Horst, der Mensch: Der verschlungene Pfad in Richtung eines Lebens zum wohl aller Wesen – Geschichte eines europäischen Buddhisten - Stand 18.1.2020

Szene 43 Nachspielzeit - 2001



Obwohl das Jahr dieser Szene mit 2001 angegeben ist, muss ich etwas weiter ausholen. Denn vor der Nachspielzeit liegt die reguläre Spielzeit und das Wissen um das Ende der regulären Spielzeit. Und um das zu verstehen müssen wir zurück ins Jahr 1970, in eine Zeit also, in der ich 18 Jahre alt war. Wie wir inzwischen wissen, war ich "back in heaven again", und erfreute mich der Unterstützung meiner Mutter (vgl. Szene 042 - Unterrichtsübernahme) was meist recht angenehm war, mitunter allerdings auch skurile Züge annahm, und um einen ebensolchen ging es damals im Jahre 1970.

Meine Mutter hatte in der Zeitung gelesen, dass der bekannte Hellseher Hanussen II. in Hanau gastierte, und sie hat sich von ihm die Zukunft vorhersagen lassen. Sie schien ziemlich beeindruckt und sagte mir, sie würde die Kosten übernehmen, wenn ich ihn auch konsultieren wolle. Nun war ich nicht wirklich ein Anhänger von Hellsehern – und bin es auch heute nicht. Ich habe mir übrigens heute, an dem Tag, da ich diese Szene erstmals niederschrieb, am 19. Mai 2017, auf youtube erstmalig ein Video dazu angesehen: "Hanussen II - Der Hellseher mit den Röntgenaugen" – naja... Andererseits: wenn man es bezahlt bekommt...

Ich willigte ein und so traf ich den Seher wenige Tage später in seinem Hanauer Hotel; die nötige Gebühr – 50 DM – hatte mir meine Mutter mitgegeben.

Ich (Bild im Jahre 1970) hörte mir an, was er mir zu sagen hatte - und war nicht sonderlich beeindruckt. ErDM70 hat mir prophezeit, ich würde 80 Jahre alt, das lag damals mehr als 10 Jahre über der Lebenserwartung und war damit mithin das, was ich einem jungen Kunden auch gesagt hätte. Er erklärte, ich würde heiraten und zwei Kinder bekommen, also das statistische Mittel. Ich würde ins Ausland gehen und den größten Teil meines Lebens in einem fernen Land wohnen und arbeiten, aber die Kontakte zu meiner Heimat aufrecht erhalten. Auch das war nicht sehr verwunderlich. Schließlich hatte er mich vorher nach meinen Berufswünschen gefragt. Ich hatte im erklärt, ich wolle Sinologie und Wirtschaft studieren und als Wirtschaftsreporter nach China gehen. Also: das hätte ich an seiner Stelle auch einem jungen Mann mit diesen Berufswünschen gewahrsagt. Eine Prophezeiung hätte ich jedoch mit Sicherheit nicht gemacht. Ich hätte – im Gegensatz zu ihm – niemals einem 18jährigen Mann gesagt, er könne unbedenklich schnell mit dem Auto fahren, er würde keinen Unfall verursachen, jedenfalls keinen mit Verletzten (wörtlich: "bitte sehr, über Blechschäden reden wir nicht"). Also diesen Rat einem jungen Mann zu geben, halte ich für absolut verantwortungslos. Und ich will nicht ausschließen, das mich das später zu meinen Ungunsten beeinflusst hat, vor allem wenn ich bereit war, mich betrunken ans Lenkrad zu setzen.

Es war nicht so, dass ich wirklich viel Vertrauen in seine Wahrsagekunst hatte. Andererseits hatte er unter anderem in meiner Hand gelesen. Und im Körper soll sich ja alles Mögliche ausdrücken, da gibt es u. a., so wusste ich, die Lebenslinie. Und als er mir mein Alter (80 Jahre) voraussagte, hat er zwei, dreimal rasch hintereinander geblinzelt, wie es Leute oftmas dann tun, wenn sie lügen. Ansonsten wirkte er sehr selbstsicher.

Ich ging also weg mit dem Verdacht, er könne in meiner Lebenslinie mein zu erwartendes Alter gesehen und mich dabei belogen haben. Dieser Sache wollte ich nachgehen. Und wenn ich eben schrieb "wollte", so bedeutete das, dass ich mich sofort in eine Buchhandlung begab und ein Buch über die Kunst des Handlesens kaufte. Was mich dabei interessierte, war einzig und allein die Sache mit der Lebenslinie.

Ich las also, was dort über die Lebenslinie stand, verglich die Abbildungen mit meiner eigenen Hand, maß nach und interpolierte – wie ich das bei der Arbeit mit dem Rechenschieber (dieses Instrument gab es damals noch) gelernt hatte – mein zu erwartendes Alter. Ich war ziemlich gut im Interpolieren, es war in der Tat das einzige, wofür mir mein Nachhilfelehrer jemals Anerkennung gezollt hatte, und ich stellte fest: wenn das, was in dem Buch steht, stimmt, dann müsste ich zwischen 47 und 49 Jahre alt werden. Mein Leben würde voraussichtlich 1998 oder 1999 zu Ende sein. Ich würde meinen 50. Geburtstag nicht erleben - wenn das denn stimmt, was ich aus diesem Buch entnahm..

Ich beschloss daher, mein Leben so zu leben, dass ich im Jahre 1998 sterben kann, ohne mich sorgen zu müssen, etwas noch erledigen zu müssen. Daraus folgt, dass ich alle meine Kinder vor dem 30. Lebensjahr bekommen müsse, um meine Erziehungsaufgabe wahrnehmen zu können. Daraus folgt weiterhin, dass ich mit spätestens 25 Jahren heiraten müsste. Ich müsse so bald wie möglich einen gut bezahlten Beruf ergreifen, damit meine Familie abgesichert ist. Und ich muss alle Planungen so machen, dass ich bis 1998 fertig habe.

Und obwohl ich keineswegs sicher war, dass die Sache mit der Lebenslinie stimmt, hielt ich es doch für angebracht, davon auszugehen, dass ich die Jahrtausendwende nicht erleben würde. Und diese Angewohnheit hielt ich in der Tat volle 30 Jahre durch. Ich plante für keinen Tag im 21. Jahhundert, selbst in den Jahren 1998 und 1999 nahm ich noch keinen einzigen Termin an, der nach dem 31.12.1999 war.

ZungeSelbstverständlich freute ich mich, dass ich im Jahr 2000 noch lebte und zog immer ernsthafter in Betracht, dass meine Annahme bezüglich meines Todesdatums falsch war. In mir reifte die Erkenntnis, dass ich in meiner regulären Spielzeit alles das umgesetzt hatte, was ich in dieser Zeit umsetzen wollte. Ich hatte eine Familie, hatte drei Kinder gezeugt, hatte ein Eigenheim für meine Familie, hatte mich planmäßig in die Politik eingemischt, hatte Institutionen initiiert, manche mit Erfolg, wie die EnergieWende, das ÖkoBüro, meine Arbeit in Bürgerinitiativen und Vereinen, die ich gegründet hatte, manche ohne Erfolg, wie mein Engagement in der Stiefografie. Ich hatte mich sogar dem Buddhismus zugewendet und war überzeugt davon, dass ich nie – ich betone: nie – wieder von diesem Pfad abkommen würde. Was aber, wenn ich meinen 50. Geburtstag erleben würde? Wenn die reguläre Spielzeit um wäre und ich eine Verlängerung bekäme? Keine Verlängerung von 2 x einer festen Zeit wie beim Fußball, sondern so, wie damals die Verlängerungen beim Eishockey waren: auf unbekannte Zeit. Wenn beim Eishockey in dieser Zeit ein Tor fällt, ist das Spiel aus, man nannte es "sudden death". Dieser Terminus gefiel mir!

wJa, ich würde noch einmal ein Projekt starten, in meiner Nachspielzeit, egal wie weit ich damit komme, es würde durch den "sudden death" enden. Ein Spiel bis zum Tod. Und mir war auch klar, was das für ein letztes Projekt sein würde, mit dem ich zum Wohl aller Wesen wirken wollte: ich würde für die buddhistische Gemeinschaft, der ich seitdem ich 1999 zum Mitra geworden war, angehörte, für die Buddhistische Gemeinschaft Triratna, versuchen, ein Zentrum im Rhein-Main-Gebiet aufzubauen. Am 29. August 2001, an meinem fünfzigsten Geburtstag, schrieb ich daher einen Brief: Ich bat um Ordination in den Buddhistischen Orden Triratna. (Das Bild zeigt Jnancandra und mich beu der Weihungen unseres ersten Meditationsraumes in Franfurt)

Heute, 18 Jahre später, glaube ich nicht mehr daran, dass ich noch in diesem Leben in den Triratna-Orden ordiniert werde, ich habe daher in dieser Woche mein Ordinationsgesuch zurückgezogen. Aber die Ordination war auch nicht das Ziel für die Nachspielzeit. Das Ziel für die Nachspielzeit war zu versuchen, ein Zentrum für die Buddhistische Gemeinschaft Triratna im Rhein-Main-Gebiet zu initiieren und so zum Wohl aller Wesen beizutragen.

Alles, was ich seitdem in Angriff genommen hatte diente dem. Ich möchte den Dharma leben, ich möchte dazu beitragen, dass der Dharma weiter gegeben wird, ich möchte mich spirituell entwickeln und anderen Wesen bei ihrer spirituellen Entwicklung helfen, so weit es mir eben möglich ist. Der Nukleus dazu ist gelegt. Es gibt die Buddhistische Gemeinschaft Gelnhausen, sie wird von Satydhara geleitet, einem Ordensmitglied, das durch mich zu Triratna kam. Ich unterstütze ihn gemeinsam mit anderen Leuten des Sangha-Teams, den Dharma im Herzen Deutschlands zu verbreiten.tat

Nachdem ich mein Ordinationsgesuch zurückgezogen habe, bin ich zu meiner Lebensabendsgefährtin nach Thüringen gezogen und bin gespannt, was der Ozean der Leerheit für mich hier bereithält.

Und so geht der Mensch seinen verschlungenen Pfad in Richtung eines Lebens zum Wohl aller Wesen...

...sudden death...

...und es wird dann wieder ein kleiner Mensch den Pfad in Richtung eines Lebens zum Wohl aller Wesen gehen...


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