Horst, der Mensch: Der verschlungene Pfad in Richtung eines Lebens zum Wohl aller Wesen – Geschichte eines europäischen Buddhisten - Stand 22.1.2020

Szene 072 – Von Hähnchen und Mythen



Ich nenne diese Sammlung von Szenen aus meinem Leben „Der verschlungene Pfad in Richtung eines Lebens zum Wohl aller Wesen“. Hähnchen sind Wesen. Mein Leben ist ein verschlungener Pfad, aber er ist tendenziell in eine Richtung zum Wohl aller Wesen ausgerichtet. Ich glaube, das lässt sich ganz gut am Beispiel von Hähnchen deutlich machen.

Als ich Kind war und mein Vater noch lebte, also in den 50er Jahren, da waren Hähnchen - und ich meine jetzt nicht kleine männliche Hühner, sondern das Gericht „Hähnchen“ (Broiler) - ein Teil des exquisiten Nahrungsmittels „Geflügel“ in unserem Haushalt. Neben Hähnchen gab es mitunter auch Fasan oder Gans, alles vornehme Lebenmittel, sog. „Sonntagsessen“. Geflügel war recht teuer, alles andere als ein Alltagsessen, teurer als Schnitzel, Kotelett, Braten oder Rumpsteak.

Ethisch gesehen war damals keine dieser Mahlzeiten für jemanden aus meiner Familie ein Problem. Und wenn ich mir doch einmal Gedanken darüber machte, so war die Antwort: „Schließlich hat der liebe Gott die Tiere dafür gemacht, dass wir sie essen.“ Ja, wenn das so war, dann wäre es gewissermaßen eine Sünde, ein Akt von Undankbarkeit, Gottes Gabe nicht anzunehmen. Die Frage, warum Gott denn die Tiere schon gemacht hatte, als es noch gar keine Menschen gab, diese Frage kam mir nicht in den Sinn. Auch keine andere kritische Frage. Das war einfach so. Viel später habe ich mich dann gefragt, ob das einfach so akzeptiert wurde, wie man 20 Jahre zuvor akzeptierte, dass die Juden verschwanden, die Kommunisten usw. Das war eben einfach so. Manchmal fragt man eben nicht. Und möglicherweise fragt man manchmal nicht, weil man – bewusst oder unbewusst – die Antwort fürchtet. Also damals, bei den Nazis.

Und heute auch.

hIn unserem Garten gab es Anfang der 50er Jahre noch einen Hühnerstall, in dem wohnten zwei Hühner. Auch zwei unserer Nachbarn hatten Hühner – und jeweils einen Hahn, den man - insbesondere morgens - sehr gut hören konnte. Bei uns wohnte kein Hahn mehr. Unsere beiden Hühner sollten sich nicht mehr reproduzieren, die Hühnerhaltung war ein auslaufendes Modell. Hühner zu halten war während der Hungersnot in den 40er Jahren essentiell, denn Hühner produzierten Eier, und hin und wieder wurde wohl auch ein Hähnchen geschlachtet. (Hühnerhaltung in Großauheim hinterm ÖkoBüro um 1990)

Jetzt gab es niemanden mehr, der Hühner schlachtete. Und als das vorletzte Huhn gestorben war und das letzte ganz einsam in seinem Stall saß, wurde es von einem Nachbarn geschlachtet, der bekam dafür die zwei letzten Eier dieses Huhnes. Bei uns war nämlich niemand in der Lage, ein Huhn zu schlachten: mein Vater war blind und meine Mutter und Großmutter konnten es nicht übers Herz bringen, einem Huhn den Kopf abzuschlagen. Aber essen konnten sie Hühner.

Ich kann mich noch sehr genau daran erinnern, wie wir das Huhn ausgenommen haben. Es war höchst interessant und faszinierend, das kleine Herz zu entdecken, das jahrelang das gefiederte Tier am Leben gehalten hatte. Und auch die vielen anderen inneren Organe, eine richtige Lehrstunde in Anatomie! Am interessantesten fand ich aber, dass es Eierstöcke und Eileiter gab und darin Eier in unterschiedlichen Stadien der Entwicklung zu sehen waren. Da das Huhn jedoch schon sehr alt war, taugte es nicht zum Braten, es war nur als Suppenhuhn zu verwenden, viel zu zäh zum Essen.

dEntweder bei dieser Gelegenheit oder aber unwesentlich später, vielleicht als es einmal Hähnchen gab, fragte ich meine Großmutter, warum man denn von „Hühnern“ spricht, aber beim Essen von „Hähnchen“. Meine Großmutter erläuterte mir, dass die Küken jeweils zu etwa der Hälfte männlich und weiblich seien, dass man das aber da noch gar nicht unterscheiden könne. Erst wenn sie heran wüchsen, so sechs oder alt Wochen alt seien, dann würde man erkennen, wie einigen von ihnen ein „Hahnenkamm“ wachsen würde.

(Bild: freilaufende Hühner hinterm ÖkoBüro um 1990, rechts das Dudelhuhn, vgl. Szene 010)

Wenn sie aber drei, vier Monate alt wären, dann würden sich die Junghähne gegenseitig anzugreifen beginnen. Es sei so, dass sich nur der stärkere durchsetze. Das sei sehr schlimm, und diese Hahnenkämpfe wären blutig, nicht selten würde ein Junghahn dem anderen ein Auge aushacken, manchmal gäbe es sogar Kämpfe auf Leben und Tod. Anders als in der Natur könnte der unterlegene Hahn auch nicht einfach fliehen und woanders sein Glück suchen. Deshalb könnte in einem normalen Hühnerstall zwar 10 oder 20 Hühner leben, aber immer nur ein Hahn. „Und das“, so schloss meine liebe Großmutter, „ist der Grund, warum die jungen Hähnchen im Alter von drei Monaten geschlachtet werden müssen, das geht schnell und ist für die Hähnchen viel weniger leidvoll, als wenn sie im Kampf untereinander verletzt, verkrüppelt oder getötet werden. Allerdings bringe ich es nicht über Herz, so einem Tier den Kopf abzuhacken und deine Mutter auch nicht. Und deshalb haben wir keine Hühner mehr. Wir kaufen die Eier lieber im Laden, jetzt, wo es ja jetzt wieder alles gibt. Und dort wo die Hühner leben, dort findet sich auch immer ein Mann, der die Hähnchen zu töten bereit ist, bevor sie sich im Kampf verletzen. Und so können wir auch immer einmal ein Hähnchen als Sonntagsbraten kaufen.“

Das schien mir sehr vernünftig, überaus logisch und ethisch vertretbar. Die Welt war in Ordnung, alles hatte irgendwie seine Ordnung, gottgewollt. Und in meinem Kopf hatte sich gewissermaßen der „Mythos vom Hähnchen“ festgesetzt. Es war ein schöner Mythos, ein bequemer Mythos, aber es war ein Verdrängungsmythos: dieser Mythos hat weiteres kritisches Hinterfragen unterdrückt. Lange, sehr lange, allzu lange.

Das eben Beschriebene hatte in den 50er Jahren stattgefunden. Anfang der 60er Jahre wurde durch die GATT-Verhandlungen (GATT = General Agreement on Tariffs and Trade) eine neue Runde der Globalisierung eingeleitet. Die wichtigste Auseinandersetzung zwischen den USA und der EWG ging damals um die Einfuhr von Schlachtgeflügel aus den USA, diese Auseinandersetzung wurde auch als „Hähnchenkrieg“ bezeichnet.

Die Folge der anschließenden Liberalisierung war, dass der Geflügelpreis rapid sank. Ich kann mich erinnern, wie ich mit meiner Mutter durch Hanau ging und dort an einem Stand ein halbes Brathähnchen für 3,60 DM angeboten wurde. Meine Mutter war ganz aus dem Häuschen über diesem Preisverfall! Für 3,60 DM bekam man damals 7 Liter Benzin, 9 Glas Bier in der Gaststätte oder dreimal Kinderhaarschnitt. Demnach entsprachen 3,60 DM einem Preis von heute zwischen 10 und 20 EUR. Das erschien für ein halbes Hähnchen damals als absolut unglaubliches Schnäppchen!

In der Folge gab es bei uns – obwohl mein Vater verstorben und die finanzielle Lage eher angespannt war - öfter Hähnchen. Ich kann mich gut erinnern, wie das die Geburtstagsfeiern beeinflusste. Geburtstage wurden damals andauernd gefeiert, ungefähr alle zwei Wochen war man irgendwo auf einen Geburtstag eingeladen. Man traf sich zum Nachmittagskaffee und Kuchen, man unterhielt sich und zum Abendessen gab es Kartoffelsalat und Würstchen. So war das die letzten zehn Jahre. Aber plötzlich wurden in der zweiten Hälfte der 60er Jahre die Würstchen durch Hähnchen ersetzt. Mich focht das nicht an. Ich glaubte fest weiter an den Mythos vom Hähnchen: „Ist ja besser so für die kleinen Hähnchen“, pflegte ich meine Verblendung.

Um 1970 öffnete in Stockstadt der Massa-Markt, ein riesiger Großmarkt, wie sie damals gerade erstmals in Westdeutschland aufkamen. Massa war für seine absolute Tiefpreisstrategie bekannt. Natürlich wollte meine Mutter zur Eröffnung dorthin – und es wurde eine Kauforgie. Unter anderem kauften wir an diesem Tag unseren ersten Farbfernseher, bis dahin hatten wir den schwarz-weißen Fernseher von 1954 benutzt. Da Schwarz-Weiß-Fernseher aber besonders billig waren, wurde auch noch ein Schwarz-Weiß-Fernseher gekauft. Das Kalkül meiner Mutter: „Die meisten Sendungen sind sowieso noch in schwarz-weiß. Dafür nehmen wir dann den billigen Fernseher und schonen so die Farbröhre des Farbfernsehers.“

Meine Mutter war eine berüchtigte Schäppchenjägerin mit ausgesprochen betriebs-wirtschaftlichem Kalkül, eine gelernte Kauffrau. (Mein Vater hatte früher gesagt: „Immer wenn die Ruth spart, ist unser ganzes Monatsgehalt weg!“) An diesem Tag bei Massa wurde extrem gespart, und so standen wir hinterher mit drei dieser neuen überdimensionierten Einkaufswagen, auf denen sich die Waren zu Berge türmten, an der Kasse an. Einen Wagen hatte ich zu schieben, einen meine Mutter und einen die liebe Großmutter, die das alles verrückt fand. Ich sah das damals anders, weiß aber heute, dass die liebe Großmutter – wie üblich – recht hatte.

Ganz besonders bedenklich war, dass wir Brathähnchen kauften. Und damit sich dort bei Massa nicht Gastwirte versorgten und die Endverbraucher das Nachsehen hätten, war die Anzahl der Hähnchen, die man kaufen konnte, auf zehn pro Person begrenzt. Schnäppchen-Ruth wusste sich aber zu helfen: wir waren drei Leute, hatten drei Einkaufswagen, also konnten wir 3x10 Hähnchen kaufen. Dass war zwar absoluter Schwachsinn, da wir keine Tiefkühltruhe hatten. Allerdings hatte meine Mutter mich gefragt, ob ich auch wirklich bereit sei, ganz viele davon zu essen, was ich zusagte. Einerseits waren gerade die Asterix-Comics aufgekommen, und ich konnte mich trefflich mit dem Wildschweine mampfenden Obelix identifizierten. Und andererseits spukte da noch immer dieser Hähnchen-Mythos in meinem Kopf herum: „Ist ja zu deren Bestem!“

Die nächste Woche war schrecklich. Meine Schwester, meine Großmutter und meine Mutter aßen zusammen vielleicht drei Hähnchen. Und ich hatte gesagt, ich würde jede Menge vertilgen! Das heißt 27 Hähnchen blieben für mich. Nicht halbe Hähnchen, ganze! Und dazu beständig dieser Geruch. Es passten nämlich nur zwei Hähnchen in den Backofen und sie brauchen jeweils mehr als 2 Stunden, also musste der Herd über 30 Stunden Hähnchen braten – Rüst- und Nachtzeiten kamen noch hinzu.

27 Hähnchen in einer Woche bedeutet: ein ganzes Hähnchen zum Frühstück, eines zum Mittagessen und eines am Abend – Tag für Tag. Ich hatte mir mit meiner verblendeten Affinität zum Hähnchen-Mythos schlechtes Karma geschaffen, und einen Teil dieses Karma musste ich jetzt bereits abtragen. „...und vom ganzen Hühnerschmaus, schaut nur noch ein Bein heraus“ dichtete Wilhelm Busch in „Max und Moritz“, aber diese beiden Knaben mussten pro Person nur zwei Hühner essen, keine 27!

Im Jahr 1974 wurde ich erstmals der Problematik der Käfighaltung bei Hühnern bewusst. Ich hatte einen Filmbericht darüber im Fernsehen gesehen. Man muss sich immer klar machen: die Informationsbeschaffung war damals eine völlig andere als heute. Es gab kein Internet. Als Information dienten Zeitungen, Zeitschriften und das Fernsehen. Wollte man zu einem Thema recherchieren, so ging das allenfalls über Bibliotheken. In der Großauheimer oder der Hanauer Stadtbibliothek gab es zu diesem Thema nichts. Man konnte versuchen, an Bibliothekskataloge heranzukommen und etwas auf dem Weg der Fernleihe zu bestellen. Dann musste das angefordert werden, eine Woche später konnte man die Bücher abholen. Ich habe das zweimal für Referate gemacht, dann aber jeweils nichts Verwertbares gefunden. Das war einfach zu umständlich.

Es gab zwar noch die Möglichkeit der Deutschen Bibliothek in Frankfurt, dort konnte man aber nur einen Ausleihe-Ausweis bekommen, wenn man ein wissenschaftliches Interesse nachweisen konnte. So war man tatsächlich auf das angewiesen, was gerade in den Medien erschien. Und das war 1974 ein Bericht über Hühnerhaltung in Legebatterien.

Dort wurde auch eine Adresse angegeben, wo es Formulare für eine Petition gegen Legebatterienhaltung gäbe. Ich habe diese Institution angeschrieben (mit der gelben Post) und von diesen einige Formulare bekommen. Ich dachte mir, es müsste ein leichtes sein, an der Uni genügend Unterschriften zu sammeln. Gerade in linken Kreisen setzte man sich damals mit allen möglichen Missständen auseinander. Doch zu meinem Erstaunen, zu meinem Entsetzen, bekam ich Antworten wie diese: „So lange es noch einem einizigen Menschen schlecht geht, werde ich mich nicht für Tiere einsetzen!“ Das klang in meinen Ohren zynisch und kalt. Und das sollte links sein? Vor meinem geistigen Auge hörte ich Nazis bläffen: „Solange es auch nur einem einzigen deutschen Arier noch schlecht geht, so lange sind mir die Juden und die Russen scheißegal!“

So sah ich die Fehler meiner KommilitonInnen sehr deutlich. Allerdings konnte ich hinterher in der Mensa durchaus ein halbes Hähnchen essen, denn den Hähnchen-Mythos pflegte ich weiter. „Was siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, siehst jedoch nicht den Balken in deinem eigenen Auge?“ hatte Jesus einst gefragt. Mal abgesehen von den Größenverhältnissen hinsichtlich Splitter und Balken hätte das auch sehr gut auf meine Situation gepasst.

Ich bemühe mich inzwischen (21. Jhd.) eifrig, selbst Splitter in meinen eigenen Augen zu finden, allerdings bemerke ich auch Splitter und teilweise leider auch Balken bei anderen. Spirituelle Freunde mache ich auf ihre Splitter aufmerksam. Nichtspirituelle Freunde weise ich unter vier Augen zumindest auch auf ihre Balken hin. Allerdings verliert man auf diese Weise auch den einen Freund oder die andere Freundin...

Ich selbst verzichtete von nun an auf Eier aus der Massentierhaltung – oder bemühte mich darum. Beim Eierkauf war das eine einfache Sache. Ich kaufte sie nicht mehr im Supermarkt, zumal es damals noch keine Etikettierung bezüglich der Herkunft gab. Ich holte die Eier nur noch bei dem kleinen Bauernmarkt in Großauheim. Die Verkäuferinnen dort versicherten mir, die Eier seien von freilaufenden Hühnern aus dem nahen Kahlgrund. Ich entschied mich, das zu glauben, obwohl ich mir nicht ganz sicher war. Jahre später habe ich gehört, dass es laut Verkäuferaussagen so viele Eier von freilaufenden Hühnern gäbe, dass jedes dieser Hühner täglich neun (!) Eier legen müsste (und nicht höchstens eines wie in Wirklichkeit).

Schwieriger war es jedoch bei anderen Artikeln. Ich machte es mir zur Gewohnheit, bei allen verpackten Produkten genau nachzulesen, was diese beinhalteten: Eier, Vollei, Eiweiß, all das kam nicht in Frage. Doch schon beim Bäcker gab es Schwierigkeiten. Die Bäckereiverkäuferin fragte entsetzt: „Wie ganz ohne Eier? In Kuchen und Stückchen ist doch eigentlich immer Ei drin! Also eigentlich nur in Brot und Brötchen nicht.“ Im Laufe der Zeit begann ich nach Rezepten zu suchen – und siehe da: es gibt sehr leckere vegane Kuchen. Eine Zeit lang, als ich noch mit meiner Familie zusammen lebte, war ich richtig gehend Spezialist darin.

Aber damals in den 70ern und auch zu Beginn der 80er war ich zwar hinsichtlich der Eier sensibilisiert, pflegte jedoch weiter meinen Hähnchen-Mythos, Verblendung kann ja so bequem sein.

Erst im Jahr 1982 wurde dieser Mythos zerstört, und zwar durch eine junge Frau. Die Begegnung mit ihr habe ich in Szene 028 (Patritia) geschildert. Allerdings bin ich in dieser Szene nicht auf den Hähnchen-Mythos eingegangen. Bislang war ich davon ausgegangen, dass in den Hühneraufzuchtsstellen, so wie ich das im Film gesehen hatte, die Küken von (meist koreanischen) Spezialisten „gesext“ wurden, wie das hieß. Diese Leute begutachten jedes Küken, die weiblichen verblieben auf dem Förderband mit denen die Küken, die aus dem Hochleistungsbrutkasten kommen, angeliefert werden. Die männlichen kommen in einen Bottich, wo sie dann zerstampft werden oder lebend im Müll landen.

Von Patritia erfuhr ich, dass es inzwischen zwei Arten kommerziell genutzter Hühner gibt. Die einen sind auf hohe Eierleistung getrimmt. Bei diesen seien die männlichen Küken völlig wertlos, werden also – so wie in dem Film – eingestampft. Eine andere Rasse ist auf maximale Fleichprodukton hin ausgerichtet. Und diese Küken werden dann in nur 30 bis 42 Tagen mit Spezialfutter in quälender Enge zur Schlachtreife gemästet und dann als Hähnchen vermarktet, egal ob sie männlich oder weiblich sind. Dass sie als „Hähnchen“ bezeichnet werden, kommt wohl daher, dass in der ursprünglichen bäuerlichen Landwirtschaft tatsächlich so verfahren wurde, wie mir das meine Großmutter erläutert hatte. Heute jedoch ist das nur ein Mythos, der möglicherweise einige hoffnungslose Romantiker (wie mich) in ihrer Verblendung verharren lässt.

Patritia hatte meinen Hähnchen-Mythos zerstört. Ich habe ab 1. Januar 1983 kein Fleisch und keine Wurst mehr gegessen – jedenfalls nicht aus der tierquälerischen Massentierhaltung, wie ich glaubte. Hähnchen waren gestrichen, Schwein auch.

Allerdings habe ich in chinesischen Restaurants immer noch Ente gegessen, die dort als „Flugente“ angeboten wurde. Hier habe ich mir meinen eigenen Mythos gebastelt, für den ich offensichtlich gern das Wort „Flugente“ zum Anlass nahm. Dort, wo in China die Entenpopulation überhand nahm, so sagte ich mir, werden diese Tiere gejagt, „im Flug abgeschossen“, ich sagte mir, wenn die Enten dort keine natürlichen Feinde mehr hätten, Füchse oder so, sei das wohl das einzig mögliche Mittel, das biologische Gleichgewicht beizubehalten. Irgendwann erfuhr ich jedoch, dass diese „Flugenten“ in genauso qualvoller Enge gehalten werden wie die Hühner. Damit sie einander nicht verletzen, bekämen sie auch noch die höchst empfindlichen Schnäbel gestutzt, was sehr scherzhaft sei. Außerdem hätten sie – artwidrig – keinen Zugang zu Gewässern.

Wenn ich mir überlege, warum ich nach der Zerstörung des Hähnchen-Mythos zum „Flugenten-Mythos“ Zuflucht genommen habe, so fallen mir die Schlagworte Verblendung, Verdrängung, Wunschdenken und Gier ein. Und einmal mehr erinnerte mich das an das Verhalten meiner Vorfahren zur Zeit der Nazis: „Ja, die Zigeuner waren plötzlich weg. Man hörte, dass sie im KZ waren. Aber die hatten ihre Lebtage nichts gearbeitet, sind nur spazieren gefahren und haben geklaut. Wenn die einmal richtig lernten, etwas zu arbeiten, damit man seinen Lebensunterhalt verdient, dann ist das doch in Ordnung. Klar, dass das KZ nicht gerade eine Erholungsort war, das war uns schon klar. Andererseits: wer nicht hören will, muss fühlen. Und wenn sie gelernt haben, anständig zu arbeiten, dann können sie ja auch wieder ein nützliches Mitglied des Volksganzen sein. So haben wir das damals gesehen.“ Zugegebenermaßen, so musste ich feststellen, diese Mythenbildung war meiner nicht unähnlich. Und beides machte es ja auch so viel bequemer, sich mit den herrschenden Zuständen abzufinden, auch wenn Dritte darunter leiden müssen.

In der ersten Zeit nach Patritia, also in den Jahren nach 1982, habe ich noch Fisch und Rindfleisch gegessen. Ja, der Fisch wird gefangen und hat am Ende seines Lebens zu leiden, so sagte ich mir. Aber zuvor hatte er ein schöndes Leben in Freiheit. Alte und schwache Fische werden gefangen, sei es von anderen Fischen oder von Fischern. Und ich glaube, dass auch die Tatsache, dass Jesus seine Jüngerschar nicht zuletzt aus Fischern rekrutierte, dürfte wohl meiner zeitweiligen Offenheit des Fischkonsums Vorschub geleistet haben.

Bei Rindfleisch war es jedoch wohl wieder ein Mythos, an dem ich selbst bastelte. Rinder werden in erster Linie zur Milchproduktion gehalten – und Milch ist gesund, so hatte ich es von klein auf gelernt. Dass das ein Mythos sei, ist mir damals nicht aufgegangen, schließlich brauchen Babys Milch! Das aber in artfremden Milcheiweiß eine Gefahr liegen kann, dass das Ausweichen auf Kuhmilch früher nur ein Ersatz war, wenn die Mutter entweder keine oder nicht genug Muttermilch hatte, oder – was häufig genug der Fall war – wenn sie an Kindbettfieber gestorben war, all das kam mir nicht in den Sinn. Auch das alle Nahrungsmittelallergien verschwinden, wenn man keinerlei tierisches Eiweiß zu sich nimmt, wusste ich damals noch nicht. Also wähnte ich: Milch ist gut. (Der Milchmythos ist ein heute noch weit verbreitete Mythos!)

Alte Kühe geben keine Milch mehr. Ich sah daher so etwas wie einen ungeschriebenen Vertrag zwischen Kühen und Milchhaltern. Und der ging so: In Indien sind die Kühe zwar heilig, aber halb verhungert und lungern auf gefährlichen Straßen herum. Anders bei uns: der Bauer garantiert den Kühen ein schönes Leben auf der Weide, wo sie in Sicherheit sind, sie überleben selbst strenge Winter in molligen Ställen, wo sie artgerechtes Futter erhalten. Und als kleine Gegenleistung gehen sie eben nicht in Rente, sondern sobald sie das entsprechende Alter erreicht haben, werden sie geschlachtet. Besser als wenn sie im Alter elendig verrecken wie ihre Artgenossen in Indien! Nach dem Hähnchen-Mythos also der Rinder-Mythos. Der Mensch neigt zu Verblendung.

Fast alle Rinder werden heute ganzjährig in Ställen gehalten, teilweise über 1000 Rinder pro Milchviehbetrieb. In manchen Betrieben ist das Leben so industrialisiert, dass sie nicht nur als einzigen Auslauf am Tag den Gang zum Kuhkarussell haben, auf das sie gestellt und an die Melkmaschine angeschlossen werden um nach einer Runde zurück geführt werden, nein, es gibt sogar Ställe, in denen die Kotentleerung reglementiert ist. Ein sog. Kuhtrainer, eine Elektroleitung über dem Gesäß der Kühe, führt dann dazu, dass, sobald die Kuh den Schwanz hebt, um sich zu entleeren, sie mit diesem einen Elektrodraht berührt. Um dem auszuweichen, geht sie einen Schritt zurück und trifft so bei ihrer Entleerung die Rinne, die in Abständen automatisch gereinigt wird. Einmal ganz davon abgeshen, dass für zu große Kühe oder bei durchhängender Leitung das Tier die ganze Zeit unter Strom steht, bedeutet jeder Reflex, sich zu entleeren, neue Angst vor einem Stromschlag. Ein Leben in Angst und unter Qual. (Bild: Kuhkarussell)kk

Als ich auf meiner großen Wanderung 2011 das österreichische Bundesland Tirol durchquert habe, habe ich in dieser Landschaft, üblicherweise eine typische Postkartengegend, im ganzen Bundesland – also auf rund 200 km - keine einzige Kuh gesehen. Ich habe es zwar in Kuhställen jämmerlich brüllen gehört, aber keine einzige Kuh auf der Weide gesehen.

Im Jahr 2003 habe ich mich im Bundesland Salzburg mit einer Sennerin auf einer Alm unterhalten. Ich war höchst überrascht, dass auf den Almen nicht mehr wie früher Milch, Butter, Käse erzeugt wird: „Unwirtschaftlich, Milchwirtschaft gibt es praktisch nur noch in der Massentierhaltung.“ Ich zeigte auf die Kühe auf ihrer Alm. „Das ist Schlachtvieh. Im Frühjahr geboren, im Oktober werden die geschlachtet, das ist nur noch Almmast. Außerdem gefallen den Touristen hier die Kühe, wenn sie zur Alm gehen, um ihr Bier zu trinken oder eine Brotzeit zu essen.“ Brotzeit auf der Alm mit holländischem Käse und Speck von Schweinen aus der niedersächsischen Massentierhaltung. (Der Alm-Mythos)

Selbstverständlich habe ich im Laufe der Zeit auch meine veränderten Essgewohnheiten kommuniziert. Und je näher mir die Menschen standen, desto mehr war ich froh, wenn sie meine Ansichten teilten, insbesondere dann, wenn sie auch begannen, ihr eigenes Verhalten zu ändern. Bei meiner Abwendung von der tierquälerischen Massentierhaltung konnte ich mich der vollen Unterstützung meiner Familie erfreuen, das war toll! Mitte der 80er Jahre war daher eine einheitliche, gemeinsame Ernährung in unserer damals noch einigermaßen intakten Familie möglich. Als ich jedoch begann, mich mehr und mehr von den Mythen zu emanzipieren, war die Begeisterung deutlich geringer.

Allerdings ernährte wir uns in den 90er Jahren alle fast immer vegetarisch. Nun gut, mein kleiner Sohn, den ich meinen Freund Zorilla nannte, aß im Kindergarten das, was dort serviert wurde. Ich hielt es für besser, das nicht zu thematisieren, denn ich wollte nicht, dass er die daraus folgenden Probleme und Loyalitätkonflikte im Kindergarten aushalten musste. Eleonore entschied, dass, wenn sie erkältet war, sie unbedingt eine Gemüsesuppe mit Beinscheiben vom Rind brauche, „das einizige, was mir hilft“. Da ich mich sehr gut in meiner eigenen Mythenbildung auskannte, akzeptierte ich hier auch einen solche bei ihr.

Es war nicht so, dass mir kein Fleisch mehr geschmeckt hätte. Aber ich wusste, was das für andere Wesen bedeutet, daher verzichtete ich. Für mich war es ein kleiner Verzicht. Andere Sachen schmecken auch gut, und wenn etwas vielleicht etwas weniger lecker schmeckt, so ist der Genussverzicht für mich wesentlich geringer als das Leiden für andere Wesen im umgekehrten Fall. Eigentlich konnte ich damit das zentrale Ziel des Utilitarismus umsetzen: „Das größtmögliche Glück der größten Zahl.“ (Jeremy Bentham)

Ich entschied mich allerdings auch, wenn ich mit anderen Leuten, meistens mit Familienmitgliedern, ausging, dass ich klarmachte: ich finanziere keinen Fleisch- oder Wurstkonsum. Das ist das Ergebnis einer ganz klaren ethisch-wirtschaftlichen Überlegung: in einer entwickelten Marktwirtschaft (sog. Käufermarkt), wird das produziert, was nachgefragt wird. Nachfrage schaffe ich aber nicht durch das, was ich esse, sondern durch das, was ich kaufe. Daher finanziere ich keinen Fleischkonsum – unabhängig davon, wer ihn isst.

Alle Familienmitglieder akzeptierten das. Ich kann mich an eine einzige Ausnahme erinnern. Einmal waren mein Freund Zorilla und ich mit den Fahrrädern unterwegs, es war eine sehr harte Tour und bis zum Abend waren wir 120 km gefahren, mit großem Gepäck auf den Rädern, der Zorilla war da gerade zehn Jahre alt. Wir waren in Bremen auf dem Campingplatz angekommen und es gab dort nur eine sehr eingeschränkte Speisenauswahl. Da machte ich den Vorschlag: „Zorilla, ich glaube heute würde ich dir sogar die Fischstäbchen mit Pommes ausgeben, wenn du sie möchtest.“ Das hatte er nicht erwartet, und er war überglücklich. Da er sehr hungrig war, bekam er sogar eine zweite Portion. Was ich meinem Freund Zorilla äußerst hoch anrechne: er hat niemals – bezugnehmend auf diese Ausnahme – um eine weitere Ausnahme gebeten. So wie ich an diesem Tag sensibel für sein Bedürfnis war, so sehr war er auch sensibiliert für die Ernsthaftigkeit, mit der ich meine ethischen Vorsätzen betrieb.

Als ich allerdings im Jahr 1996 für einige Jahre begann mich völlig vegan zu ernähren, war für meine Familie die Grenze erreicht. Dort wollten sie nicht mit hingehen. Dafür habe ich Verständnis. Ich kann nicht von ihnen verlangen, was selbst mir aus objektiven Gründen noch immer schwer fällt.

Allerdings waren unsere Besuche in Gaststätten dann deutlich schwieriger. In den 90er Jahren gab es kaum irgendwo vegane Gerichte. Und wenn meine Kinder dann ihre vegetarischen Pizzen aßen, ich jedoch einen Tomaten- und Gurkensalat aß und mir – hungrig wie ich war - noch einige Oliven bestellte, aber nur falls man Brot dazu bekommen konnte, wollten sie nicht mehr mit mir zum Essen gehen. Ich schaltete dann auf Kompromiss: wenn wir auswärts sind, esse ich vegetarisch, ansonsten vegan.

Dummerweise war damit das Eingangstor geöffnet, für eine Verschlechterung meines ethischen Verhaltens. Und das kam so: nach einiger Zeit sagte ich mir, wenn ich mit ihnen ins Café gehe, bekomme ich einen Kuchen. Nur weil heute keiner mit mir ins Café gegangen ist, bekomme ich keinen Kuchen. Wäre es wirklich besser ich würde irgend jemanden x-beliebigen einladen, nur damit ich ein Stück Kuchen bekomme? Dann würde ich ja zwei Stück Kuchen nachfragen, obwohl ich eigentlich nur eines für mich möchte. Und mit dieser etwas gedrechselten Aussage ist es dazu gekommen, dass ich zu Haus zwar vegan esse (neben mir auf dem Teller steht in diesem Moment ein angebissenes Körnerbrötchen mit Margarine und einer Scheibe veganem Käse), erlaube ich mir auswärts durchaus auch etwas mit Milchprodukten. Noch schlimmer: im Kuchen ist wohl auch Ei. Und ich kann mich nicht einmal mehr auf einen Mythos herausreden. Das macht mir momentan zu schaffen - Gewissensbisse.

Mein Freund Shantipada ist, wie praktisch alle meine buddhistischen Freunde, Vegetarier. Er hat vor einiger Zeit geheiratet. Seine Ehefrau ist Veganerin. Nicht nur das, sie kennt sich wunderbar in Ernährung aus, das ist gewissermaßen ihr Hobby. Bei denen zu Hause gibt es lauter gesunde Sachen. Übrigens sieht seine Frau Elisabeth auch sehr gut aus, was sie auf ihre Ernährung seit der Umstellung vor einigen Jahren zurückführt. Leider nutzt Shantipada das nicht, um sich ganz vegan zu ernähren. Eigentlich schade, er hätte so gute Bedingungen. Ich wünschte, ich wäre in solchen Bedingungen, denn die Anfälligkeit für Ausreden durch Kontakt mit anderen Leuten, also die gelegentliche Rückkehr zu (nicht veganem) Käse und sogar von konventionellem Kuchen, macht mir zu schaffen. Ein gutes Umfeld ist hilfreich. Ein schlechtes Umfeld zieht offensichtlich herab.

Das konnte ich auch bei meinem Freund Bodhimitra bemerken. Selbstverständlich ist er, wie eigentlich alle Ordensmitglieder des Triratna-Ordens, Vegetarier. Seine sonstige Ernährung war mir jedoch eine ganze Zeit lang ein Dorn im Auge: er liebte Käse, auch in größeren Mengen – vielleicht weil er Holländer ist. Was mich aber noch vielmehr bedrückte, war die Tatsache, wie wenig sensibel er mit einigen anderen Produkten umging. Bereits bei meinem ersten Retreat mit ihm, 1996, war mir aufgefallen, dass dort Nudeln serviert wurden. Als ich in der Küche half, stellte ich fest, dass das Eiernudeln waren – und das obwohl es jede Menge äußerst leckere Nudeln aus reinem Hartweizengrieß in jedem Supermarkt gibt. Ich sprach ihn darauf an, und er reagierte ungehalten: „Ich habe so viel zu tun, da kann ich nicht auch noch darauf achten!“ Ich war entsetzt. Das oberste Ziel eines Buddhisten ist, so meine ich, zum Wohle aller Wesen zu leben und sich selbst zu perfektionieren. Und wenn man doch weiß, wie Eier erzeugt werden, wie kann man dann den Blick auf die Inhaltsangaben auf Produkten als unwichtig abtun?

Heute würde das Bodhimitra nicht mehr machen, und da bin ich sehr froh darüber. Zwar hatte meine damalige Ermahnung nichts gefruchtet. Aber einige Jahre später hatte Bodhimitra eine Freundin, Claudia, eine Veganerin. Ich habe festgestellt, wie positiv sich mein Freund in dieser Zeit verändert hat, was die Ernährung angeht. Nicht, dass er immer und unter allen Umstände auf eine völlig rein vegane Ernährung achtet. Aber er ernährt sich fast völlig vegan, auch wenn er mitunter bei einem Keks zweifelhafter Herkunft zugreift, wenn dieser ihm angeboten wird. Und ich bin sehr froh, dass Claudia diesen Einfluss hatte. Ja, es ist wichtig, mit welchen Menschen man Umgang pflegt.

Das ist übrigens ein Thema, über das ich gerade in diesen Wochen (Sommer 2017) intensiv reflektiere.


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