Horst, der Mensch: Der verschlungene Pfad in Richtung eines Lebens zum wohl aller Wesen – Geschichte eines europäischen Buddhisten - Stand 18.1.2020

Szene 39 – Die Sache mit dem Rumpsteak – 2002



Seit Anfang 1984 hatte ich nichts mehr aus der Massentierhaltung gegessen, etwas später wurde ich vollständig Vegetarier. Vom 1996 bis 2000 lebte ich völlig vegan. Das war etwas schwierig, denn wenn ich beispielsweise mit meinen Kindern zum Essen gehen wollte, lehnten diese das ab, denn sie wussten, ich würde im Lokal nichts bekommen, was mir schmeckt. Selbst im vegetarischen Salatteller sind gewöhnlich Eier und Käse, und wenn man die noch weglässt, macht ein solcher Salat eher hungrig als satt. Wenn ich mir zuhause einen Salat machte, so war der mit allerlei Gemüse, Oliven und in Öl eingelegten Tomaten, mitunter auch mit Nüssen angerichtet. Ein solcher Salat macht wirklich satt! Zu Hause kochte ich auch leckere vegane Mahlzeiten für die ganze Familie. Da ich jedoch auch meine Kinder und Freunde gelegentlich in ein Lokal ausführen wollte, entschied ich mich dafür, nur noch zu Hause vegan zu leben, wenn ich hingegen mit Leuten ausging, nahm ich eine nichtvegane aber selbstverständlich vegetarische Mahlzeit zu mir. Dies war ein Kompromiss.

Wie das so mit Kompromissen ist, haben sie mitunter die Tendenz, ausgehöhlt zu werden. So musste ich feststellen, dass ich tatsächlich gelegentlich begann, mir im Café auch ein Stück Kuchen zu bestellen, wenn ich allein war. Oder wenn der Kaffee, den ich normalerweise schwarz trank, im Café zu stark war, machte ich mir doch etwas Kondensmilch hinein. Nicht oft, aber manchmal.

Wenn ich damals für mich alleine kochte, machte ich mir häufig meine Leibspeise der späten 90er Jahre. Ich nannte es Schwarzkraut. Als Kind hatte ich Weißkraut nie gemocht. Es war das einzige Gemüse, das ich wirklich ablehnte. Und auch wenn mein Schwiegervater von seiner Zeit in sowjetischer Kriegsgefangenschaft erzählte, schimpfte er immer aufs Essen: „Jeden Tag Kapusta!“ beschwerte er sich, „ohne das kleinste Stückchen Fleisch!“ Ich fand es ganz gut, dass es dort kein Fleisch für die Häftlinge gab. Und nachdem die Russen damals selbst kaum etwas zu essen hatten, wäre es ja wohl vermessen gewesen zu glauben, dass sie ausgerechnet den gefangenen Wehrmachtssoldaten Fleisch servieren! Ich hatte in diesem Punkt recht viel Verständnis für die Sowjets. Aber wenn die Erzählung meines Schwiegervaters stimmte, dass sie fünf Jahre lang nur Kapusta, Weißkraut, bekommen hätten, und er das offensichtlich ohne Gesundheitsschäden überlebte, dann musste Weißkraut ja ein ausgezeichnetes Gemüse sein, das alle wichtigen Nährstoffe und Vitamine enthält, sagte ich mir.

Meine Tochter machte sich mitunter Weißkrautsalat als Diät gegen Übergewicht: einfach gerebeltes Weißkraut mit etwas Zitronensaft, Salz und Pfeffer. Ich probierte das auch: gar nicht mal schlecht! Also aß ich jetzt auch davon. Bald nahm ich allerdings Kümmel dazu, was meine Tochter nicht mochte. Ich hingegen liebe Kümmel sehr!

Allmählich veränderte ich diese Mahlzeit: ich briet das Weißkraut jetzt in der Pfanne mit Sonnenblumenfett an – ha, das schmeckte tatsächlich etwas nach Braten. Ich holte mir im Reformhaus mexikanischen Tofu und gab ihn auch in mein neues Lieblingspfannengericht – herrlich. Außerdem hatte ich, seit ich vegan lebte, ein neues Würzmittel entdeckt, das von vielen Veganern geschätzt wird, weil es die wichtigsten Mineralien für Veganer enthält – und dementsprechend hatte sich auch mein Geschmack verändert: mein Körper fand dieses Würzmittel, das ich in England kennen gelernt hatte, ganz lecker. Man nannte es dort „yeast“, die bekannteste Marke in England ist Marmite. Auf deutsch heißt yeast „Bierhefeextrakt“, was längst nicht so toll klingt. Und die führende deutsche Marke „Vitam-R“ ist auch bei weitem nicht so hard-core-mäßig wie Marmite. Aber inzwischen habe ich mich auch daran gewöhnt. Damals jedoch würzte ich mit Original-Marmite. Jetzt schmeckte mein Weißkrautgericht, mein „Schwarzkraut“, ganz ausgezeichnet. Allmählich nahm ich noch zwei verschiedene Soja-Soßen dazu – und dann war das Gericht geradezu himmlisch. Ich vermisste Fleisch überhaupt nicht mehr!

Glaubte ich, bis...

...eines Tages im Jahr 2002 an Fasching. Ich ging mit meinen beiden kleinen Enkelsöhnen „zum Lotz“. Der „Lotz“ hatte die Gaststätte „Zum Ratskeller“ in Großauheim, eine Gaststätte mit einer Metzgerei. Als Kind war ich immer gern an Fasching beim Lotz, denn dort gab es eine alte Bierrutsche. Mit einer Bierrutsche wurden früher die Bierfässer in großen Gasthöfen in den Keller gerutscht. In meiner Jugend, in den 50er und 60er Jahren, war in dem alten Bierkeller eine Bar eingerichtet, und immer zu Fasching baute der Lotz die Bierrutsche auf, und wir Kinder konnten im Faschingskostüm herunter rutschen. So kam es, dass von Faschingssamstag bis zum Dienstag dort immer ein Kindermaskenball mit Rutschbahn war. Ich war früher gern dort. Und auch in den 80er Jahren war ich mit meinen beiden Töchtern oft an Fasching beim Lotz. Nun hatte ich Enkel und ging mit meiner Tochter und ihren Söhnen, eben diesen Enkeln, dorthin.

Womit ich jedoch nicht gerechnet hatte, waren die Gerüche aus der Küche. Am Anfang, als wir hinkamen, störte mich der Fleischgeruch aus der Metzgerei noch. Aber irgendwann wurden dann Mahlzeiten serviert. Die offensichtlich beliebteste Mahlzeit war Rumpsteak mit Zwiebeln und irgend einer Beilage. Die gerösteten Zwiebeln erinnerten an mein Weißkrautgericht und mir lief das Wasser im Mund zusammen. Und dann wurde da immer Rumpsteak mit Zwiebeln und Bratkartoffeln vorbei getragen – und in mir stieg die Erinnerung auf. Ja, ich hatte früher auch gern Rumpsteak mit Zwiebeln gegessen, damals im Alt-Auheim (vgl. Szene 015). Schon seit fast 20 Jahren hatte ich so etwas nicht mehr bekommen. Ich erinnerte mich jedoch an den Geschmack und an die sehnige Struktur des Fleisches: richtig etwas zum Beißen! Das ist schon etwas anderes als dieser doch etwas lapprige Tofu...

Ich wäre jedoch nie auf die Idee gekommen, mir ein solches Essen zu bestellen. - Kurz nach Fasching hatte ich jedoch eine ziemlich öde Arbeit zu machen, viele Akten für meine Tätigkeit in der Regionalversammlung zu bearbeiten. Ich kam auf die Idee, zum Lotz zu gehen, der hat ja ein leckeres alkoholfreies Bier dort. Und so saß ich im Lokal und arbeitete. Ich hatte mir einen Tisch in der Nähe der Küche gesucht und auch an diesem Tag wurden leckere Rumpsteaks an mir vorbei getragen. Ich verspürte wieder diese Sehnsucht, wusste jedoch: das ist nichts für dich. Aber riechen wird man ja wohl noch dürfen...

Tags darauf bin ich – als wäre es Routine – wieder zum Lotz gegangen, habe mir mein alkoholfreies Bier bestellt und meine Akten dort bearbeitet.

Doch plötzlich beobachtete ich mich: was mache ich denn da? Warum bin ich zum dritten Mal in dieser Woche in einer Gaststätte? Gut, das Bier ist inzwischen alkoholfrei – aber ganz im Ernst, was mache ich hier eigentlich? Und in diesem Moment kam wieder der Geruch von Rumpsteak mit Zwiebeln. Und da wurde es mir bewusst: es ist dieser Geruch, wegen dem ich hier bin. Es ist eine große Sehnsucht nach etwas, das ich überwunden glaubte, und das sich nun zurück meldete. Ja, dafür wurden Kühe geschlachtet, was ich aufs Entschiedenste ablehnte. Aber diese Kühe wurden geschlachtet, weil sie keine Milch mehr gaben, oder jedenfalls zu wenig. Und an dieser Milchviehhaltung war ich mit Schuld, schließlich aß ich hin und wieder im Café ein Stück Kuchen, wofür gewöhnlich Butter, Quark oder Sahne und Milch verwendet wurde. Mitunter machte ich mir sogar etwas Kondensmilch in den Kaffee. Und wenn ich mit anderen Leuten in ein Lokal ging, bestellte ich mir inzwischen ja auch wieder eine Pizza mit Spinat und Käse. Oder eine Käsebrot.

Und nun war da auch wieder die Sehnsucht nach dem Rumpsteak. Würde das zu einer Manie werden? Sollte ich am besten nie wieder in diese Wirtschaft gehen? Aber was würde das mit meinem Geist machen? Ich hatte diese Sehnsucht angestachelt. Würde sie sich einnisten, zu einer fixen Idee werden? Früher aß ich Rumpsteak – aber nie war das Verlangen danach so groß wie jetzt. Bestimmt übersteigerte ich in meiner Erinnerung den damit verbundenen Genuss. Und der würde mich weiter plagen...

Kellner, bringen Sie mir bitte ein Rumpsteak mit Zwiebeln und Salzkartoffeln, gut durch!“ Jetzt war es passiert. Ich hatte es tatsächlich bestellt. Vorsichtshalber mit Salzkartoffeln und nicht mit Bratkartoffeln, die sind zwar leckerer, aber dort ist womöglich Schweinefleisch in Form von Räucherspeck drin. Und Schweine werden im Gegensatz zu Milchvieh noch enger, noch quälerischer gehalten. Es war ein merkwürdiger Kompromiss! Wohin würde mich das führen?

Und dann kam es, mein erstes Rumpsteak seit über 15 Jahren. Es roch herrlich! Ich stach mit der Gabel hinein, schnitt mit dem Messer ein Stück vom Steak ab, drapierte geröstete Zwiebeln darauf und führte es zum Mund. Und dann? Naja... also es ist tatsächlich von dieser Konsistenz, die ich vermisst hatte, meine Zähne hatten ordentlich etwas zu kauen, und auch eine Fleischfaser klemmte sich wieder zwischen meine Zähne wie früher – irgendwie unangenehm.

Und der Geschmack? Nun der Geruch, der kostenlose, der nicht dazu führte, dass ich die Nachfrage nach Fleisch anfachte, war eindeutig leckerer als der Geschmack. An den Kartoffeln fehlte Kümmel, sie hätten auch etwas angebraten sein können... Aber dieses Fleisch? Einmal abgesehen von dem Pfeffer, der drauf war und von dem Geschmack, der von den gerösteten Zwiebeln kam, schmeckte das Fleisch eigentlich nach gar nichts! Das hätte man doch viel besser machen können. Natürlich, man hätte es in der Pfanne mit yeast anrösten können, dann zum Ablöschen Sojasauce verwenden können, und vielleicht auch irgend etwas Würzig-Fruchtiges hinzu tun, vielleicht gerebeltes Weißkraut! Ja, dann würde es richtig gut schmecken, aber so doch nicht, wenn die mich mal hätten in der Küche werkeln lassen, dann wäre es richtig lecker, dann würde es schmecken wie, wie...

...ja, tatsächlich, dann würde es genau so schmecken, wie mein herrliches Schwarzkrautgericht! Ich stutzte. Ich war geheilt! Ich war von meiner unheilsamen Gier geheilt! Durch achtsames Betrachten dessen, was wirklich geschieht. Die Zubereitung macht den Unterschied – und der Geruch. Jetzt wusste ich, dass ich nie wieder ein Rumpsteak essen würde, dass ich nie wieder Gier nach Fleisch haben brauchte. Das schmeckt in Wirklichkeit gar nicht! Es kommt allein auf die Zutaten, auf die Zubereitung an. Und die kann ich mit vegetarischen, mit veganene Speisen allemal besser.

Ich habe mein Rumpsteak ganz langsam und achtsam zu Ende gegessen. Nachdem ich die Sache mit dem Geschmack abgehakt hatte, forschte ich noch etwas der Sache mit der Konsistenz nach. Ja, das würde man bei Soja noch etwas besser hinbekommen können als bisher. Andererseits hatte die Konsistenz des Steaks auch Nachteile: die Fasern zwischen den Zähnen, man musste ganz lang kauen, da war der Geschmack schon längst weg, nur die Zähne mussten noch arbeiten, die Kaumuskulatur war gefragt, eigentlich war das eher Muskeltraining für die Kaumuskulatur.

Ich habe mich sehr geschämt, dass ich ein Stück von einem Wesen gegesen habe, das leben und nicht sterben wollte. Dass ich mit Schuld war am Leiden eines lieben Wesens, das panische Angst hatte, als es ins Schlachthaus geführt wurde. Und dass ich so dumm war, mir daraus einen Genuss zu versprechen! Andererseits bin ich auch froh, dass ich das getan habe, denn es hat mich ein für allemal kuriert. Ich weiß, dass da in mir nicht nur Gier war, sondern auch die Verblendung, dieser Genuss könnte größer sein, als das was ich jeden Tag genießen konnte: meine leckere Schwarzkraut-Mahlzeit.

Ich bin sehr froh, dass ich mittels yoniso manasikara, mittels weisem Erwägen, und mittels sati-sampajañña, also durch Achtsamkeit und Wissensklarheit, mein unheilsames Tun betrachten konnte. Und ich bin sicher, dass ich in Zukunft alle diese Fähigkeiten einsetzen kann, bevor ich wieder zur unheilsamen Tat schreite. Möge ich auf dem Pfad, der auf Ethik gründet, durch Meditation gefestigt wird und zu Weisheit führt, der irgendwann zu höchster Weisheit, zu sammasambuddhasa, zum völligen Erwachen führt, fortschreiten.

Und mögen alle Kühe glücklich sein!


Zurück zu  Der verschlungene Pfad in Richtung eines Lebens zum Wohl aller Wesen.
Zurück zur Heimatseite