Horst, der Mensch: Der verschlungene Pfad in Richtung eines Lebens zum Wohl aller Wesen – Geschichte eines europäischen Buddhisten - Stand 22.1.2020

Szene 084 – Dr. Rolf Neidhardt und die BUG



Rolf Neidhardt war Doktor der Chemie; als ich ihn kennen lernte, war er bereits frühpensioniert, ein aktiver Mann in seinen Fünfzigern. Er hatte früher die PWG in Großauheim angeführt, die Parteilose Wählergemeinschaft, und hatte bei den Wahlen in der Stadt Großauheim und (nach der Eingemeindung Großauheims in die Stadt Hanau) für den Ortsbeirat von Großauheim die Fraktion geführt. Die PWG war unter seiner Führung zunächst eine unabhängige Kraft, die bis zu 25 % der Wählerstimmen in Großauheim, einer kleinen Industriestadt mit 16.000 Einwohnern, erzielte.

Rolf Neidhardt war auch ökologisch engagiert, er leitete für lange Zeit den BUND Main-Kinzig, den Bund für Umwelt und Naturschutz. Einmal hat er sogar das ganze Kapitel „Ökologie“ für den Landtagswahlkampf einer politische Partei verfasst, für die FDP. In den 70er Jahren war die FDP noch keineswegs eine neoliberale Partei wie heute. Sie hatte in der zweiten Hälfte der 60er Jahre ihre nationalliberale Vergangenheit überwunden und war zu einer modernen, weltoffenen Partei geworden. Das Freiburger Programm der FDP atmete den Geist dieses weltoffenen Denkens. Und freudig hatte Rolf Neidhardt den ökologischen Teil des hessischen FDP-Programms geschrieben. Die PWG war inzwischen Geschichte, sie hatte sich der FDP angeschlossen.

Und als es in Wiesbaden zu einer sozialliberalen Koalition kam, frohlockte Rolf Neidhardt zunächst. Endlich würden die nur wachtsumsorientierten Sozis einen Koalitionspartner erhalten, der für ökologische Politik stand. Um so herber war seine Enttäuschung, dass sich die hessische FDP anschickte reine industriefreundliche Wirtschaftspolitik zu machen. In den Koalitionsverhandlungen hatten ihm seine „Parteifreunde“ deutlich gemacht: Das ökologische Mäntelchen war für den Wahlkampf gut, aber die Wirtschaftspolitik, die man machte, war die gleiche wie immer: von ökologischer Verantwortung gegenüber Mensch und Umwelt keine Spur!

Enttäuscht verließ Neidhardt die FDP. Ohne ihn holte seine ehemalige Partei in Großauheim nur noch Wahlergebnisse um die 10 %. Der Neidhardt-Bonus war weg. Ökologische Politik wurde jetzt in Hessen von den Grünen vertreten, die zogen 1982 in den Hessischen Landtag ein, waren seit 1986 an der Regierung beteiligt. Auch in der Stadt Hanau gab es inzwischen die Grünen (vgl. Szene 019 – Eine neue Partei in Hanau), seit 1985 in der Stadtverodnetenversammlung von Hanau vertreten und im gleichen Jahr auch in den Kreistag des Main-Kinzig-Kreises eingezogen (vgl. Szene 064: In den Kreistag).

Im Jahr 1988, als diese Geschichte ihre Anfang nimmt, waren die Grünen also auf allen Ebenen parlamentarisch vertreten – nur eben nicht in Großauheim, auf der Ortsebene. Dort gab es weiter nur SPD (seit dem Krieg hier die stärkste Partei, vgl. Szene 006: Ein Ehepaar wird sozialdemokratisch), CDU und eben die FDP, seit einiger Zeit ohne Neidhardt. In Großauheim gab es damals nur vier Mitglieder der Grünen, von denen zwei definitiv keinerlei Posten anstrebten. Auch ich hatte mich um diese Ebene nicht gekümmert, ich war zu diesem Zeitpunkt Fraktionsvorsitzender der Grünen im Main-Kinzig-Kreis und Fraktionsvorsitzender der Grünen in der Regionalversammlung Südhessen, außerdem hatte ich noch eine Vollzeitstelle an den Beruflichen Schulen Gelnhausen, und war im Vorstand mehrer Organisationen. Das vierte Mitglied der Grünen in Großauheim war Eleonore, die Mutter meiner Kinder.

Das war die Situation Ende November oder Anfang Dezember, als ich einen Anruf von Rolf Neidhardt bekam. Nach kurzem Vorgeplänkel kam er zu seinem eigentlichen Anliegen: „Sag mal, Horst, was machst du eigentlich in der Wahlkabine im März, wenn du den Wahlzettel für den Ortsbeirat Großauheim in der Hand hältst?“

Ich antwortete: „Voraussichtlich das, was ich bei den letzten Malen auch gemacht habe. Ich sehe die Listen dreier unakzeptabler Parteien vor mir, streiche den ganzen Wahlzettel durch und schreibe darauf: DIE NICHT!“

Neidhardt musste lachen: „Ganz so mache ich es nicht, aber es läuft im Endeffekt auf das gleiche heraus. Aber jetzt mal im Ernst: warum tretet ihr Grünen nicht an?“ Ich erläuterte ihm die prekäre Situation in Großauheim. Neidhardt sagte, das sei das, was er vermutet habe, und dann kommt er mit seinem Plan: „Horst, ich habe hier früher bis zu 25 % für die PWG bekommen, aber dann habe ich mir die Finger an der FDP verbrannt. Du bist als Fraktionsvorsitzender der Grünen im Kreistag bekannt, wenn wir uns beide zusammentäten, würden wir locker den Ortsbeirat aufmischen. Was hältst du davon, wenn wir eine Wählergemeinschaft um uns scharen und im nächsten Jahr kandidieren. Wir können an die Spitze andere, vertrauenswürdige Leute stellen und ein wirklich gutes Wahlprogramm aufstellen. Derzeit ist der Kampf um den Erhalt der Waldwiese das zentrale Ökothema in Großauheim. Wir sollten die Vorsitzende der Waldwiesen-Bürgernitiative an die Spitze stellen. Wenn deine Frau auch mit macht, kann sie auf Platz 2, ich kandidiere erst auf Platz 3 – zwei Frauen an der Spitze, das müsste doch bei vielen Leuten ankommen! Und zur Abrundung, damit es wirklich unabhängig aussieht, suchen wir uns noch jemand vom Kirchenvorstand, einen Kommunisten und nach Möglichkeit noch zwei, drei Honoratioren, Ärzte, Apotheker, so etwas.“

Ich fand die Idee sehr gut. Rolf Neidhardt hatte sich sogar schon einen Namen ausgedacht, den er unbedingt durchsetzen wollte: BUG, das klänge fortschrittlich, die Spitze eines Schiffes. Ich war davon weniger begeistert. Aber er erläuterte mir den Vorteil dieses Namens: „Horst, ich habe alle Eventualitäten strategisch bedacht. BUG ist die Abkürzung für >Bürgerliste Umwelt und Grüne Großauheim<. Sollten sich die Grünen in eine verhängnisvolle Richtung entwickeln, dann steht BUG künftig für >Bürgerliste Umwelt Großauheim<, es kann aber auch sein, dass die Grünen in vier Jahren keine eigene Liste für Hanau mehr aufstellen, dann kommen wir mit der BUG als >Bürgerliste Umwelt und Grüne< und beerben sie. Oder wir können in vier Jahren in andere Ortsteile expandieren, dann lassen wir die Bezeichnung Großauheim weg und firmieren als >Bürgerliste Umwelt und Grüne<.“

Ich war nicht so ganz überzeugt von diesem trickreichen Vorgehen hinsichtlich des Namens, aber das war sekundär. Was wichtig war, war eine vernünftige Gruppe in den Ortsbeirat entsenden zu können, und dafür war der Vorschlag des BUND-Vorsitzenden ausgezeichnet geeignet. Am 21. Dezember hatten wir unsere erste Versammlung, auf der wir die Liste aufstellten, die ersten drei Plätze so wie von Neidhardt vorgeschlagen, dahinter die Frau vom Kirchenvorstand, dann die Apothekerin und der Kommunist, ich hatte mich ganz hinten auf die Liste schreiben lassen, da ich bereits genügend andere Verpflichtungen hatte. 

Als nächstes mussten Unterschriften für die Unterstützung der Liste gesammelt werden, was kein Kunststück war. Der Wahlkampf beschränkte sich darauf, dass wir auf die von der Stadt in Großauheim an elf Standorten aufgestellten Plakatständer jeweils eine aus drei Fotokopien zusammengestückelte Information klebten. Wir mieteten außerdem zwei große Plakatwände an, auf die eine Großauheimer Künstlerin Großauheimer Themen malte. Außerdem hatten wir ein Kurzprogramm erstellt, das wir an alle Haushalte verteilten. Unsere wichtigsten Themen waren: 1. Entgiftung für das Groß-Kraftwerk Staudinger vor den Toren der Stadt, 2. Abzug der US-Streitkräfte aus Großauheim (vgl. Szene 048: Wie ich ganz allein die US-Army besiegte), 3. Erhalt der Waldwiese, 4. Schließung der Großauheimer Atomfabriken NUKEM, ALKEM, NTL, HOBEG, RBU und Transnuklear. Drei der vier Punkte konnten wir in den nächsten 10 Jahren umsetzen, lediglich die Waldwiese ging verloren, schlimm genug!

Kurz vor den Wahlen gaben wir noch eine Pressekonferenz auf der ich die Neugründung der Stadt Großauheim, also die Unabhängigkeit von Hanau, forderte, ein Thema das die größten Emotionen auslöste. Die BUG war noch kein Vierteljahr alt, da zog sie in den Ortsbeirat von Großauheim ein mit immerhin 11,6%, deutlich mehr als die Grünen hier für die Stadtverordnetenversammlung oder den Kreistag erzielten, die am gleichen Tag gewählt wurden. Ein Wermutstropfen dabei war: Rolf Neidhardt zog nicht in den Ortsbeirat ein, wir bekamen zwei Sitze, für den dritten, Rolfs Sitz, wären 0,5 % mehr nötig gewesen.

Zwei Jahre später saß ich im ÖkoBüro Hanau, als Rolf hereinkam, er wollte noch einige Fotokopien auf dem Kopierer des ÖkoBüros machen. Er erzählte, dass er am nächsten Tag ins Krankenhaus müsste, nur ein Routineeingriff, „aber so ein ganz mulmiges Gefühl, wie ich jetzt habe, das hat man dabei wohl immer.“

Ich sagte ihm, er solle sich keine Sorgen machen, das hätte die heutige Medizin sicher im Griff. Leider hatte Rolf Neidhardts Gefühl diesmal recht und ich nicht. 24 Stunden später war ein hervorragender Umweltaktivist, der Vater der BUG, tot.


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