Horst, der Mensch: Der verschlungene Pfad in Richtung eines Lebens zum wohl aller Wesen – Geschichte eines europäischen Buddhisten - Stand 21.1.2020

Szene 064 – In den Kreistag - 1985



elmarIch war seit 1982 zusammen mit Elmar (Bild) und Monika einer der drei SprecherInnen der Grünen in Hanau. Im November 1984 wurde die Liste für die Wahl zur Stadtverordnetenversammlung Hanau im kommenden März aufgestellt. Ich kandidierte nicht. Bei der Aufstellung der Kandidaten landete Elmar erwartungsgemäß auf Platz 1, Monika wurde auch auf einen der drei sicheren Plätze gewählt, allerdings mit deutlich weniger Stimmen. Zum Schluss wurde noch einmal über die gesamte Liste abgestimmt – und siehe: diese Liste bekam keine Mehrheit. Es stellte sich heraus, dass die anderen Gewählten nicht mit Monika, die nicht immer ganz einfach war (aber das war Elmar auch nicht), in einer Fraktion sitzen wollten, und dass sie daher gegen die aufgestellte Liste gestimmt hatten. Also ging das ganze Prozedere von vorn los, um Monika zu verhindern. Diese legte aus Protest ihren Sprecherinnenposten nieder. Ich schloss mich dem an. Eine neue Liste für die Wahl wurde aufgestellt, diesmal ohne Monika.

Nach dieser Sitzung war ich erstmals wieder einfaches Mitglied bei den Grünen, ich hatte vor, mich auf die Arbeit bei ROBIN WOOD zu konzentrieren. Dort nukwollten wir uns dem Zusammenhang zwischen Radioaktivität und Waldsterben widmen, wir planten Aktionen rund um die Hanauer Nuklearbetreiebe, die damals das Herz der deutschen Atomwirtschaft bildeten. Ich entschloss mich, geschädigte Bäume in der Nähe der Nuklearbetriebe für eine Dokumentation zu fotografieren. Ich hatte mein Auto in unmittelbarer Nähe des Eingangs der Nukem abgestellt und machte Bilder von geschädigten Tannen. Vor den Nuklearbetrieben befindet sich eine große ampelgesicherte Kreuzung an einer Bundesstraße und einer Autobahnauffahrt. Mein Auto stand etwa 100 m entfernt, wo ein Waldweg abging. Plötzlich taucht ein Polizeiwagen mit Blaulicht auf, gleichzeitig nähert sich von oben ein Polizeihubschrauber und platziert sich über der Kreuzung. Ich bin verwundert, beziehe das Vorgehen jedoch nicht auf mich. Das Polizeifahrzeug hält etwa 40 m von mir entfernt an, ein Polizist steigt aus, und geht in meine Richtung, der andere hält eine Maschinenpistole und geht hinter dem Einsatzwagen in Deckung, die Mündung der Waffe ist in meine Richtung gerichtet. Der erste Polizist greift an seine Pistolentasche, zieht seine Waffe jedoch nicht und ruft mich an: „Stehen bleiben, Hände hoch, legen sie die Hände langsam aufs Dach ihres Autos!“ Ich glaube ich bin im falschen Film.

Natürlich komme ich der Aufforderung nach. Ich werde zunächst nach Waffen abgetastet und dann befragt, was ich hier mache. Ich sage es. Die Polizei erteilt mir einen Platzverweis. Ich fahre nach Hause, rufe einen Reporter der Frankfurter Rundschau an. Dieser erkundigt sich bei der Polizei. Ein Polizeisprecher behauptet, man hätte einen Bankräuber gesucht, der einige Zeit zuvor eine Bankfiliale in Hanau-Wolfgang überfallen habe. Der Reporter fragt zurück, was denn die Polizei zu der Annahme brächte, dass ein gesuchter Bankräuber nichts Konspirativeres vorhätte als sich in den Wald zu stellen und Bäume zu fotografieren, ob es denn nicht sein könne, dass sie vom Werkschutz der Nukem angerufen worden seien. Die Antwort des Polizeisprechers: „Kein Kommentar.“

Der Reporter recherchiert noch etwas weiter, dann beschließt er mich anzurufen. Er wählt meine Nummer. Nun geschieht etwas äußerst Merkwürdiges:

Hier Werkschutz Firma Nukem.“ Der Reporter ist verwundert, glaubt an einen Scherz:

Mensch, Horst, mach keine Scherze hier ist der Thorsten (Name geändert) von der Rundschau.“

Wir haben hier keinen Horst, hier ist der Werkschutz der Firma Nukem.“

Bin ich nicht mit dem Horst Gunkel vom ÖkoBüro Hanau verbunden?“

Ach, den Gunkel vom ÖkoBüro wollen Sie, warten Sie, ich verbinde.“

Und tatsächlich wird eine Verbindung durch den Werkschutz der Firma Nukem – oder wer dort immer am Apparat war – zu mir hergestellt. Der Reporter erzählt mir die merkwürdige Geschichte, wir sind beide der Meinung, dass da irgendeine geheime Dienststelle (Polizei, Verfassungsschutz, MAD, BND, wer auch immer) dazwischen war.

Am nächsten Tag erscheint in der Frankfurter Rundschau ein Artikel über die Polizeiaktion gegen mich.

Wenige Tage später ist die Kreismitgliederversammlung der Grünen, die die Liste zur Kreistagswahl aufstellen soll. Bei der Ankunft begrüßt mich einer: „Na, Horst, du hast ja eine Kampagne über die Frankfurter Rundschau gestartet, um einen sicheren Listenplatz zu bekommen!“ Ich bin verdutzt: „Kampagne? Nee, ich hab´ nur eine ROBIN-WOOD-Aktion vorbereitet. Ich hab´ gar nicht vor zu kandidieren.“

Der Kreisvorstand führt die Wahl durch. Es soll in 5er-Blöcken gewählt werden. Der Kreisvorsitzende schlägt einige Kandidaten für den ersten 5er-Block vor, wobei er darauf geachtet hat, das Geschlecht und Kreisteile proportional berücksichtigt werden. Für den zweiten 5er-Block macht der Vorstand auch einige Vorschläge, und bittet um weitere Vorschläge. Überraschenderweise schlägt Jo M. mich vor. Zahlreiche weitere Vorschläge werden gesammelt. Es kommt zur Abstimmung, wobei jedes Mitglied fünf Stimmen hat, da es um fünf KandidatInnen geht. Ich erhalte die meisten Stimmen. Damit stehe ich, der sich bislang eigentlich nur um Hanauer Politik und nicht um die des Main-Kinzig-Kreises, des größten hessischen Landkreises (über 100 km lang, über 400.000 Einwohner) gekümmert hat, auf Platz 6 der Liste zur Kreistagswahl 1985. Bei den Wahlen am 10. März erhalten die Grünen sechs Sitze. Ich bin Kreistagsabgeordneter.

HBEEnde April konstituiert sich der Kreistag. Hartmut Barth-Engelbart (Bild) wird unser Fraktions- vorsitzender. Schon in der ersten Sitzung kommt es zu einem heftigen Schlagabtausch zwischen ihm und dem Vorsitzenden der CDU-Fraktion, Kurzkurt. Hartmut wird seine frühere Mitgliedschaft im Kommunistischen Bund Westdeutschland (KBW) vorgeworfen. In der CDU-Fraktion sitzen damals noch zahlreiche „kalte Krieger“ Antikommunisten mit – vorsichtig ausgedrückt – sehr national-konservativer Gesinnung, wie man sie heute eher bei der AfD findet. Es spielen sich ziemlich hässliche Szenen ab. Ich – ein eher schüchterner Mensch – fühle mich äußerst unwohl.

Aber es gibt eine rechnerische Mehrheit von SPD und Grünen gegenüber CDU und FDP (zwei Stimmen). Die Sozis sehen die Chance, uns in ihr Boot zu holen. Sie starten eine Umarmungspolitik. Jeder von uns bekommt von der SPD gewissermaßen einen Paten zugeordnet, der ihn – oder sie – bearbeiten soll. Diese Strategie wird nicht aufgehen, aber sie bringt viel Unruhe in unseren unerfahrenen Haufen. In dieser ersten Sitzung wird aber auch eine Sondersitzung zum 30. Jahrestag des Kriegsendes, also am 8. Mai 1985, mit der neuen rot-grünen Mehrheit festgelegt. Hier wird es weniger um Kreispolitik gehen, als um die gesamtpolitische Ausrichtung – um Friedenspolitik.

Ich habe bisher eher die kleinen – aber wichtigen – Hilfstätigkeiten ausgeführt: Kassenführung, Buchführung, habe eine Geschäftsstelle für die Fraktion angemietet. Aber als gefragt wird, wer die Rede der Grünen zum 8. Mai halten wird, bin ich der einzige, der sich freiwillig meldet. Wenn ich gewusst hätte, welches Muffensausen ich bekommen würde, ans Renderpult heranzutreten, hätte ich es nicht gemacht.

Selbstverständlich habe ich eine ausgefeilte Rede ausgearbeitet. Nicht Niederlage, sondern Befreiung sei dieser 8. Mai 1945. Aber gleichzeitig, so hatte ich mir vorgenommen, harte Kritik, auch an der Kriegsführung des anglo-amerikanischen Luftkrieges, der nicht nur Dresden, sondern viele Städte in Deutschland zerstörte. Hanau, wo der Kreistag tagte, wurde zu über 90 % zerstört. Das war nicht kriegsnotwendig, das war Rache, auch das war Barbarei. Daher sollten wir alle fest dazu stehen: „Nie wieder Faschismus – nie wieder Krieg!“ Dieser Satz ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit, aber es war die Zeit, da US-Präsident Ronald Reagan sich für einen Nuklearkrieg rüstete. Eine Zeit, in der überall im Main-Kinzig-Kreis Schächte für Atomminen in den Straßen angelegt wurden, die im Kriegsfall, die Bevölkerung an der Flucht hindern würden und dem „Feind“ nur nuklear verseuchtes Land überließ. Diese aus heutiger Sicht absolut wahnsinnige Politik lag damals tatsächlich bedrohlich über dem Land, die Militärs spielten „Biedermann und die Brandstifter“ und unsere Aufgabe als Friedensbewegung war es, die deutschen Biedermänner aufzurütteln und die Brandstifter zu verjagen, so sah ich es.

Aber ich hatte furchtbare Angst, dies vor den kalten Kriegern in der CDU-Fraktion vortragen zu müssen. Diese tat mir jedoch einen unerwarteten Gefallen. Gleich nach der Eröffnung der Sitzung – und nachdem sich jeder in die Sitzungsliste eingetragen hatte, um das Sitzungsgeld zu kassieren – verließ die gesamte CDU-Fraktion aus Protest gegen die Tagesordnung die Sitzung. Also wurde ich nicht niedergeschrien, sondern konnte mich an das mir damals noch unbekannte Gefühl von Rednerpult und Mikrofonen gewöhnen.

Doch das erste Jahr im Kreistag wurde hart. Es gab eine Riege von Abgeordneten in der CDU, die sich immer bemühten, unsere RednerInnen zu verunsichern und durch absolut unqualifizierte Zwischenrufe und Bemerkungen zu attackieren, wie ich das unter Demokraten nicht für möglich gehalten hätte. Da ging zum Beispiel eine junge Abgeordnete, Nachrückerin, erstmals zum Rednerpult. Und was riefen diese Flegel?

Guck, mal der ihrn Rock sitzt ja ganz schief, der Schlitz ist net hinten, sondern neben am Bein – ja und eine Laufmasche hat sie auch – merkt die gar nicht, dass an ihrer Bluse ein Knopf offen ist? - ja, und wie das alles darunter unterm BH rausquillt, richtig widerlich – vielleicht hat sie es ja darauf angelegt – oh, jetzt hat sie sich verhaspelt...“

Es war schrecklich, und mehrere unserer Abgeordneten – in erster Linie der Frauen – verschwanden nach ein oder zwei Sitzungen, neue Nachrücker/innen kamen für sie. Und das Schlimmste war meiner Meinung nach, dass zu diesen Flegeln keineswegs nur tumbe Hinterbänkler, sondern auch die Landtagsabgeordneten der CDU gehörten, die auch Mitglieder dieses Kreistages waren: Aloys Lenz, Rolf Müller und Walter Korn.

Die Debattenkultur war kaum zu ertragen. Eine Sitzung dauerte einmal von morgens um 9 h bis 1.30 h in der Nacht. Die harten Auseinandersetzungen wurden in unserer Fraktion vom Vorsitzenden, Hartmut Barth-Engelbart, und von Matthias Seipel, einem Juristen, geführt. Wenn diese ans Rednerpult gingen und sich mit dem Landrat und der gesamten politischen Richtung des Landes anlegten, ging es immer sehr laut her. Entsprechend hoch war die Aufmerksamkeit bei den Abgeordneten und der Presse. Wenn die eher ruhigeren, sachorientierten Abgeordneten, die in kleinen Schritten den Main-Kinzig-Kreis weiterentwickeln wollten, Monika Müller ist hier zu nennen, Peter Stahl oder ich ans Rednerpult gingen, so erschien das für viele Abgeordnete ein Zeichen zu sein, jetzt erst mal Kaffee trinken zu gehen, die Toilette aufzusuchen oder in der Kneipe nebenan Karten zu spielen. Und was ich am schimmsten fand: auch die Presse verschwand, „war ja jetzt nix los“.

Und ich muss zugeben, dass mich dies allmählich dazu brachte, meinen Stil mehr an den „Lautsprechern“ in unserer Fraktionund den anderen Fraktionen zu orientieren. Ab der Mitte der Legislaturperiode hatte mich die parlamentarische Politik zum Unguten sozialisiert. Aber davon werde ich anderer Stelle berichten, denn das gehört nicht mehr zum Thema „In den Kreistag“.


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