Horst, der Mensch: Der verschlungene Pfad in Richtung eines Lebens zum Wohl aller Wesen – Geschichte eines europäischen Buddhisten - Stand 13.2.2020

Szene 100 - Wie ich Geograf wurde – 1974

Meine Studienzeit ging von Herbst 1971 bis Herbst 1975. Wie ich an der Uni landete, habe ich an anderer Stelle (Szene 099 – Kriegsdienstverweigerung) beschrieben. Den Anfang meines Studiums habe ich auch anderswo (Szene 032 - RotZWirt und Szene 086 – Mein Freund Gerd) erläutert. Ich war anfangs für Wirtschaftswissenschaften und Sinologie immatrikuliert, weil ich damals beabsichtigte, Wirtschaftskorrespondent in China zu werden. Aufgrund einer Änderung der Prüfungsordnung war es jedoch nicht mir möglich, beides parallel zu studieren. Da Sinologie allein wohl eine brotlose Kunst sei, entschied ich mich, dann eben nur Wirtschaftswissenschaften zu belegen.

In Frankfurt gab es innerhalb der Wirtschaftswissenschaften drei mögliche Abschlüsse: Diplom-Volkswirt, Diplom-Kaufmann (Betriebswirt) oder Diplom-Handelslehrer. Ich hatte mich zunächst für Volkswirtschaftslehre entschieden. Betriebswirtschaftslehre sah ich als zu stark von Kapitalverwertungsinteressen geprägt, als zu egoistisch an: Meinem Betrieb soll es gut gehen, der soll profitabel sein, was dabei weniger bis unwichtig war, war der geselllschaftliche Nutzen, also Fragen wie: Sind die Produkte sinnvoll? Wie werden die Arbeitnehmer behandelt? Welche Auswirkungen hat die Produktion auf die Natur? Ich wollte mit Sicherheit nicht in einem Betrieb arbeiten, der schädliche Dinge herstellt. Ich wollte nicht als Betriebswirt einem Unternehmen dienen und irgendwann feststellen, dass wir Teile für Landminen oder atomtechnische Anlagen produzieren.

Daher also Volkswirtschaftslehre. Doch es zeigte sich, dass damals unwahrscheinich viele Leute VWL studierten und es war absehbar: Mit Volkswirten kann man demnächst die Straßen pflastern, so viele gibt es. Also begann ich mich gedanklich damit auseinanderzusetzen, mich innerhalb des Studiengangs Wirtschaft für den Abschluss des Diplom-Handelslehrers zu entscheiden. Wäre es nicht sinnvoll jungen Menschen die Wirkungsweise – und die Gefahren – unseres Wirtschaftens aufzuzeigen? Je mehr ich darüber nachdachte, desto sinnvoller erschien mir dies. Hinzu kam, dass ich mit meinen Stiefografiekursen (vgl. Szene 013 – Helmut Stief) Erfahrungen im Lehrerberuf gesammelt hatte und mir dies Spaß machte.

Das Grundstudium bis zur Zwischenprüfung (nach dem 4. oder 5. Semester) war bei allen drei Studiengängen identisch. Also entschied ich mich dafür, nach dem 4. Semester auf Diplom-Handelslehrer zu studieren, allerdings machte ich wohlweislich auch Scheine (Studiennachweise) in den anderen beiden Fachrichtungen, sodass ich mich praktisch erst bei der Prüfung entscheiden musste, was denn auf dem Diplomzeugnis stehen solle.

Da aber "Handelslehrer" inzwischen eindeutig meine erste Präferenz war, überlegte ich, welche Zusatzfächer ich dazunehmen konnte. Ich entschied mich für Politik und Geografie. Politik war logisch, ich war immer stark politisch interessiert und beabsichtigte früher oder später auch parteipolitisch aktiv zu werden. Für Geografie sprach, dass dieses Fach mich schon immer interessierte, und dass mir das Studium verlockend erschien: es gab Exkursionen, Ausflüge, die bis zu einigen Wochen dauerten. Welch herrliche Abwechslung! So schien es mir.

Da inzwischen der Lehrberuf mein Ziel war, interessierte mich die betriebliche Verwertbarkeit meines Studiums wenig: ich wusste, dass es im Fachbereich Wirtschaft praktisch unmöglich war, mit vertretbarem Aufwand mit der Note 1 abzuschließen (die erhielten nur 3% der Absolventen und dies bedeutete ein langes intensives Studium), die Note 2 wäre hingegen super und selbst die Note 3 sei kein Problem, mit der Note 4 habe man allerdings keine Chance für den Staatsdienst. Also hatte ich mir vorgenommen: es muss eine 2 sein, eine 2- wäre ideal, denn das wäre für mich mit relativ mäßigem Einsatz zu erreichen, und 2 ist 2, das „Minus“ sieht man dem Zeugnis nicht an. Eine 2 hatten damals etwa 15% der Absolventen im Fachbereich Wirtschaft in Frankfurt.

Ich hatte bereits im fünften Semester praktisch alle Scheine, die man in den acht Semestern braucht. Außerdem war mein Engagement in der Stiefografie, Urlaub und Familiengründung allemal wichtiger als übermäßiger Einsatz im Studium.

Leider stellte sich jedoch alsbald heraus, dass der nötige Arbeitseinsatz gerade in Wirtschaftsgeografie sehr viel höher war, als ich das erwartet hatte. Es war nicht so, dass es besonders schwierig war, nein, die damals extrem mathematiklastige Volks- und Betriebsirtschaftslehre stellten wesentlich höhere Anforderungen dar, als das, was in Geografie intellektuell und mathematisch nötig war. Allerdings war Wirtschaftsgeografie damals in Frankfurt ein Fleißfach.

Von unserer ursprünglichen Arbeitsgruppe (vgl. Szene 086 – Mein Freund Gerd), also Gerd, Homer, Uschi und ich, waren drei Leute bei den Wirtschaftgeografen gelandet, nur der in Funktionen und mathematische Ableizungen verliebte Homer hatte sich lieber für einen Schwerpunkt „Ökonometrie“ entschieden. Also gingen Uschi, Gerd und ich das Studium der Geografie formal locker an, mussten allerdings mehr Zeit investieren, als uns lieb war.

Die Sache mit den Exkursionen war allerdings kurzweilig: mal ging es ins Hessiche Ried, wo wir unter anderem die „Gebietswinzergenosschaft Bergstraße eG“ besuchten und deren Wein verkosteten, mal ging es an den Rhein (zu den „Asbach-Uralt“-Werken) und dann stand die geografische Erkundung einer Brauerei ebenso auf der Tagesordnung wie eine dreiwöchige Exkursion nach Schottland, wo nicht nur die Stadtsoziologie Glasgows im Celtic-Stadion und den benachbarten Pubs untersucht wurden, sondern auch die Highland-Park Whisky-Destillerie.

Andererseits mussten ziemlich viele Hausarbeiten und Protokolle erledigt werden. Irgendwann enstchloss ich mich daher: Wenn ich schon so viel Arbeit in die Wirtschaftsgeografie inverstieren muss und so nahen Kontakt zu den Professoren habe, dann macht es auch Sinn, dort meine Diplomarbeit zu schreiben. Also entschied ich mich für ein Thema, dass Prof. Dr. Lutz als Diplomarbeitsthema vorgegeben hatte: „Die Entwicklung und Struktur der Pendelwanderung im Kahlgrund“.

In einem Forschungsseminar hatte ich mich bereits mit dem Thema „Der Kahlgrund als Freizeitraum“ befasst. Grund dafür war, dass wir ein Forschungsseminar machen mussten und dort eine Feldforschung betreiben: Also hingehen, nachschauen, nachfragen, Daten sammeln, darüber einen Vortrag halten und eine Exkursion leiten. Das Thema hatte ich mir selbst ausgesucht. Meine Intention: ich fahre in den nahen Kahlgrund und teste unter anderem alle Kneipen und Restaurants. Hierzu könnte ich viele Anekdoten erzählen, ich will mich aber auf wenige Stück beschränken.

Die erste ist ganz kurz erzählt, sie zeigt aber, wie mehr als rückständig selbst damals noch (1973 oder 1974) eine Region war, die nur 50 km von Frankfurt entfernt in Bayern lag. Es ist die Beobachtung vom Pflügen eines Feldes. Das Pflügen eines Feldes ist nun in der Landwirtschaft wirklich nichts Spektakuläres. Allerdings habe ich schon oft Leuten die Frage gestellt: „Was glaubst du wohl, wovon der Pflug gezogen wurde?“ Den meisten Menschen war klar, dass die Antwort „Traktor“ sicher falsch war. Manche gaben einfallslose Antworten wie „Pferd“. Am häufigsten war die Antwort „von Ochsen“, gefolgt von „einer Kuh“ manche meinten auch „von einem Auto“, ganz selten hörte ich auch „Esel“ oder „Ziegen“. Was mir allerdings nie vorkam, war das jemand die richtige Antwort gab. Und ich fürchte auch, dass, selbst nachdem ich die Lösung preisgegeben hatte, mir fast keiner glaubte. Die richtige Antwort ist: „von seiner Frau“. Ja, leider, und der Bauer war sehr ungehalten, dass sie kaum vorankam. Soweit zum Entwicklungsstand Bayerns, genauer Frankens, ganz speziell: des Kahlgrundes 1974.

Eine zweiten Anekdote spielt in einer kleinen Gaststätte – ich habe im Rahmen des Forschungsseminares damals tatsächlich alle Gaststätten der Region besucht und, soweit möglich, den Wirt interviewt. Diese kleine Wirtschaft war in einem Dorf namens Rappach, einem Ortsteil der Marktgemeinde Mömbris. Ich war mit meiner Freundin Eleonore unterwegs, wir betraten gemeinsam die Gaststube. Da es noch früher Nachmittag war, fand sich dort niemand, nicht einmal ein Wirt. Eleonore suchte also jemanden und wurde fündig, die Wirtin war nämlich auch noch Nebenerwerbslandwirtin und Eleonore trieb sie im Kuhstall auf. Die Frau kam dann mit Gummistiefeln und zapfte mein Bier und öffnete die Limonade für meine Fahrerin. Diese Kneipiersfrau war nicht mehr die Jüngste, ich schätze ihr Alter auf etwa 80.

Wir kamen ins Gespräch, sie fragte uns, wohin wir denn heute noch wollten, und ich antwortete: „Nach Schöllkrippen“ (das 16 km enfernt ist). Sie sah uns entsetzt an: „Dess is ja en ganze Dach weck!“ Die Antwort sagte etwas über die Frau aus, was mich damals sehr amüsierte: sie rechnete tatsächlich die Entfernungen noch in Tagesmärschen! (Heute - und einige Pilgerwanderung später - muss ich selbstkritisch sagen, dass ich als damals eingefleischter Autofahrer die Möglichkeit des Wanderns gar nicht in Betracht gezogen hatte.)

Ich jedoch interessierte mich jetzt erst recht für die Frau und ihren Erfahrungshorizont. Ich sagte ihr, dass ich in Frankfurt studiere (was ungefähr 40 km entfernt ist) und fragte: „Waren Sie auch schon mal in Frankfurt?“

„Jaja, war ich aach schon emal.“

Ich hakte nach: „Das ist aber sicher schon ein paar Jahre her?“

„Ach ja, junger Mann, des is schon e pa scheene Jahrn her.“

Jetzt wollte ich es noch genauer wissen und fragte: „Nach dem Krieg?“

Eleonore sah mich entgeistert an, gewiss, das war eine alte Frau, aber Eli empfand diese Frage als nachgerade absurd, denn als sie geboren wurde, war der Krieg immerhin schon 10 Jahre vorbei, inzwischen lag er 30 Jahre zurück. Ich aber hatte die Frage bewusst so gestellt, denn in den 50er und 60er Jahren hatte ich mitbekommen, dass die alten Leute die Zeit in „vor“ und „nach dem Krieg“ einteilten, daher also meine Frage: „Nach dem Krieg?“

Die Frau antwortete etws zögerlich: „Jaja, nachem Kriesch, oder nee, warde se emal, naa, wann isch mers genau üwwerlech, des muss im Kriech gewese sei. Frankfort, ja, die hawwe da so klaane Eisebähncher, die wo die Straß lang fahrn due. Ja, doch, des muss im Kriesch gewese sein, 17 oder vielleicht 1916.“ Nun fielen nicht nur Eli die Augen fast aus dem Kopf, sondern auch ich war erstaunt, dass die Wirtin meinen konnte, meine Frage hätte sich auf den Ersten (!) Weltkrieg bezogen - auf die Idee wären wir nun wirklich nicht gekommen.

Und eine letzte Anekdote möchte ich noch zum Besten geben, eine Anekdote, die mich als Geograf und als Wissenschaftler der besonderen Art auszeichnet! Diese spielt im Jahre 1974, während ich an meiner Diplomarbeit „Die Entwicklung und Struktur der Pendelwanderung im Kahlgrund“ arbeitete. Prof. Dr. Lutz setzte viel auf die Feldforschung. Er hatte mir klar gemacht, dass ich jede Menge Leute, viele Hundert, über ihr Pendelverhalten befragen müsse, also z. B. mit welchem Verkehrsmittel sie zur Arbeit kämen. Ich hatte daher einen Fragebogen ausgearbeitet und versuchte von Tür zu Tür zu gehen, um die Leute zu befragen.

Das lief ungefähr so ab: Ich klingelte abends an der Tür, eine Frau machte auf, und ich erläuterte mein Anliegen: „Guten Tag, ich bin Student an der Universität in Frankfurt. Für meine Doplomarbeit muss ich Leute befragen, wie sie zu ihrem Arbeitsplatz kommen...“

„Naa, gehe se wech, ich unnerschreib nix!“ Die Fernsehsendungen „Nepper, Schlepper Bauernfänger“ und „Aktenzeichen XY-ungelöst“ schienen vollen Erfolg zu haben. Die Leute hörten nicht mich, sondern witterten das, was sie aus dem Fernsehen kannten und machten gedanklich zu.

Ich versuchte zu besänftigen „Nein liebe Frau, keine Angst, sie brauchen nichts zu unterschreiben, ich möchte doch nur...

„Naa, ich unnerschreib nix!!!“

„Brauchen Sie auch nicht, ich ...“

„Kall, komm doch emal her, da iss aaner, der will, dass ich was unnerschreiwwe du!“

Ankommt ein Bulle von einem Mann: Hose, Unterhemd Hosenträger, Schweißgeruch, in der Hand eine Bierflasche:. „Wann du net glaach mai Fraa in Ruh lässt..!“

„Ich will gar nichts von ihrer Frau, es ist nur so, ich kome von der Uni...“

Der Karl genannte Mann stellt die Flasche weg, ballt die Faust und brüllt: „Hau ab, du Arsch!“

Ich ziehe es vor dieser freundlichen Empfehlung nachzukommen. Nach drei weiteren ähnlichen Begegnungen gebe ich erst einmal auf. Ich bitte am nächsten Tag Eli, die Sache für mich zu übernehmen. Ihre Ergebnisse sind geringfügig besser: Frauen schlägt man nicht (außer vielleicht die eigene), das scheint auch im Kahlgrund bekannt zu sein. Aber auch Eli weigert sich weiter zu machen. Und Prof. Dr. Lutz ist da unerbittlich: „Feldforschung ist die Königsdisziplin jeder Wissenschaft, nur wer das beherrscht, kann sich Wissenschaftler nennen.“

Einige Tage später bin ich abends wieder im Kahlgrund, diesmal in Krombach. Ich besuche eine Gaststätte, setze mich an einen Tisch, tue so, als ob ich etwas lese. Am Nebentisch sitzen acht Männer, untehalten sich, ich lausche, warte ob sich ein Anknüpfungspunkt ergibt. Dann bestelle ich noch ein Bier. Einer von den Männern guckt zu mir, dem Fremden, rüber. Ich sage: „Ihr habt´s gut!“

Fragende Blicke, dann: „Klaa, awwer was maanste denn damitt?“

„Nun ja, ihr habt so eine schöne Gegend hier, fast wie im Urlaub, wenn ich mir dagegen Hanau angucke, wo ich wohne...“ Jetzt mischen sich mehrere Leute ein: klar in Hanau wollte keiner leben, in Frankfurt schon mal gar nicht, das sei hier schon was ganz anderes. Ich setze an, um die Kurve zu meinem Thema zu bekommen: „Ich würd ja auch hierher ziehn, ist ja viel schöner, aber wo kann man denn hier arbeiten außer in der Landwirtschaft?“

Jetzt werden die Männer munter, hier sei doch keiner mehr Bauer. Ich frage nach, erfahre, als was die Leute arbeiten, wo die Leute arbeiten, sie erzählen gern und viel, auch von ihren Nachbarn, einer arbeitet in Miltenberg, zwei in Offenbach. Jetzt muss ich noch die Kurve zur Verkehrsgeografie hin bekommen: „Wie kommt ihr denn dahin? Mit dem Auto? Mit der Bahn? Gibt´s da nicht jede Menge Staus?“

Bei den Männern, deren Zunge durchs Bier schon gut geölt ist, flutschen die Informationen nur so heraus. „Aber, was ist denn mit euren Frauen, für die ist es doch bestimmt schwer oder sind die alle Hausfrauen? Ich meine, wenn ihr doch mit dem Auto fahrt, dann können die doch hier nicht fort.“

Nun bekomme ich alles über das weibliche Pendlerverhaten erläutert. Während fast alle Männer im Raum Hanau und Frankfurt arbeiten, zieht es die (ungelernten) Frauen fast alle nach Aschaffenburg in die Kleiderfabriken. „Der Nees hier aus Krombich, waasde, der wo die Busse hat, der fährt jeden Morsche middem ganze Bus voller Fraue – üwwer 40 Weiwer – nach Aschebersch!“

Es war ein sehr ergiebiger Abend! Zuhause, nehme ich mein statistisches Auswertungstableau heraus und trage ein: „Krombach 151 befragte Pendler, davon 47 weiblich, es fuhren mit den eigenen Auto...“ Ich schien eine Methode gefunden zu haben, die Feldforschung zu umgehen. Zum Glück gab es genug Sekundärliteratur, so dass ich sehen konnte, was andere (historische) Erhebungen ergaben, das musste sich in etwa decken, aber ich musste auch einige Besonderheiten erfinden, die sich inhaltlich gut begründen ließen. Ich wissenschaftete ungemein wissenschaftlich!

Am nächsten Abend war ich wieder unterwegs, diesmal in einer Kneipe in Gunzenbach, das liegt nahe bei Rappach, die Einheimischen nennen es „Ginsebich“, idyllisch gelegen in einem Nebental des Kahlgrundes, dem sog „Hutzelgrund“.

Diesmal begebe ich mich gleich an den Tresen, nehme auf die bewährte Art Kontakt auf, höre mich um, es ist die Art Biertischgelaber, die ich brauche. Ich frage Dinge über die Leute, ihre Arbeit, ihren Weg dorthin, die Persektiven für Frau und Kinder nach und bekomme breitwillig Auskunft. Die passenden Zahlen werde ich hinterher schon dazu erfinden.

Ich blicke mich um, habe jetzt mit allen Leuten geredet bis auf einen einzelnen Mann hinten am Tisch, einen Weintrinker (hier eher untypisch). Ich will gerade gehen, da spricht er mich an: „Setzen Sie sich doch einen Moment zu mir, ich lade sie auf ein Glas Wein ein.“ Das fand ich nun wieder merkwürdig, nehme aber gern an, ein Glas Wein sollte man nie grundlos ausschlagen.

„Ich wollte mich gern mal mit Ihnen unterhalten, Herr Kollege.“

Ich bin verduzt: „Kollege, wieso Kollege?“

Er grinst jetzt breit: „Na, wir sind doch Kollegen, habe sie allerdings noch nie gesehen. Ach, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt, mein Name ist Meyer-Ebner, Bayerisches Statistisches Landesamt.“

Ich fühlte mich geadelt. Ich habe den Dreh heraus! Ich bin Wissenschaftler – und brauche keinerlei Bedenken zu haben bei der Abgabe meiner Diplomarbeit.

***

Meine Diploarbeit hatte 200 Seiten, die Hälfte davon Statistiken und Oleaten (Landkarten, die statistische Angaben in Form der Straffur gemeindeflächengenau wiedergeben). Fünf Monate hatte ich dafür Zeit, viereinhalb Monate hatte ich vertrödelt. Jetzt, nachdem ich alle Statistiken erfunden bzw. frisiert hatte, brauchte ich nur noch den Text diktieren – wozu hat man schon eine Freundin die Maschineschreiben kann und eine Mutter, die man schnell in die Kunst des Oleatenerstellens einweiht.

Die Diplomarbeit wurde mit 2+ bewertet. Ich bin jetzt diplomierter Geograf.

Ein Prost auf die Wissenschaft – und auf die Freunde vom Bayerischen Statistischen Landesamt!


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