Wie der Buddha nach Gelnhausen kam

Ein zeitgenössischer Mythos von Horst Gunkel
(c) Copyright by Horst Gunkel - letzte Änderungen 2015-02-01


Teil I – Der Buddha und Frieda

Es war vor gut 2500 Jahren, einige Zeit nach seiner Erleuchtung, dass sich der Buddha des Morgens unter einem Baum zur Meditation niedersetzte, so wie er das jeden Tag zur Morgenstunde zu tun pflegte. An diesem Morgen unternahm der Buddha zwei Meditationen, zunächst eine anapanasati, also eine Atembetrachtung, danach eine metta bhavana, eine Meditation zur Öffnung des Herzens.

In der anapanasati betrachtete er seinen Atem beim Ein- und beim Ausatmen. Einatmend war er sich bewusst, dass er einatmete, und ausatmend, dass er ausatmete. Er erkannte weiterhin die Qualitäten seines Atems, auch die subtilsten, und er wusste auch dass es der Atem ist, der ihn mit allen Lebewesen verband. Er brauchte darüber nicht nachzudenken, er wusste es einfach. Die Atemluft, die in diesem Moment Bestandteil seines Körpers war, war im vorigen Augenblick noch Bestandteil des dharmadhatu, der Natur, und er würde im nächstem Moment wieder Bestandteil des dharmadhatu sein. Der Atem gehört dem Buddha nicht, er war vom dharmadhatu nur geborgt. Streng genommen war der Atem auch in dem Moment, in dem er in seinem Körper war, Bestandteil des dharmadhatu, denn auch er selbst, der Buddha, der vollkommen Erleuchtete, war, wie jeder von uns, Bestandteil des dharmadhatu.

Der Buddha sah sich vom dharmadhatu nicht getrennt, denn er dachte nicht in Begriffen wie „Ich“ und „Umwelt“, sondern in Begriffen wie anatta (Nicht-Ich) und dharmadhatu. Dieser Atem war zuvor in einem Menschen, einem Tier, einer Pflanze oder einem anderen Wesen, und er würde auch danach in einem Tier, einer Pflanze oder einem anderen Wesen sein. Aber natürlich veränderte sich die Luft unterdessen. Nichts ist statisch, alles ist ein Prozess, auch die Luft. Anicca, Vergänglichkeit, ist eines der wichtigsten Merkmale des dharmadhatu, so hatte der Buddha erkannt. Die Atemluft, die er einatmete, war anders als die, die er ausatmete. Mit heutigen Begriffen belegt war die eingeatmete Luft reich an molekularem Sauerstoff, die ausgeatmete reicher an Kohlendioxid. Das ist Teil des paticca samuppada, wie es in den Worten des Buddha hieß, des Konditionalnexus, des bedingten Entstehens.

Der Buddha wusste, dass er sich von Luft, Wasser und Pflanzen ernährte. Und er wusste auch, dass sich die Pflanzen von seinem Ausatmen, von Wasser und von Nährstoffen aus dem Boden ernährten, paticca samuppada. All dies war dem Buddha bewusst, er brauchte nicht mehr darüber nachzudenken, es war ihm auch so bewusst, als er an diesem Morgen seinen Atm beim Ein- und beim Ausatmen betrachtete, und so sah er sich nicht getrennt von dem, was wir sehr ungenau mit „Umwelt“ bezeichnen, er sah sich vielmehr als Teil des dharmadhatu. Und so atmete er während dieser Meditation unzählige Sauerstoffatome ein und unzählige Kohlenstoffatome aus und war sich dabei dieses Prozesses und seines eigenen Eingebettetseins in den dharmadhatu bewusst.

Und noch eine weitere Meditation unternahm der Buddha an diesem Morgen, die metta bhavana, die Meditation der Freundlichkeit, der Öffnung des Herzens. Metta heißt Wohlwollen, heißt positive Emotion, Empathie, Zuneigung, Akzeptanz, Anerkennung, Freundlichkeit, liebende Güte; metta heißt Öffnung des Herzens. Und bhavana bedeutet, die Bedingungen schaffen, damit genau diese Emotion entsteht. Für viele von uns ist die Übung der metta bhavana kein leichtes Unterfangen, und dies gilt vor allem dann, wenn wir mit diesem metta, mit diesem tiefen Wohlwollen nicht nur unseren Freunden begegnen wollen, sondern auch Leuten, die wir kaum kennen, ja sogar Personen, die uns geschadet haben. Ja mehr noch, in der fünften Stufe der metta bhavana, jener Stufe,die „die Grenzen durchbrechen“ heißt, sollen wir gleich starkes, wirklich gleich starkes metta sowohl für die eigene Person, als auch für die gute Freundin oder den guten Freund, für eine Person, die wir kaum kennen, und für unseren Feind empfinden. Sehr viel später hat dies ein anderer Weisheitslehrer benannt als „Du sollst Deine Feinde lieben wie Dich selbst“, meines Wissens allerdings ohne eine Übung zu lehren, die diesen Weg beschreiten lässt.

Der Buddha musste diese Meditation, die metta bhavana, natürlich nicht mehr üben, er empfand bereits gleich großes Wohlwollen allen Wesen gegenüber, dies war Teil seiner Erleuchtungserfahrung. Dennoch führte er auch an diesem Morgen erneut die metta bhavana durch, denn diese Meditation hat im Allgemeinen einen dreifachen Effekt. Erstens hat sie einen Effekt auf die Person, welche die metta bhavana übt, diese Person wird dadurch freundlicher. Das war beim Buddha nicht mehr möglich, er war bereits die reine Freundlichkeit, denn er war ein Erleuchteter. Aber diese Meditation hat noch zwei weitere Effekte, sie hat nämlich einen direkten Effekt auf andere und eben dadurch auch noch einen indirekten Effekt, sie wirkt tendenziell auf die ganze Welt. Und es ist genau dieser Effekt, den die Meditation des Buddha vor über 2500 Jahren auf die Welt und auch auf Dich ganz persönlich hatte, warum ich diese Geschichte heute erzähle.

Der Buddha strahlte also metta aus. Wir können uns das so vorstellen, als habe er unzählige kleine metta-Atome in die Welt ausgestrahlt. Natürlich ist metta immateriell und es gibt daher keine physikalisch nachweisbare Atome. Aber mit dem Wort Atom muss ja nicht notwendig etwas Materielles beschrieben werden. A-tomos heißt nur unteilbar klein. Und in diesem Sinne hat der Buddha unzählige unteilbar kleine Einheiten von metta ausgestrahlt. Ich habe sie hier sie jetzt einfach einmal metta-Atome genannt. Wir können uns diese metta-Atome vielleicht wie kleine Blüten vorstellen; das ist die Art, wie sie in der buddhistischen Ikonografie, in Bildern von der Erleuchtungserfahrung des Buddha dargestellt werden - kleine Blüten, die metta symbolisieren.

Also sendete der Buddha an diesem Morgen von mehr als 2500 Jahre unzählige metta-Blüten in seiner metta-bhavana und unzählige Kohlenstoffatome in seiner anapanasati aus. Und – um in unserer bildnerischen Beschreibung zu bleiben, setzte sich eine dieser metta-Blüten - auf eines der Kohlenstoffatome und sie versprachen einander beisammen zu bleiben und gemeinsam zu wirken, sie beide, das Kohlenstoffatom, das Materie war, und die metta-Blüte, die immateriell war, Energie von der Energie Buddhas.

Und so saß der Buddha an jenem Morgen unter seinem Baum und wusste, dass diese beiden, wie unzählige andere Kohlenstoffatome und metta-Blüten seiner Morgenmeditation hinausziehen würden in die Welt und dass er den allermeisten davon nie wieder begegnen würde, aber keines von ihnen, so wusste der Buddha mit sicherer Gewissheit, würde jemals verloren gehen.

Und genauso war es auch mit dem Kohlenstoffatom und dem metta-Blüte, die nunmehr eine Einheit bildeten, nennen wir diese ganz spezielle Einheit, deren Weg wir weiter betrachten wollen, mit einem Namen – sagen wir Frieda. Dem Buddha war natürlich diese umfassende Wirkung seiner Meditation bewusst und mit seinem Weisheitsauge sah er in ferne Zukunft und ferne Länder. Ihm war bewusst, wie sich Frieda und all die anderen metta-Blüten verbreiten würden, all das erschien vor seinem Weisheitsauge, so u. a. ein Marktplatz, den es noch gar nicht gab, in einem Land, das es auch noch nicht gab, in einer Stadt die noch längst nicht existierte, in der aber dereinst eine Art Maharaja, also ein großer Herrscher weilen würde, der einen Bart in der für indische Verhältnisse absolut unmöglichen Farbe rot haben würde. Und der Buddha schmunzelte.

Wir werden Frieda, diesem Konglomerat aus Kohlenstoff und metta, nicht in allen Einzelheiten ihrer langen Reise durch viele Jahrhunderte begleiten können, denn Frieda legte eine wirklich sehr lange Reise zurück, genau wie all die anderen Atome auch, war bald Teil der Luft, bald einer Reispflanze, wurde als Reisstroh verbrannt, war wieder in der Luft, in einer Blume, im Gras, wurde von einer Kuh gefressen, als Methan wieder ausgestoßen und, und, und. Doch dann kam diese Hektik eines Tages zur Ruhe, auf Frieda kamen 1000 ruhige Jahre zu. Unser Atom wurde von den Blättern eines Baumes aufgenommen, durch Photosynthese von zwei Sauerstoffatomen getrennt und fest in den Stamm eines Tropenbaumes eingebaut, dort wo der Stamm breit wird und in die Wurzeln übergeht; und so folgten ruhige 1000 Jahre, ruhig zumindest für den materiellen Teil von Frieda, den Kohlenstoffteil, während der metta-Teil sehr aktiv war, beständig metta austrahlte.

So fühlten sich die Tiere wohl in der Nähe dieses Baumes, manche rieben sich genüsslich den Pelz am Stamm des Baumes. Andere wieder, Gefiederte, waren von der metta-Atmosphäre so angetan, dass sie ihre Nester in den Baum bauten und ihre Brut hier aufzogen. Dieses Idyll währte runde 1000 Jahre. Die schönste Zeit für Frieda war aber als in unmittelbarer Nachbarschaft des Baumes ein buddhistisches Kloster erreichtet wurde, und häufig kam einer der Mönche, um unter dem Baum zu meditieren. Es war fast so, wie damals bei der Meditation des Buddha. Und Frieda strömte ihre liebende Güte auf den Mönch aus, und dessen liebende Güte strömte zurück zur metta-Blüte und beide fühlten sich gestärkt. Viele Geschichten könnten über diese Zeit erzählt werden, aber sie sollen nicht hier und heute erzählt werden.

Wir begeben uns vielmehr an das Ende dieser geruhsamen 1000 Jahre, machen einen großen Sprung in das Ende des 20. Jahrhunderts der üblichen Zeitrechnung. Inzwischen waren 25 Jahrhunderte seit der Meditation des Buddha vergangen, aber Frieda wirkte noch immer. Selbst in jenen schrecklichen Wochen, da der Wald, in dem noch unlängst das Kloster war, starb, niedergemetzelt von Männern mit Motorsägen im Auftrag eines westlichen Holzvermarktungsunternehmens. Große, alte, mächtige Holzstämme wurden gesucht für stabile Bauelemente. Frieda verströmte weiter metta, auch über die Männer mit den Kettensägen, auch sie arbeiteten nur, um ihre Familien zu ernähren, auch wenn ihre Arbeit grausam war, aber vermutlich wussten sie das nicht einmal. Der Baum, in dem Frieda so viele Jahrhunderte gelebt hatte war inzwischen gefällt und abtransportiert, wie alle alten Bäume in der Umgebung: Nur noch Restholzstücke waren übrig, z. B. dort, wo an den Wurzeln Kerbschnitte in den Baum gesetzt worden waren, um ihn leichter zum Umfallen zu bringen. Das Holzstück, in dem sich Frieda befand war etwa 80 cm hoch und an der Basis genau so breit, oben jedoch viel dünner. Rings umher lagen Zweige, Äste, Laub, ein zerstörter Urwald, während das Holzvermarktungsunternehmen weitergezogen war – Heuschreckenschwärmen gleich.


Teil II – Der Holzschnitzer

Er war ein armer Mann, er lebte in einem kleinen Dorf und er war schon viele Tage hinausgezogen, dorthin, wo früher der Urwald war, und er tat es auch heute wieder. Tränen rannen ihm wie jeden Tag über das Gesicht, wenn er der Waldzerstörung gewahr wurde. Welch schöner Wald war dies einst, wie viele Tiere lebten hier. Als er ein Kind war, gab es hier sogar noch ein Kloster. Jetzt waren die Mönche weg, die Tiere weg, der Wald war getötet. Aber er fuhr immer wieder hier hinaus und suchte. Er suchte nach dem, was ihn ernähren sollte, ihm sicheren Lebenserwerb für die nächsten Jahre geben sollte, nach möglichst großen, einheitlich strukturierten Restholzstücken aus hartem Tropenholz.

Er war ein rechtschaffener Mann, das spürte Frieda, als sie ihr metta ausstrahlte, um ihn auf sich aufmerksam zu machen. Frieda machte dies aus metta aber auch, damit eine alte Vision des Buddha in Erfüllung gehen sollte. Und der Holzschnitzer verstand, er sah den großen Tropenholzbrocken und wusste: der ist es, der ihn heute nach hause begleiten würde. Er packte ihn auf den großen Korb vor der Lenkstange seines Fahrrades und transportierte ihn in sein Heimatdorf. Frieda sandte dem Holzfäller metta, und davon gestärkt fuhr er zu seiner Werkstatt zurück. Noch viele weitere Tage fuhr er hinaus, sammelte große Stücke zum Schnitzen und kleine, die ihm als Brennholz dienen würden.

Es war in der Regenzeit, als sich der Schnitzer den Holzbrocken vornahm, in dem Frieda wohnte. Sofort durchzog ihn ein wohlig-angenehmes Gefühl. Es war, als habe ihn das Holz genau so angenommen, wie er den Holzbrocken, er vermaß es und entschied, wie er vorgehen wollte. Er arbeitete zehn Stunden täglich und das mehr als einen Monat lang. Zunächst hieb er große Stücke weg, um der Form einer rupa, einer Buddhafigur, näher zu kommen; dann kamen die mittleren Schnitzmesser zum Einsatz und eine grobe rupa entstand. Schließlich nahm er die kleinen feinteiligen Messer in die Hand und ganz zum Schluss das Schleifpapier. Und manchmal kam es ihm gerade so vor, als gäbe ihm die rupa Anweisungen, wie er vorzugehen habe, wie sie zu bearbeiten sei. Und dieses Gefühl wurde um so stärker, je mehr er sich dem Kopf, dem Gesicht der rupa zuwandte, was eigentlich kein Wunder war, denn genau dort war Frieda inkorporiert. Und so spürte der Schnitzer das metta des Buddha selbst, sein Mitgefühl, seine Weisheit. Und es gelang ihm all dies, metta, Mitgefühl und Weisheit in die Gesichtszüge zu legen, die vollkommene Abwesenheit von Gier, von Hass und von Verblendung. Als er fertig war, besah er stolz sein Werk – und siehe: es war gut. Und auch Frieda war zufrieden. Zwar drückte die rupa als Ganze natürlich nicht die Vollkommenheit des Erhabenen aus, aber gerade das Gesicht sprach – und spricht noch heute – die klare Sprache der Liebe, des Mitgefühls und der ruhevollen Weisheit.

So nahm der Schnitzer die rupa und stellt sie in die Mitte seiner Werkstatt um nach ihrem Vorbild viele weitere zu gestalten. Er brauchte das Vorbild, denn normalerweise sprach das Holz nicht zu ihm. Erst Jahre später hatte er bei einer anderen rupa wieder das Gefühl, vielleicht war auch hier eine metta-Blüte des Buddha inkorporiert. Und von diesem Tag an nahm er die neue rupa als Muster, denn ihm war die ganze Zeit bewusst, dass die spezielle rupa, die als erste zu ihm gesprochen hatte, etwas Besonderes war, dass sie ihren Auftrag noch zu erfüllen hatte und dass sie daher nicht bei ihm würde bleiben können. Und in der Tat hatte sie ja noch einen Auftrag zu erfüllen, einen Auftrag, den der Buddha ihr gegeben hatte, übermittelt von Frieda, der metta-Blüte im Kohlenstoff. Und er, der Holzschnitzer unbekannten Namens war froh, sie weitergeben zu können, damit sie ihrem Auftrag würde erfüllen können, ihre Mission, bei der er die Ehre hatte, mitwirken zu dürfen.

Thorsten war ein Händler aus Deutschland, einer, der von Stadt zu Stadt zieht, auf besondere Märkte geht und dort Figuren verkauft, die er auf seinen Reisen in Asien einkaufte. Thorsten war mit einem kleinen gemieteten Lieferwagen gekommen. Der Holzschnitzer bot ihm seine Werke an, nicht aber unsere spezielle rupa, die ließ er abseits stehen, halb verdeckt. Doch der Deutsche ging zielsicher auf die rupa zu und sagte sehr bestimmt: „diese muss ich auch habe“.

Da wusste der Schnitzer, dass auch der Mann aus Deutschland, der sich als Thorsten vorgestellt hatte, Teil eines großen Netzwerkes war, eine Netzwerkes, das einen Auftrag des Buddha zu erfüllen hatte. Bald war man handelseinig und der Deutsche ließ die Stücke, die er bei diesem Holzschnitzer und die Dinge, die er anderswo erstanden hatte, nach Hamburg verschiffen. Dort holte er sie mit einem LKW ab und brachte sie in sein Lager. Und im nächsten Jahr nahm er unsere rupa und viele andere Dinge mit auf die Jahrmärkte. Er reiste herum und bot seine Waren an. Und unsere rupa war immer dabei, betrachtete mit stoischer Gelassenheit den Marktaufbau und den Marktabbau, ließ sich bewundern und wartete. Zahlreiche Menschen waren von der rupa beeindruckt, gingen dann aber weiter oder nahmen eine viel kleinere und billigere Buddhafigur mit.


Teil III – Die Vollendung der Vision des Buddha

Es war ein milder Junimorgen des Jahres 1996 der üblichen Zeitrechnung, als ich, Horst Gunkel, aufstand. Ich lebte damals in Hanau-Großauheim, wo ich auch das ÖkoBüro leitete. Der Parteipolitik hatte ich im Jahr zuvor den Rücken gekehrt, um mich ganz dem Buddha-Dharma zu widmen. Ich hatte mich entschlossen, den Dharma, die Lehre des Buddha, zu leben und weiterzugeben. Ich hatte gerade angefangen, Vorträge zum Thema Buddhismus anzubieten, damals im ÖkoBüro, zugegebenermaßen mit sehr wenig Erfolg. War ich zuvor in der Politik von Erfolg verwöhnt worden, so stellten sich meine neuen Aktivitäten nunmehr als mühsames Unterfangen dar. In erster Linie jedoch musste ich an mir selbst arbeiten, denn in mir selbst wohnten, wie ich zugeben musste, noch immer die drei Grundübel: Gier, Hass und Verblendung.

Derzeit baute ich an einem kleinen Tempel im Garten hinter dem Hanauer ÖkoBüro. Der Tempel maß eine Grundfläche von etwa 20 qm, die Außenhülle war fertig und ich war inzwischen mit den Malerarbeiten beschäftigt. An diesem Tag jedoch wachte ich auf und wusste es sofort: Das ist der Tag, an dem ich sie finden würde, die rupa, die für meinen Tempel noch fehlte. Ich sagte zur Mutter meiner Kinder, wir lebten damals bereits getrennt, arbeiteten aber im ÖkoBüro noch zusammen: „Heute werde ich eine wunderschöne Buddhafigur erstehen, für den Tempel beim ÖkoBüro, sie wird 500 DM kosten, aber sie ist ihr Geld wert. Das ist die rupa, unter der ich den Dharma verbreiten möchte.“ „Aha“, sagte Angelika, „ und wo willst Du das Ding kaufen?“ „In Gelnhausen auf dem Hessentag.“ „Natürlich“, antwortete sie zynisch, „der Hessentag ist bestimmt die richtige Veranstaltung zur Verbreitung des Buddhismus, und Gelnhausen der geeignete Ort zum Erweb buddhistischer Devotionalien.“ Unbeirrt stieg ich in den Zug und fuhr nach Gelnhausen.

Von der Müllerwiese bis zum Pressehaus Naumann ging damals eine Budenzeile, die sich Hessentagssstraße nannte; hier wurde alles Mögliche angeboten: Schals, Gürtel, Luftballons, Räucherwerk, Spielwaren, gebrannte Mandeln usw. Ich ging von der Kinzigbrücke angefangen die Straße schnurstracks entlang, blieb nirgendwo stehen, überflog die Stände mit den Augen nur flüchtig. Ich war auf der Suche nach der rupa, der Gelnhäuser rupa. Ich war noch 50 m vom entscheidenden Stand entfernt, er war in der Nähe der Kinzig, ungefähr dort, wo die Gaststätte Dudelsack ist, aber auf der anderen Straßenseite, als ich das erblickte, was den ganzen Tag nach mir rief. Und tatsächlich, da stand sie: die Gelnhäuser rupa. Sie blickte genau so, wie ich sie mir vorgestellt hatte, wie die rupa, die ich in der letzten Nacht im Traum auf dem Schrein in meinem Tempel gesehen hatte. Ich ging hin und frug nach dem Preis, „700 Mark“, war die Antwort. Das war merkwürdig. In meinem Traum hatte sie 500 DM gekostet. Aber das war sie doch! Ich überlegte einen Moment, dann sagte ich zu Thorsten, dem Standinhaber: „Ich möchte diese rupa für meine buddhistische Gruppe haben. Aber ich kann keine 700 Mark bezahlen, das sprengt meinen Etat. Ich werde auch nicht handeln. Überleg es Dir, ich zahle 500 Mark. Ich gehe jetzt zur Bank und hole das Geld, 500 Mark, in einer knappen Stunde bin ich wieder zurück. Er sagte nichts, er sah mir nur in die Augen, dann sah er die rupa an. Ich ging.

Bei der Sparkasse hob ich 500 DM ab, dann ging ich zurück. Kurz bevor ich den Stand erreichte, packte mich lähmendes Entsetzen: die rupa war weg. Definitiv weg. Das konnte doch nicht wahr sein! Nur, weil ich mich mit Thorsten nicht einigen konnte, ihm einfach nur meinen Preis genannt hatte, hatte er sie an jemand anderen verkauft, sagte ich mir. Habe ich wohl aus Gier oder aus Verblendung kapuut gemacht, was nicht zerstört werden durfte?

Von Ängsten gepackt näherte ich mich dem Stand: „Sie ist weg!“, war das einzige, was ich herausbrachte. Thorsten lächelte „Ja“, sagte er, „vermutlich hätte ich sie irgend einem Neureichen für 700 Mark verkaufen können, und der hätte sie dann zum Hutständer gemacht. Das geht nicht, diese Buddha-Figur ist etwas ganz Besonderes, das wusste ich schon, als ich sie in Asien einkaufte. Und ich wusste, dass einer wie Du kommen würde, einer auf den die Figur gewartet hat. Ich habe sie Dir schon eingepackt,“ sagte er und gab mir das Bündel. Glücklich brachte ich die rupa mit dem Zug zurück zum ÖkoBüro.

Die Mutter meiner Kinder staunte nicht schlecht, als ich ihr die Figur zeigte. „Ja, auf dem Hessentag in Gelnhausen, für 500 Mark“, antwortete ich auf ihre Frage. „Du wusstest schon vorher, dass sie da ist, Du hast sie vorher schon gesehen!“, war ihre auf pure Logik setzende Antwort.

„Ja“, sagte ich , „ich hatte sie schon gesehen, letzte Nacht im Traum. Ich glaube, sie hat mich gerufen.“

Die nächsten Jahre war die rupa im Sommer im Großauheimer Tempel, sie war dabei, als ich die ersten dhyana-Erfahrungen machte, Erfahrungen meditativer Erreichungszustände, und sie war winters im ÖkoBüro und inspizierte mich bei der Herausgabe des BuddhaNetz-Info, einem kleinen Periodikum, das ich für das Netzwerk Engagierter Buddhisten erstellte. Als ich im Jahre 2002 begann, in Hanau 14-tägliche Meditationsabende zu geben, schmückte sie den Schrein und als ich 2004 nach Frankfurt zog, um dort einen Meditationsraum der Freunde des Westlichen Buddhistischen Ordens zu betreiben, war sie dabei. Fünf Jahre stand sie auf dem Frankfurter FWBO-Schrein, die rupa aus Gelnhausen. Es war dann im Jahre 2008, dass sich mir, wann immer ich mich zur Meditation im Frankfurter Meditationsraum gegenüber dieser rupa niederließ, der Gedanke ermächtigte und sich zusehens verfestigte, ich solle nach Gelnhausen gehen und dort Meditation und den Dharma anbieten.

Im Jahr 2009 war es dann so weit, ich hatte geeignete Räume gefunden, in Gelnhausen am Obermarkt. „Meditation am Obermarkt“, sollte mein neues Projekt heißen. Im Juni war der Umzug. An unserem letzten Meditationsabend in Frankfurt unternahmen wir eine Abschiedszeremonie, an deren Ende die rupa feierlich aus den Räumen getragen wurde und in einem Auto auf dem Beifahrersitz platziert wurde, vom Sicherheitsgurt gehalten.

Noch am selben Abend fuhren wir beide, die rupa und ich nach Gelnhausen. Der Schrein, der übrigens vor über 100 Jahren hier im Fortshaus Biber bei Gelnhausen geschnitzt wurde und der schon in Frankfurt dieses Buddhabildnis getragen hatte, wartete bereits. Ich stellte die rupa darauf, zündete Kerzen an und ließ mich ihr gegenüber zur Meditation nieder.

Zufrieden saß ich im hiesigen Meditationsraum am Obermarkt der rupa gegenüber. Tiefe Freude und Genugtuung durchwogte mich, und ich sah die rupa an. An diesem Abend ging von ihr ein Strahlenkranz aus wie nie zuvor. Und die rupa, deren Gesicht sonst immer vollkommenen Gleichmut ausdrückte, lächelte mich breit an, sie schmunzelte, so wie vor über 2500 Jahren der Buddha schmunzelte, als er an diesen Augenblick dachte. Ich lächelte zurück. Inzwischen war mir klar geworden, warum ich hierher nach Gelnhausen gegangen bin. Wir beide, die Gelnhäuser rupa und ich, haben hier noch etwas zu erledigen. Frieda hatte dafür gesorgt. Und natürlich der Buddha als er eines Morgens vor mehr als 2500 Jahren die metta bhavana praktizierte, mit seinem Weisheitsauge einen Marktplatz in einer Stadt sah, die es noch längst nicht gab, und die Botschaft aussandte, die nunmehr angekommen war.
 



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Das Blatt (ficus religiosa) im Hintergrund dieser Seite stammt vom Bodhi-Baum aus Anuraddhapura in Sri Lanka. Dieser ist ein direkter Abkömmling des Baumes, unter dem der Buddha seine Erleuchtung hatte.