha, "Buddhismus" ebenso ein Begriff ist, den jeder aufrichtige Buddhaschüler und jede klarsehende Buddhaschülerin eigentlich zurückweisen sollte.

Der Begriff "ditthi" ist also in Pali negativ besetzt, und der Buddha wird deshalb nicht müde zu betonen, er habe keine Ansichten. Eben weil eine Ansicht auf einem Blickwinkel (von vielen möglichen) aus einem Standpunkt (von unterschiedlichen möglichen und berechtigten Standpunkten) betrachtet wurde. Der Begriff "ditthi" ist also in den buddhistischen Lehren grundsätzlich negativ besetzt - außer in dem zusammengestzten Terminus "samma ditthi". Daher halte ich die Übersetzung "Vollkommene Ansicht" nicht für sinnvoll, sondern übersetzte samma ditthi mit "Vollkommene Schauung" - also eine Betrachtung unter allen möglichen Aspekten, aber auch nicht nur als Summe der Aspekte, sondern gewissermaßen auch als ganzheitliche Betrachtung in die Natur des Phänomens.

Auch für die noch nicht vollkommene Schauung halte ich den Terminus "Rechte Ansicht" nicht für hilfreich, denn das wäre so, als gäbe es jemanden, der vorschreibt, du musst dir das Phänomen nur von rechts und nicht von links ansehen (oder umgekehrt). Rechte Schauung ist vielmehr der Versuch einer Annäherung an eine ganzheitliche Erfassung des Phänomens.

Ich habe in meinem letzten Vortrag aus dieser Reihe, nämlich im Vortrag über die Vier Edlen Wahrheiten übrigens einen solchen Perspektivwechsel zwischen zwei Ansichten einmal durch gespielt, indem ich nämlich das Essen eines knusprigen Hähnchens wahlweise aus der Sicht des Essers und des Hähnchens beschrieben habe. Dies ist vielleicht eine ganz gute erste Annäherung an ein Phänomen. Ein aktuelles Beispiel ist die Flüchtlingskrise. Es gibt zahlreiche Menschen in Deutschland, die am liebsten die Grenzen zumachen möchten, weil sie sich nicht in die Situation eines um sein Leben fürchtenden Flüchtlings versetzen können oder wollen. Und es gibt andere, die am liebsten alle Bedrängten dieser Welt in Deutschland aufnehmen würden, ohne dabei die Folgen für dieses Land, die Menschen hier, die Zuwanderer selbst, die Natur usw. bedenken wollen. Ähnlich ist es in fast alllen Bereichen. Hier hilft zunächst die Praxis des Perpsektivwechsels, langfristig die ganzheitliche Betrachtung unter Zuhilfenahme der Betrachtung des wechselseitigen Entstehens in Abhängigkeit (paticca samuppada), wie im ersten Vortrag dieser Reihe dargelegt.

Es wird jemand natürlich nur damit beginnen, den Edlen Achtfältigen Pfad zu praktizieren, wenn er den Eindruck hat, wie oberflächlich dieser auch sein mag, dass es nützlich ist, diesen zu praktizieren. Daher ist ein solcher Eindruck so etwas wie eine "Rechte Vision". Es ist noch keine Vollkommene Schauung, aber es ist der Eindruck davon, dass dies hilfreich ist und eine gewisse rudimentäre Vision davon, wohin es gehen soll. Eine anfängliche - wenn auch nur schemenhafte - Vision vom Pfad und der Richtung, in die er geht, sowie vom Ziel ist also nötig, um sich zu entschließen, diesen Pfad zu beschreiten. Das ist der Grund, warum samma ditthi an erster Stelle der Pfadglieder genannt wird.

Wenn wir den Pfad dann beschreiten, allmählich auf ihm vorankommen, wird sich Stück für Stück eine immer klarere Sicht des Zieles und des Pfadverlaufes ergeben. Das heißt nicht, dass es nicht immer wieder auch dazu kommt, dass wir durch weiteres Studium verwirrter werden. Es ist vielmehr so, dass das den meisten Menschen so geht, die sich mit dem Dharma intensiver zu beschäftigen beginnen. Dabei kann unsere anfängliche Vision verlorengehen. Das führt bei zahlreichen Menschen dazu, dass sie den Pfad nicht weiter beschreiten. Wenn wir uns aber in solchen Krisensituationen an hilfreiche und einfühlsame im Dharma erfahrene Menschen wenden, wird nicht nur die anfängliche unscharfe Vison wiederkehren, sondern wir werden allmählich auch klarer sehen.

In unserem Gelnhäuser Meditationsraum am Obermarkt haben wir daher im Blickfeld der BesucherInnen eine Wand in der drei Dinge erkennbar sind: ein Auszug aus dem sog. tibetischen Lebensrad, das allen, die sich einmal damit bschäftigt haben, verdeutlicht, welche Probleme wir im normalen, unerleuchteten Leben haben. Weiterhin ist ein Mandala zu sehen, in dem durch fünf verschiedenfarbige Buddhafiguren die wichtigsten Aspekte dessen, was erreichbar ist, aufgezeigt werden. Und außerdem ist der Spiralpfad aufgezeigt, eine Darstellung die sich an das Upanisa-Sutta des Buddha anlehnt. Hier wird gezeigt, welche einzelnen Etappen wir auf dem Pfad zu bewältigen haben und woran wir unsere Fortschritte erkennen können.

Diese Gestaltung der Stirnwand unseres Meditationsraumes ist also der Versuch, die Rechte Vision in Auge zu behalten, wann immer wir uns in unserem meditationsraum versammeln.

Und auch die Abfolge der Vortragsreihen und Kurse soll helfen, eine Rechte Vision vom buddhistischen Pfad zu verwirklichen. In einem ersten Schritt soll versucht werden, durch diese Vortragsreihe eine Vision von dem zu geben, was man üben kann, um sich zu vervollkommnen. Dabei sollte die Erkenntis und die Einsicht steigen, dass das alles vernünftig ist, dass wir das irgendwie implizit schon immer wussten, aber dass es in dieser Klarheit dargelegt unser Handlungsprogram  für unsere Selbstentwicklung sein kann und vielleicht auch werden sollte.

In einem Kurs Anfang des nächsten Jahres besteht die Möglichkeit die Sicht des Buddha auf unser normales Leben nachzuvollziehen und uns damit der Unzulänglichkeit unseres normalen Denkens, Fühlens und Handelns bewusst zu werden. Im zweiten QAuartal des nächsten jahres haben wir dann die Möglichkeit, den Spiralpfad näher kennen zu lernen.

Den ersten Teil dieses Pfades Spiralpfades kann man auch als die "Wissenschaft vom Glück" bezeichnen. Durch bestimmte Übungen, durch eine klar beschriebene ethische Ausrichtung, durch angemessene Meditationstechniken und durch ganz wenig kognitiven Input ist es uns möglich diesen Pfad des Glückes zu betreten. Auf diese Weise werden wir allmählich zu einem psychisch gesunden Individuum, das mit sich im Reinen ist. Das ist die Umsetzung der Wissenschaft vom Glück, der erste Teil des Spiralpfades. Den zweiten Teil dieses Spiralpfades nenne ich die "Wissenschaft von der Befreiung". Auf diese Weise kann sich das psychische gesunde, glückliche Individuum allmählich von allen Zwängen befreien. Aber das ist Zukunftsmusik. Vorher sollten wir uns auf jeden Fall mit der Wissenschaft vom Glück befassen. Und damit wir bereit sind, uns darauf einzulassen, soll diese Vortragsreihe über den Edlen Achtfältigen Pfad einen Eindruck, eine Rechte Vision davon vermitteln, was möglich ist und wie dieses erreicht werden kann.

Wenn ihr am Ende dieser Vortragsreihe eine erste schemenhafte Vision davon habt, dann ist das Ziel dieser Vortragsreihe erreicht und dann könnt ihr selbst entscheiden, ob ihr diese Wissenschaft vom Glück erleben, auskosten, verwirklichen wollt - oder ob ihr lieber etwas anderes machen solltet.



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