Horst, der Mensch: Der verschlungene Pfad in Richtung eines Lebens zum Wohl aller Wesen – Geschichte eines europäischen Buddhisten - Stand 30.1.2020

Szene 086 – Mein Freund Gerd – 1953-1978



Meine Schulzeit lag 1971 hinter mir, im Juni hatte ich Abitur gemacht und im Oktober begann ich mit dem Studium der Wirtschaftswissenschaften an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt. Mit dem Schulende hatte ich auch meinen bis dahin besten Freund Klaus verloren, unsere Wege trennten sich, als er zur Bundeswehr ging, ich habe ihn nie wieder gesehen, 1973 gab er sein Leben im Dienst für sein Vaterland (vgl. Szene 34: Mein Freund Klaus).

1971 war an der Uni Frankfurt, der Heimstatt der „Frankfurter Schule“, von der die Studentenbewegung, heute als „68er“ bekannt, ausging, weiterhin von Unruhen, Teach-ins, Vollversammlungen und ähnlichem mehr geprägt. So hatte sich die Fachbereichsleitung des Fachbereichs Wirtschaftswissenschaften genötigt gesehen, in der ersten Woche für alle Studienanfänger eine marxistische Schulungswoche unter Leitung von Studenten zweier marxistischer Gruppen durchzuführen, diese Gruppen waren die „Sozialistische Hochschul-Gemeinschaft - SOHOG“ und die „Rote Zelle Wirtschaft – RotZWirt“ (vgl. Szene 032-RotZWirt). In der Szene 032 habe ich unter anderem geschrieben:

In der Tat konnten wir uns während dieser Einführungswoche beschnuppern und schauen, mit wem wir am besten zurecht kämen. Und so bildete sich allmählich eine Gemeinschaft heraus, die über zwei, drei Jahre recht stabil war. In meiner Arbeitsgruppe waren außer mir Gerd, Uschi und Homer. Gerd war mir gleich anhand der Adressenliste aufgefallen, denn er wohnte nur wenige Kilometer von mir entfernt in Hainstadt. Homer war der Klügste, allerdings schien er kein großer Anhänger einer sozialistischen Perspektive zu sein, und Uschi war eine sehr sympathische und offene junge Frau.

In dem Punkt Vermittlung linker Gedanken, war unser Gruppenführer weniger erfolgreich – ich muss zugeben, dass mir nicht wirklich erinnerlich ist, was er uns eigentlich vermitteln wollte. Vielmehr schien mir, dass er an einigen Stellen selbst nicht weiter wusste. Das waren die Stellen, in denen ich – sonst immer der große Schweiger – so freundlich war, Lösungen zu präsentieren. Damit scheine ich die drei anderen, Gerd, Homer und Uschi, einigermaßen beeindruckt zu haben, so jedenfalls äußerten sie sich später.

Mit Gerd hatte ich sofort engeren Kontakt, er kam damals - wie ich - mit dem Zug nach Frankfurt und auf dem Rückweg von der Uni gingen wir zumeist zusammen zum Frankfurter Hauptbahnhof und fuhren von dort gemeinsam nach Hanau, wo sich unsere Wege trennten, ich fuhr noch ein Station weiter nach Großauheim, Gerd stieg um und fuhr mit der Bahn nach Hainstadt. So waren wir nicht nur in der Uni und in unserer Arbeitsgruppe zusammen, sondern unsere Freundschaft reichte darüber hinaus, und das um so mehr, als wir nicht nur unsere gemeinsame Vorliebe für alkoholische Getränke entdeckten, sondern feststellten, dass wir mindestens einen gemeinsamen Vorfahren hatten (vgl. Szene 059-Iwan Pjotrowich). Und so dauerte es nur etwa einen Monat bis wir auf unsere KommilitonInnen genau so unzertrennlich wirkten wie in der Schule Klaus und ich. Kam ich ausnahmsweise einmal irgendwo allein hin, so wurde ich gefragt: „Horst, wo hast du denn heute deinen Schatten gelassen?“ Und erschien Gerd merkwürdiger Weise irgendwo ohne mich, so hieß es: „Ist dein Zwillingsbruder krank?“

Wir gingen zusammen zu den Versammlungen der RotZWirt – wo wir beide nicht über den Kandidatenstatus hinauskamen – und verließen die Gruppe gemeinsam. Wir gingen anschließend gemeinsam zu einer anderen linken Gruppierung, dem MSB Spartakus, und verließen diese Gruppe gemeinsam wieder. Als ich 1972 in meinen VW-Bus, das Carstle, vor der Uni bezog (vgl. Szene 040 - Carstle), hörte auch Gerd auf mit dem Zug zu kommen und kam statt dessen mit dem Motorrad zur Uni. Und da ich damals mein Geld mit Stenografieunterricht verdiente (vgl. Szene 013 - Helmut Stief) lernte nun auch Gerd Steno, er wurde zu meinem Schüler. Und als ich einen Aufbaukurs für Fortgeschrittene an der Volkshochschule anbot, meldeten sich nur zwei Personen an: Rudi Rodenbach, der damals mein Stellvertreter im Vorsitz des vfs, des Vereins für Stiefografie, war, und eben Gerd. Natürlich hätte der Kurs unter diesen Umständen nicht laufen können, aber ich erfand noch sechs weitere Teilnehmer und zahlte die Kursgebühren von 6x10,50 DM und sicherte mir dadurch das Honorar für den Kurs (300 DM), da ich zuvor auch noch einen Anfänger Kurs hatte, erhielt ich für jeden Donnerstagabend von der vhs Hanau 60 DM. Unser Fortgeschrittenen-Kurs sah so aus, dass ich zunächst einen Text diktierte, dann zogen wir uns gemeinsam in die nahe gelegene Bar „Whiskothek Dudelsack“ zurück, wo wir die Kurseinnahmen gemeinsam versoffen. Anschließend fuhr ich Rudi Rodenbach, der damals noch kein Auto hatte, nach Hause, die Unvereinbarkeit von Alkohol und Autofahren war zu dieser Zeit noch unbekannt – uns jedenfalls.

In der Tat war es damals so, dass ich häufig morgens mit schwerem Kopf aufwachte und keine Ahnung hatte, wie ich nach Hause gekommen war. Dann schlich ich mich mitunter furchtsam in die Garage – und siehe da, mein Auto, das Himbomobil, stand brav dort, wo es hingehörte – auch wenn es ausweichlich des Tachos für die nur 5 km lange Strecke von Hanau nach Großauheim wieder über 70 km gebraucht hatte.

Ein Beispiel dafür, wie Gerd und ich die Tage verbrachten, ist der 27. April 1972, ein Donnerstag. An diesem Tag will der CDU-Vorsitzende Rainer Barzel in einem konstruktiven Misstrauensvotum den Bundeskanzler Willy Brandt stürzen. Prof. Reichmann erscheint nur kurz im Hörsaal und sagt, dass das Misstrauensvotum allemal interessanter sei als seine Vorlesung, und wir sollten daher lieber verschwinden und in eine Kneipe mit Fernseher gehen. Er hat sicher nie wieder so viel Beifall bekommen, wie für diese Ankündigung. Also zogen wir vier von unserer Arbeitsgruppe, Gerd, Homer, Uschi und ich in die Eckkneipe „Dr. Flotte“, bestellten erst einmal Bier. Gerd: „Herr Ober, zwei Bier!“ Ich: „Ja, Herr Ober, mir auch zwei!“ so ging das damals bei uns. Nachdem Brandt gewonnen hatte, verzog sich Homer. Uschi, Gerd und ich beschlossen jetzt ausgiebig zu feiern.

Gerd: „Herr Ober, eine Flasche Wodka!“ - Ich: „Ja, Herr Ober, mir auch eine.“ Uschi: „Herr Ober, mir erst mal nur 100 Gramm, wird sonst so schnell warm.“ Es war ein feucht-fröhlicher Nachmittag. Und da Uschi recht hatte, dass der Wodka die Eigenschaft hat, warm zu werden, wurden Gerd und ich einsichtiger. Als wir ausgetrunken hatten, bestellten wir vorsichtshalber erst mal nur eine weitere Flasche für uns gemeinsam. Wo war eigentlich Uschi?

Irgendwann tauchte Uschi kichernd von unter dem Tisch wieder auf und sagte, sie müsse jetzt gehen. Wenig später sah Gerd auf seine Uhr, wobei er das linke Auge zukniff, weil er sonst seine Armbanduhr doppelt sah. „Du, Himbi, ich geh´dann auch mal, muss noch zum Kurs.“ Ich hatte bei meinen Freunden in der Uni den Namen meines Meerschweinchens bekommen, das ich beständig in den höchsten Tönen lobte.

Ich sah meinen Freund mit glasigen Augen an: „Was´n für ´n Kurs?“ - „Weißt du, Himbi, ich hab da an der vhs so´n Stenokurs belegt, heißt Stiefografie.“ Ich denke kurz nach: „Moment mal, Stiefografie? Bin ich dort etwa der Lehrer?“ - Gerd überlegt einen Moment: „Jetz´ wo du´s sagst - ich glaub schon.“ „Scheiße, dann muss ich ja auch hin, wir müssen uns beeilen. - Herr Ober, schnell, die Rechnung.“

Wir versuchen also loszulaufen und fallen erstmal beide hin. „Was ist das?“ Tatsächlich unsere Schuhe! Die Schuhbändel unserer beiden Schuhe sind halb aus den Ösen herausgezogen und Gerds und meine Schuhbändel sind hoffnungslos miteinander verknotet. „Wie kommt denn das?“ - „Die Uschi, wenn ich die erwische, deshalb war die unterm Tisch.“ Mit den Schuhen in der Hand laufen wir zum Bahnhof.

Im Zug nach Hanau gelingt es uns die Schuhbändel zu entwirren und wir kommen gerade noch rechtzeitig zum Kurs. Dieser Unterrichtsabend war zugegebenermaßen nicht meine beste Vorstellung. Hana, eine gut aussehende Tschechin, wagt sich als erste aus der Deckung: „Herr Gunkel, so schnell haben sie ja noch nie an die Tafel geschrieben.“ In mir steigt so etwas wie Stolz auf, bevor sie weiter fortfährt: „Nur leider kann man gar nichts lesen.“ Dann setzt auch noch ihr süße Nichte Jana eins drauf: „Herr Gunkel, warum halten sie sich eigentlich so krampfhaft an der Tafel fest?“

Ich merke, dass das heute nicht mein Abend ist und entschließe mich zur Vorwärtsverteidigung: „Okay, der Gerd und ich, wir haben vorhin Barzels Niederlage gefeiert und dabei völlig vergessen, dass wir hier noch etwas zu erledigen haben. Ich schlage vor wir machen jetzt noch ein Diktat und dann vertagen wir uns in die Whiskothek Dudelsack hier um die Ecke, zur Feier des Tages geht alles auf mich!“- Ich bekam fast so viel Applaus wie Prof. Reichmann am Vormittag.

Es wiederholte sich allerdings in der Folge etwas, das auch einen Schatten auf meine Freundschaft mit Klaus wenige Jahre zuvor geworfen hatte. Hatte ich meine Freundschaft mit meinem Schulfreund hintangestellt, als mir Britta wichtiger war, so war inzwischen eine andere Stiefoschülerin von mir, Eleonore, in meinen Fokus gerückt. Gerd stand für mich eindeutig nur noch an zweiter Stelle. Und dann kam eine Situation, die sehr schlimm war.

Gerd hatte wieder einmal zu viel getrunken. Dann bekam er einen Anpfiff von seinem Vater, ob er eigentlich schon die Pferde auf der Koppel versorgt hätte. „Okay, ich fahr schnell hin,“ sagte Gerd, warf sich den Parker über und verzichtete wieder einmal mehr auf seine Motorradkleidung und den Helm. Und er machte genau, was er sagte, er fuhr „schnell“ hin, mit deutlich über 100 Sachen durch den Ort. Ein Mädchen ging auf die Straße. Gerd hatte nur noch die Wahl, ob er das Mädchen erwischt oder den parkenden Mercedes. Er entschied sich für letzteres. Mit den Beinen voran durchschlug er die Heckscheibe des Mercedes und flog durch die Windschutzscheibe wieder heraus. Er wurde vom Rettungshubschrauber ins Krankenhaus nach Offenbach gebracht.

Ich war damals frisch verheiratet, stand in der Prüfung der Uni und meine Tochter Kohlrübchen kam zur Welt, alles andere hatte für mich Priorität, sodass ich Gerd in den Monaten im Krankenhaus nur ein einziges Mal besuchte, hinterher war er irgendwo zur Reha.

Während wir uns um den realen Gerd recht wenig kümmerten, war er gewissermaßen ansonsten immer mit dabei. Uschi und ich waren mit Prof. Lutz für eine Woche auf Exkursion in Coburg. Und selbstverständlich war Gerd immer „im Geist“ dabei. Ein Platz im Bus blieb für ihn reserviert, in jeder Gaststätte musste ein Platz für den Gerd frei bleiben, und selbstverständlich bestellte ich immer nicht nur ein Bier für mich sondern auch eines für Gerd (das ich dann selbstverständlich in aller Freundschaft für Gerd austrank – jedenfalls wenn Uschi nicht schneller zugriff.)

Prof. Lutz zog allerdings ein langes Gesicht als er wieder einmal fragte, wer heute das Protokoll mache – und alle riefen wie aus einem Mund: „der Gerd“. Es blieb dem Professor wohl nichts anderes übrig, als das Protokoll selbst anzufertigen.

Gerd wurde von mir übrigens auch als Stiefolehrer ausgebildet. Alles das war nach seinem Unfall liegen geblieben. Irgendwann war er wieder da und wir nahmen unsere Freundschaft wieder auf. Er fuhr jetzt nicht mehr Motorrad und auch nicht mehr mit dem Ford Mustang wie früher, als er in seiner Eigenschaft als Prokurist im Chemiuunternehmen seines Vaters mitunter nach dem Frühstück nach München fuhr, einen Vertrag aushandelte, von dort mit dem Mustang nach Hause, sich dort aufs Motorrad schwang und nach 900 km um 14 h in der Uni neben mir saß. Er hatte jetzt einen R4. Wenn wir so beim Bier saßen fragte er schon mal: meinst du das ist schlimm, wenn sie einem zum zweiten Mal den Führeschein abnehmen? Im Oktober 1977 saßen wir zum letzten Mal zusammen. Er beklagte, dass er in den ersten zwei Monaten noch keinen einzigen Strich für seine Diplomarbeit gemacht habe. Und jetzt bleiben nicht einmal mehr drei Monate. Wir beschlossen unsere Besäufnisse erst einmal einzustellen und sagten einander zu, uns erst am Tag nach der Abgabe seiner Diplomarbeit im Januar wieder zu treffen. Dann würden wir auch regeln, wie das mit ihm und dem Stiefounterricht weiterginge.

gIn der ersten Schulwoche des Jahres 1978 komme ich gerade von der Schule nach Hause. Eleonore öffnet mir: „Es ist schon wieder etwas passiert. Der Gerd ist tot.“ Tatsächlich hat sich mein Freund Gerd drei Tage vor dem Abgabetermin seiner Diplomarbeit erhängt. Die Diplomarbeit war nicht das einzige Problem. Die Firma seines Vaters hatte Konkurs angemeldet, seine Brüder warfen ihm vor, als Prokurist nicht genug für den Erhalt des Betriebs getan zu haben, mit seiner Freundin gab es eine Krise und auch die Schmerzen an den beiden Stahlplatten und den sechs Stahlstiften, die seinen Körper seit seinem Unfall zusammen hielten, wurden schlimmer.

Gerd hatte schon früher immer einmal gesagt: „Wenn alles Scheiße ist, kauf ich mir ´n Strick und erschieß mich damit.“ Wie man so sagt, wenn man jung und unbekümmert ist, dachte ich.

In dieser Woche saßen Uschi, Elonore und ich - teilweise noch mit anderen Leuten - mehrfach zusammen, wir versuchten, das Unfassbare zu begreifen.

Armer Gerd. Vielleicht hattest du nicht die richtigen Freunde, die sich genügend um dich kümmerten.

Das letzte Bild, das es von Gerd gibt


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