Horst, der Mensch: Der verschlungene Pfad in Richtung eines Lebens zum wohl aller Wesen – Geschichte eines europäischen Buddhisten - Stand 14.1.2020

Szene 030 – Wandern und Krieg - 2012



Es war im Sommer 2012, als ich durch Kroatien wanderte, an einem heißen Tag. Der Buddha war ein Wanderer. Er ging über 50 Jahre lang durch Indien – zu Fuß. Er erlebte die Welt unmittelbar. „So will ich auch tun!“ hatte ich mir im Jahr zuvor gesagt und mich aufgemacht auf eine Wanderung, die mich möglicherweise Richtung Indien bringen würde, aber vor allem – so hoffte ich – dem „Sehen, wie die Dinge wirklich sind“ näher, dem, was der Buddha auf seiner langen Wanderung durch Indien erfahren hatte. Es war dies der 63. Tag meiner Wanderung. Ich war in Gelnhausen losgegangen und seitdem war ich 1522 km gewandert. Mein Tagebuch verzeichnet für diesen Tag folgendes:

Der Tag begann zunächst eintönig: ich fand mich auf diesen immer gleichen dörflich bebauten kroatischen Straßen wieder: das gleiche Wetter wie an den beiden letzten Tagen, die gleichen Straßen (350–400, im Schatten, doch nirgends Schatten, nur Asfaltstraßen), die gleichen Bauten. Es war so heiß und ich war so unendlich erschöpft, und es würde noch ewig so weitergehen; Gehen auf einer heißen Asfaltpiste, ohne Schatten, ohne kühles Getränk, die Schritte in den ermüdeten Beinen, die immer schwerer wurden. Doch dann stellte ich fest, dass Lamentieren fehl an Platze war. Warum die Augen auf das Unangenehme richten und nicht auf das Herrliche, das Wunderbare. Und so kam eine, da ich die Bedingungen dafür in meinem Geist geschaffen hatte, nunmehr euphorische Stmmung auf: Ja, so ist das: ich gehe meinen Pfad! Einen, wie ich weiß, langen Pfad, aber dass ich diesen Pfad gehe ist unwahrscheinlich toll! ICH GEHE! ICH SCHREITE! DER PFAD! Wow, er ist gangbar!!! Es ist herrlich zu leben, den Pfad zu gehen!

Stell dir vor, du liegst auf dem Totenbett, kannst nichts mehr machen, bist dem Tod geweiht. Welche Sehnsucht nach solch einem Tag! Eintönig? Ha! Du kannst dich bewegen, mit jedem Schritt neue Eindrücke im Detail studieren - jeder Meter ein spannendes neues Erlebnis. Aus der Sicht des Totenbettes müsste diese mir monoton erscheindende Landschaft ein ungeheuer spannendes Erlebnis sein. Und so verwandelte sich meine Emotion von zunächst gelangweilter Eintönigkeit in enthusiastische Offenheit.

Und ich begann genauer hinzuschauen, wollte jedes Detail genießen. Doch da offenbarte sich mir etwas, das ich zuvor nicht wahrgenommen hatte. Etwas, das immer vorhanden war, ich war diese Straße ja schon zwei oder drei Mal in den letzten Tagen mit dem Auto durchfahren, eine absolut eintönig Strecke. Häuser, Büsche, Asfalt. Manche Häuser neu, manche im Bau, viele alt und verfallen, wie überall in diesem Teil der Welt. Das war das, was ich vom Auto aus wahrgenommen hatte. Und nun hatte ich in weniger als einer Stunde diese emotionale Berg- und Talfahrt gemacht: von der Empfindung der Eintönigkeit über die Begeisterung den Pfad gehen zu dürfen und noch nicht auf dem Totenbett zu liegen, bis zu dem plötzlichen Ins-Auge-Blicken mit einem entsetzlichen Grauen, mit etwas, das ich als oberflächlicher Autofahrer völlig übersehen hatte und nun, da ich zu Fuß ging, erfahren konnte: das Grauen des Krieges.

Ich war tatsächlich in einem vom Krieg heimgesuchten Land, mitten in einer Zone der Zerstörung! Und da war kein Haus, das älter war als 15 Jahre und nicht irgendwelche Kriegszerstörungen aufwies: Einschüsse von Maschinengewehren, von Granaten, Brandschäden. Manche Häuser waren zerstört, andere beschädigt und einige neu, die offensichtlich ältere Gebäude ersetzten.

Welches Grauen muss hier vor nicht langer Zeit geherrscht haben. Da saßen Menschen in ihren Häusern und irgend jemand griff sie an. Welche Optionen hatte sie, wenn sie noch nicht geflohen waren? (Und vermutlich waren sie noch nicht geflohen, sonst hätte ja kein Grund bestanden, die Häuser zu beschießen.) Diejenigen, die da vorrückten, waren keine regulären Truppen, sondern irgendwelche Banden, die plünderten, brandschatzten, vergewaltigten, töteten.

Vielleicht haben die Hausbewohner versucht sich zu verteidigen. Welche andere Chancen hätten sie gehabt? Hätten sie sagen sollen: „Hallo Leute, ihr wollt hier plündern? Okay, plündert, wir warten bis ihr fertig seid?“ oder „Gut ihr wollt unser Haus und unser Hab und Gut? Bitte sehr nehmt es und lasst uns mit dem Auto fortfahren.“ Natürlich hätten die Plünderer dann auch das Auto haben wollen - und dann wäre an eine Flucht nicht mehr zu denken gewesen.

Aber selbstverständlich hatten sowohl die Belagerten als auch die Belagerer gehört, was in diesem Krieg bereits vorgefallen ist. Selbst der Versuch, sich zu ergeben, konnte alles noch viel schlimmer machen. Was, wenn die Eroberer nicht nur plündern wollten, sondern auch vergewaltigen und dabei ihre sadistischen Vorstellungen ausleben wollten – in einer Gruppe, die sich gegenseitig anstachelt. Alle Frauen und Kinder, vielleicht auch die Männer schändeten? Und dann? Die Angst der Vergewaltiger nach dem Krieg zur Rechenschaft gezogen zu werden, wenn es Zeugen gab?! Also läge es in der Logik dieser Art von Bandenkriegführung, die Opfer nicht nur zu vergewaltigen, sondern anschließend auch umzubringen und die Häuser vielleicht hinterher anzuzünden, um alle Spuren zu verwischen.

Natürlich musste das nicht zwangsläufig so kommen. Aber es war eine Möglichkeit. Eine durchaus realistische Befürchtung der Belagerten. Sollte man sich unter diesen Umständen ergeben??? Oder doch verzweifelt kämpfen? All dieses Grauen, diese kollektive Erinnerung an eine der schwärzesten Epochen Europas in den letzten Jahrzehnten verfolgten mich an diesem emotional so aufwühlenden Tag.

Es waren stattliche Häuser und armselige Hütten, die der Krieg gleichermaßen heimgesucht hatte, der Terror hatte weder vor Arm noch vor Reich halt gemacht.

Das verschlossene Hoftor einer Familie mit Aberhunderten von Einschüssen, bis sich die Belagerer Zugang erkämpft hatte. Daneben das zerstörte Schlafzimmer mit dem Ehebett der Familie, seit diesem Tag nicht mehr benutzt. Was waren wohl die letzten Szenen, die sich hier abspielten? Ob die Bewohner fliehen konnten? Ob sie überlebten? Und wenn ja, welche Traumata sie wohl davon getragen hatten?

Drei Bilder, die nur wenige hundert Meter voneinander entstanden: die durch Granateinschuss zerstörte Decke eines Raumes, sie ist im gleichen Gebäude wie das oben gezeigte Schlafzimmer; auch vor Kirchen machten Krieg und Zerstörung im Kampf zwischen „katholischen“ Kroaten und „orthodoxen“ Serben nicht halt; und schließlich ein Haufen Ziegelsteine.

Und das ist die Geschichte von den Ziegelsteinen: Hinter dem Haus war ein älterer Mann mit kurzer Hose und blankem Oberkörper – wie erinnern uns: die Temperaturen liegen weit über 30 Grad – er klopft mit einem Hammer den Mörtel von den Backsteinen eines zerstörten Hauses. Dann fährt er diese Steine mit einem Schubkarren vor das Haus an die Autostraße, schichtet sie auf. Er hat ein Schild gemalt. „PRODAIEM CIGLU“ – Ich verkaufe Ziegelsteine. Leben in Kroatien fünfzehn Jahre nach dem Krieg.

Der Krieg ist vorbei. Kroatiens Abspaltung aus dem ungeliebten jugoslawischen Staat ist gelungen, doch allem Augenschein ist der Wohlstand – milde ausgedrückt - nicht höher als vor der Sezession.

Horst, der Mensch: Der verschlungene Pfad in Richtung eines Lebens zum wohl aller Wesen – Geschichte eines europäischen Buddhisten - Stand 14.1.2020


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