Horst, der Mensch: Der verschlungene Pfad in Richtung eines Lebens zum wohl aller Wesen – Geschichte eines europäischen Buddhisten - Stand 7.1.2020

Szene 26 – Frieda – die liebe Großmutter - 1884-1980



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Die Bilder zeigen meine „liebe Großmutter“, so habe ich sie angeredet, sie hieß Frieda Gutmann, geb. Fuhrmann, im Jahre 1970 an ihrem 86. Geburtstag, ebenso ordentlich frisiert und sorgsam angezogen, wie ihr Leben lang, denn die liebe Großmutter hielt sehr auf sich.

002Natürlich war sie nicht immer eine Großmutter, obwohl: für mich war sie immer die liebe Großmutter! Sie wurde im Jahre 1884 in Naumburg an der Saale geboren, das liegt in Sachsen-Anhalt. Sie verließ dieses heutige Bundesland jedoch bereits im Alter von zwei Jahren und hat seitdem immer im heutigen Hessen gelebt. Dennoch wurde sie auch mehr als 80 Jahre später von Leuten wegen ihrer Aussprache immer wieder gefragt: „Sie sind wohl von drüben?“ Damit waren in jener Zeit DDR-Flüchtlinge gemeint. Und wenn sie dies bestätigte, ja, sie käme aus dem Osten, war meist die nächste Frage: „Wann sind sie denn ´rübergemacht?“ Und wenn die liebe Großmutter dann sagte: „1886“ waren die Frager immer sehr erstaunt, denn sie sprach noch immer östlich. Dass sich das solange gehalten hat, lag daran, dass sie sehr lange im Hause ihrer Eltern und im Kreise ihrer Geschwister im Wald lebte, und man untereinander natürlich das gewohnte Idiom sprach.

Friedas Vater war ein sog. Zwölfender, das sind Soldaten, die sich in der preußischen Armee für zwölf Jahre verpflichtet hatten und eine Offziersausbildung erhielten. Und dieser Mann war dann auch als Offizier im Krieg gegen Frankreich 1870/71. Nach zwölf Jahren wurden Zwölfender aus dem Kriegsdienst entlassen, jedoch nicht aus dem königlich-preußischen Staatsdienst. Vielmehr kümmerte sich der Staat ein Leben lang um seine Staatsdiener. Es wurde also nach dem Wehrdienst festgestellt, wozu der Mann Eignung und auch Interesse hat, in diesem Bereich bekam er alsdann eine Ausbildung und anschließend ein Amt: er wurde „ver-beamtet“. Und so war Friedas Vater Oberförster im preußischen Staatsdienst geworden.

Zu der Zeit, als Frieda geboren wurde, war er Förster des Fortsamtes Naumburg, 1886 wurde er dann nach Eschwege (heute: Nordhessen) versetzt, später nach Bieber (Osthessen) und schließlich wurde er (1898) Oberförster des königlich-preußischen Staatsforstes in Wolfgang (heute: Hanau), wo er bis zu seinem Tode 1925 lebte. In der Erinnerung meiner lieben Großmutter war vor allem der Umzug nach Wolfgang problematisch: hatte man in Bieber bereits seit zwei Jahren elektrisches Licht, so mussten nun wieder die alten Petroleumlampen hervorgeholt werden – „und die waren ja so funzelig“, außerdem hätten sie gestunken.

Therese Fuhrmann, geb. Ritter, Friedas Mutter hatte sieben Kinder geboren, wovon fünf das Säuglingsalter überlebten und diese fünf lebten alle auch ein dreiviertel Jahrhundert später noch, nämlich Friedas Brüder Paul und Otto ebenso wie ihre Schwestern Änne und Else, letztere hat in der Szene „Ruth“ (Szene 017) bereits Erwähnung gefunden. Natürlich haben alle fünf Kinder damals die Volksschule besucht, sie gehörten ja weder zum Adel noch zum städtischen Bildungsbürgertum. Der Schulweg von Frieda war anderthalb Stunden lang, nach Rossbach (heute: Biebergemünd), was vor allem im Winter bei hohem Schnee und bei Dunkelheit durch den Wald nicht ganz einfach war. Diese Schule war damals zweiklassig. Es gab eine Klassen für „die Kleinen“ – Jahrgangsstufe 1 bis 4 – und die Klasse der „Älteren“, die Klasse fürs 5. bis 8. Schuljahr.

Natürlich wurden die Töchter nicht in eine Lehre geschickt, Mädchen heiraten ja bekanntlich. Dennoch war Frieda eine Zeit lang berufstätig, eben als „Mädchen“. Als „Mädchen“ war man damals Hausangestellte bei besser gestellten Leuten und erledigte alle Hausarbeiten, für die sich die Dame des Hauses zu fein war. Die längste Zeit war Frieda als Mädchen bei „Landgerichtsrats“ in Hannover. Das hieß also, dass sie im Haushalt eines Richters arbeitete, putzte, kochte, wusch, die Herrin frisierte und das erledigte, was sonst noch anfiel.

Frieda schätzte ihre Herrin jedoch gar nicht. Beispielsweise musste sie in all den Jahren im Winter immer der Herrin die Apfelsinen schälen und die einzelnen Schnitte bereitlegen. Aber ihre Herrin hätte ihr doch nicht ein einziges Mal angeboten: „Na, Fräulein Fuhrmann, nehmen Sie sich ruhig auch mal ein Stück!“ - nicht ein einziges Mal. Was ihr aber besonders missfiel: wenn sie mit der „Frau Landgerichtsrat“ (die Frau war natürlich keine Richterin, sondern nur die Gemahlin des Richters) mit der Bahn unterwegs waren und dort waren auch Arbeiter – natürlich nicht im gleichen Waggon, die Arbeiter fuhren selbstverständlich 3. Klasse – dann hätte ihre Herrin immer die Nase grümpft und „dieses Pack“ gesagt, dabei waren das, so berichtete meine Großmutter mir, „doch alles redliche, fleißige Leute, die ihrer Arbeit nachgingen, während diese hochnäsige Frau Landgerichtsrat ihre Lebtage lang noch nichts geschafft hatte“.

Allerdings hatte die Zeit als „Mädchen“ auch ihre Vorteile, denn Landgerichtsrats fuhren jedes Jahr in den Urlaub. Das war eine große Sache und für einfache Leute damals eigentlich unerschwinglich. Es ging nach Borkum, nach Berchtesgaden, nach Norderney oder in den Schwarzwald – und Frieda durfte mit. Was heißt durfte: sie musste natürlich arbeiten. Es wäre doch undenkbar gewesen, dass sich die Frau Landgerichtsrat im Urlaub selbst die Haare ondulierte oder das Korsett schnürte!

Ich kann mich erinnern, wie wir – es muss etwa 1970 gewesen sein – in Ramsau bei Berchtesgaden im Urlaub waren. Auf einmal kamen uns zwei sehr alte Frauen entgegen, blickten die liebe Großmutter an und sagten: „Ja, das ist ja wirklich das Fräulein Fuhrmann!“ Offenbar hatte der vierwöchige Aufenthalt meiner Großmutter vor dem ersten Weltkrieg, also etwa 60 Jahre zuvor, recht starken Eindruck auf die Dorfbevölkerung gemacht, wenn sie Frieda nach all´ der Zeit wieder erkannten. Aber die liebe Großmutter war auch eine ganz ungewöhnlich Frau: ehrlich, willensstark, gerecht und ungeheuer aufmerksam.

Man kann sogar sagen, dass meine Jugend im Hause meiner Großmutter ein einziges Achtsamkeitstraining war. Immer wurde ich darauf hingewiesen, welche Folgen meine Handlungen haben – oder worin die Ursachen für die Resultate waren, die sich zeigten. Gewissermaßen war die liebe Großmutter die „Karma-Beauftragte“ meiner jungen Jahre (Karma heißt „Handeln“, und ich erhielt bei ihr ein Training in karmischen Ursachen und karmischen Folgen). Nicht nur deswegen bin ich überzeugt davon: wenn ich jemals in meinem Leben einer Bodhisattva begegnet bin, dann ganz sicher meiner lieben Großmutter. (Ein/e Bodhisattva ist ein Wesen, dass sich in den Sechs Perfektionen übt und auf dem Weg zur Erleuchtung ist.)

Und ganz besonders wichtig war es Frieda, mir (und anderen) zu vermitteln, welche Folgen ethisches und unethisches Verhalten haben. Die Frau Landgerichtsrat, so war sie überzeugt, würde nicht in den Himmel kommen, wenn es einen gibt. Oder, falls es Wiedergeburt gibt, wolle sie nicht in der Haut desjenigen stecken, in der diese Person wiedergeboren würde – pflegte meine Großmutter gewöhnlich noch zu ergänzen, denn ob die Sache mit Himmel und Hölle das richtige Konzept war, oder aber das mit der Wiedergeburt, darauf wollte sie sich nicht festlegen. (Obwohl so abstrakte Begriffe wie „Konzept“ bei ihr natürlich nicht vorkamen, die liebe Großmutter war eine praktische, ethisch handelnde Person, keine theoretisierende Philosophin).

Einmal muss sie sich wohl sehr verliebt haben, in einen Leutnant, wenn ich die Erzählung meiner Mutter richtig im Kopf habe, aber der junge Offizier fand leider keine Gnade vor den Augen ihres Vaters. Und Ehen ohne Zustimmung des Vaters waren selbstverständlich undenkbar. Beinahe wäre meine Großmutter - ähnlich wie ihre Schwester Else - als alte Jungfer geendet, wenn nicht – da war sie bereits 36 – ein Witwer mit drei Kindern um ihre Hand angehalten hätte – und diesmal stimmte ihr autoritärer Vater zu.

So wurde Frieda mit knapp 38 Jahren Mutter und mit 67 Jahren zu meiner Großmutter. Selbstverständlich hatte sie sich ihrem Ehemann genauso unterzuordnen, wie zuvor ihrem Vater. Und als ihr Ehemann Franz schließlich Ortsgruppenleiter der NSDAP war, „wurde ich auch eingetreten, ich hatte ja nichts zu sagen“ erläuterte sie, wie sie in „die Hitler-Partei“ kam. Vorübergehend war sie sogar NS-Frauenschaftsleiterin in Großauheim, auf Drängen von Franz, der argumentierte: „Irschendeene muss des doch mache, und du bisd perfekkt in so Haushaltssache und so, wen solle denn die junge Mädcher sonst als Vorbild hawwe!“

Und so wurde Frieda NS-Frauenschaftsleiterin mit dem sicheren Bewusstsein, dass, wer den Saum von Hakenkreuzfahnen nähen kann, dann eben auch Kleider, Hosen und Röcke säumen kann. Und wem sie die Achtsamkeit auf die Folgen, und das Betrachten der Ursachen von Geschehnissen klar machen kann, der würde wohl eher die Chance zu besserem Handeln haben...

Der raue Ton und die Aggressivität der Nazis waren ihr allerdings immer zuwider. Eines Tages jedoch war dann endlich für Frieda das Ende der Fahnenstange erreicht. Die NSDAP hatte für den Kreis Hanau einen neuen Kreisleiter eingesetzt. Und dieser Kreisleiter besuchte nun reihum die Ortsgruppenleiter, also kam er auch ins Haus von Frieda und Franz im Auwanneweg. Dort erläuterte er die Judenfrage. „Nie hätte ich gedacht, dass sich meine Mutter derart wie eine Furie aufführen könnte; so wie an diesem Tag habe ich sie nie wieder erlebt“, erzählte mir meine Mutter. Die liebe Großmutter habe den Kreisleiter nicht nur angeschrieen und beschimpft, sie habe ihn sogar eigenhändig „rausgeschmissen und mit dem Besen bedroht“, erläuterte mir meine Mutter, und Frieda hätte ihm nachgerufen: „Lassen Sie sich nur ja nie wieder hier blicken, sie Lump, das ist ein anständiger Haushalt... und mit eurer ganzen Hitlerei könnt ihr mir von nun an den Buckel runterrutschen!“ - und warf dem Kreisleiter ihr Parteibuch nach, nicht ohne es zuvor noch zerrissen zu haben.

Franz hatte daraufhin verständlicher Weise eine schlaflose Nacht. Was würde jetzt werden? Würde seine Frau am kommenden Morgen um 5 Uhr abgeholt werden, im KZ verschwinden? Was wäre mit seiner ganzen Familie? - Am nächsten Tag ging Franz reumütig zur Kreisleitung: „Es dud meiner Fraa furschtba leid,“ log er „in letztä Zeid, da hattse immer emal widder so Ausrasder, wisse Se, die Wexeljahrn... Sie wär ja selber komme, wann se sich net so schäme dät. Unn nadierlich bleibt se in de Baddei, ich soll Ihne aach gleich die Baidräsch ferr die näschste zehe Jahrn mitbringe.“

Und so zahlte Franz die Mitgliedsbeiträge. Natürlich durfte Frieda nie erfahren, was er gemacht hatte – auch daher die Beitragszahlung für zehn Jahre im Voraus – nicht dass irgendwann jemand von der Partei käme und ihren Beitrag kassieren wolle. Frieda durfte ja nicht wissen, dass sie wieder gegen ihren Willen in die NSDAP eingetreten worden war.

1953 wurde Frieda Witwe. Ich kenne sie nur als Witwe. Als eine ebenso gütige wie resolute alte Dame mit schneeweißem Haar. Ihr Haar war so schneeweiß, wie ich es von fast niemandem sonst kenne. Ich habe früher geglaubt, das müsse ein Zeichen von Weisheit sein, dachte, dass das Wort „weiß“ von Weisheit kommt. Wenn man Großmutter sah und hörte, so war das nahe liegend. Und ich wollte später auch so schönes weißes Haar haben, wie die liebe Großmutter – und einen weißen Bart wie der Nikolaus, der war schließlich auch weise. Und manchmal, wenn ich versuchte, Ursache und Wirkung besonders spitzfindig zu erläutern und ich meine liebe Großmutter dann fragte: „Gell, Großmutter, ich bin auch schon ganz schön weise?!“ So pflegte sie zu antworten „Nee, Dschunge, weise bissde nich! Du bist naseweise!“ - Was mich gewöhnlich dazu veranlasste zu argumentieren „Naseweise ist ja auch schon ein bisschen weise, irgendwo muss es ja anfangen, vielleicht an der Nase und dann werde ich immer weiser – und am Ende auch an den Haaren.“ Aber leider habe ich von meiner lieben Großmutter für derartig vermessende Äußerungen niemals auch nur den Hauch einer Bestätigung bekommen. Aber heute denke ich mir manchmal, wenn die liebe Großmutter mich heute sehen könnte...

Als die liebe Großmutter zur Witwe geworden war, war gerade das bundesdeutsche Wirtschaftswunder ausgebrochen. Sie hatte zwar nur eine sehr schmale Rente, aber da sie bei uns im Haushalt lebte, konnte sie sich jetzt zweimal jährich eine einwöchige Busreise leisten.

Ich hatte damals kein Kinderzimmer, dergleichen war noch nicht üblich, aber ich schlief auch nicht mehr im Kinderbettchen im Schlafzimmer meiner Eltern. Im Alter von zwei Jahren kam ich daher in Großmutters Schlafzimmer. Franz´ Bett war jetzt verwaist und also durfte ich zur lieben Großmutter, die ich damals noch Oma nannte. Auf diese Art gewann Frieda allmählich immer mehr Einfluss auf mich. Morgens und abends wurde artig gebetet, manchmal erzählte sie mir Geschichten, aber viel häufiger noch Lebensweisheiten. Und für alles hatte sie ein Sprichwort bereit. Die häufigsten sprichwörtlichen Regeln waren natürlich: „Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg´ auch keinem anderen zu“ - „Quäle nie ein Tier, auch nicht zum Scherz, denn es fühlt wie du den Schmerz“ oder auch „Wer einmal lügt, dem glaubt man nie“ und natürlich „Wie man in den Wald ruft, so schallt es heraus“.

005Horst, Frieda und Heinz 1956

Im Jahre 1954 wurde Deutschland Fußballweltmeister und meine liebe Großmutter 70. Was das miteinander zu tun hat? Mehr als du denkst! - Natürlich hörte mein Vater die Fußballübertragungen von der Weltmeisterschaft in der Schweiz im Radio. Es sind diese legendären Sätze, die man heute auch noch alle vier Jahre bei der WM zu hören bekommt, immer dann, wenn das „Wunder von Bern“ beschworen wird. Und nach dem Endspiel war für meinen Vater eines klar: „Jetzt muss ein Fernseher her!“ Das war ziemlich ungewöhnlich, denn Fernseher waren 1954 in Deutschland noch alles andere als üblich. Der Auwanneweg, in dem wir wohnten, hatte 100 Häuser, in jedem wohnten zwei bis drei Familien. Und bei diesen etwa 250 Familien gab es bislang genau einen Fernseher – das wusste man, denn die Fernsehantennen auf den Dächern waren höchst auffällig. Natürlich hat sich mancher Mann damals, bei der Fußball-WM, einen Fernseher gewünscht, um das Wunder nicht nur hören, sondern auch sehen zu können. Aber mein Vater war blind.

Du bist ja verrückt, Heinz!“ sagte meine Mutter: „Ein blinder Mann und dann muss ein Fernseher her! Alle Leute werden sagen, die Ruth habe ihren Mann solange genervt, bis er ihr einen Fernseher gekauft, wovon er selbst gar nichts hat!“ - Und Ferseher waren damals noch ziemlich teuer. Ein Schwarzweiß-Fernseher – andere gab es nicht – mit einer 53cm-Bildröhre (also einem 21-Zoll-Monitor) kostete 700 DM, mehr als zwei durchschnittliche Monatslöhne eines Arbeiters.

Bei uns zu Hause war es allerdings inzwischen nicht mehr wie früher, als der Mann allein entschied. Meine Mutter hatte „nein“ gesagt, also gab es keinen Fernseher – so waren jetzt die Spielregeln. Was aber machte Heinz? Er kaufte einen Fernseher und schenkte ihn seiner Schwiegermutter zum 70. Geburtstag. Und da die liebe Großmutter mit uns in einer Wohnung wohnte, hatten wir jetzt einen Fernseher – toll, echt Papa!

Damals wohnten wir mit der lieben Großmutter in einer 4-Zimmer-Wohnung. Es gab die Wohnküche, den recht großen Flur, Toilette, Badezimmer, ein kleines Wohnzimmer, Großmutters Zimmer (etwas größer), ein „Herrenzimmer“ das wurde nur benutzt, wenn Gäste kamen, und das Schlafzimmer für die liebe Großmutter und mich. Meine Eltern schliefen damals in der Mansarde. Das jedenfalls war die Raumaufteilung bis ich sechs Jahre alt war. In meiner wunderschönen Kindheit.

Und ich durfte immer der Großmutter helfen! Ich wurde erzogen wie alle kleinen Mädchen damals. Ich war mit der Großmutter im Garten – auch wenn mir das Gießen und vor allem das Unkrautjäten gar keinen Spaß machte - das Obst- und Beerenpflücken aber umso mehr! Ich durfte der lieben Großmutter in der Küche helfen, beim Kochen und Backen – da gab es so viele tolle Sachen zu machen – und natürlich Kuchenteig- und Puddingschüsseln auszulecken. Mit dem Nähen hingegen tat ich mich schwer – und an Großmutters Nähmaschine durfte ich gar nicht. (Die liebe Großmutter schneiderte noch immer die Kleider für sich und meine Mutter selbst, früher hatte sie sogar die Hemden der Jungs geschneidert. Ihre wichtigste Lektüre waren Zeitschriften mit Schnittmusterbögen!) Häkeln und Stricken gelang mir hingegen besser. Andere Jungs lernten handwerkliche Dinge von ihrem Vater. Das geht bei einem blinden Vater nicht. Von dem kann man intellektuelle und sprachliche Fähigkeiten lernen, aber nichts Praktisches. Dafür gab es die Großmutter – und eben deshalb sage ich, dass ich so erzogen wurde, wie früher alle kleinen Mädchen – allerdings mit einer wesentlich besseren Achtsamkeitstrainerin und Lehrerin für angewandte Philosophie!

Ich war ungefähr 15 Jahre alt, als Holz gehackt werden musste. Wir hatten zunächst noch einen Feststoffbrenner für die Heizung und außerdem mussten der Küchenherd und der Badeofen Holz haben. Also wurde ein Festmeter Holz gekauft, dann kam die Sägemaschine und schnitt die meterlangen Stämme in 15 - 20 cm lange Baumstammscheiben und die mussten dann in einzelne Stücke gehackt werden. Ich habe mich daran versucht, war jedoch – wie bei allen manuellen Tätigkeiten – nicht mit besonderer Geschicklichkeit gesegnet. Die liebe Großmutter sah das, schüttelte den Kopf und sagte: „Da kann man ja gar nich´ mit zugucken, Dschunge, mach dich ab!“ Dann nahm sie das Beil. Die liebe Großmutter hat den ganzen Festmeter (m³) Holz gehackt – und da war sie schon über 80!

Großmutter war eine tolle Frau – bis zu dem Tag, als ihre einzige Tochter starb. An diesem Tag gab sie sich auf. Sie wollte nicht mehr. Sie wollte zu ihrer Ruth. Sie hatte bis zu Ruths Tod immer gesagt, dass es ihre Aufgabe sei dem „Mädchen“ - sie meinte damit meine über 50jährige Mutter – unter die Arme zu greifen, weil diese als Witwe ja gar nicht alles bewältigen könnte. Großmutters Lebenssinn war jetzt, nach Ruths Tod, obsolet, ihre wichtigste Bezugsperson war verschwunden. Sie sei jetzt unnütz, sagte sie. Sie wollte nur noch sterben.

023Frieda mit Grasmücke und Horst (1959)

Nach dem Tod meiner Mutter war klar: meine Schwester, sie wohnte in Berlin, würde das neue Haus bekommen, das meine Mutter Anfang der 60er Jahre gebaut hatte, denn einen alten Baum - die liebe Großmutter – verpflanzt man nicht mehr. Wir würden also mit Frieda Gutmann im Auwanneweg bleiben, solange sie lebt. Aber Großmutter wurde jetzt hinfällig. Sie ins Altersheim zu geben, war undenkbar. Eigentlich wollte sie nur noch sterben. Aber wer würde sich um sie kümmern können, wenn sie noch schwächer wird?

Ich erörterte das Problem mit Eleonore. Diese sagte zu, sich um die liebe Großmutter zu kümmern und sie ggfs. zu pflegen. Darauf vertraute ich. Warum? Vermutlich weil es so bequem war. Ich war so erzogen, dass Abmachungen eingehalten werden: pacta sunt servanda. Wenn etwas abgemacht war, war für mich das Problem gedanklich gelöst.

Leider war diese Einstellung nicht mit Eleonores Haltung kompatibel. Eigentlich hätte mir das schon längst als Muster aufgefallen sein müssen. Aber da ich den Satz „pacta sunt servanda“ schon mit der Muttermilch aufgenommen hatte, war er für mich nicht nur ein Imperativ, sondern eine Realitätsbeschreibung. Und daher hatte ich Elis Ausreden, wann immer sie nicht zu einer Verabredung stand, als den Umständen geschuldete Ausnahmen gesehen, statt dieses Muster als eine Regel bei dieser Person anzusehen.

Erst sehr viel später habe ich gelesen, dass es offensichtlich zwei verschiedene Strategien gäbe, mit Vereinbarungen umzugehen. Es gäbe, so las ich, den typisch deutschen Umgang damit, nennen wir es Muster vom Typ A: Wenn eine Verabredung getroffen wird, muss man unter allen Umständen versuchen, sie einzuhalten. So war meine Position (und wie ich bis dahin dachte, die eigentlich aller Menschen). Wenn ich also irgend wohin musste und fuhr mit dem Bus, so benutzte ich nicht den Bus, mit dem ich einige Minuten zu spät käme, auch nicht den vorigen, mit dem ich 20 Minuten zu früh käme, sondern vorsichtshalber einen noch früheren. So kam ich zwar eine Stunde zu früh. Aber wenn dieser Bus ausgefallen wäre, dann wäre ich immer noch pünktlich gewesen. Und Busse können ausfallen, daher hatte ich das vorsichtshalber einkalkuliert.

Und dann gab es noch den Umgang mit Verabredungen nach „französischer Art“, so hatte ich gelesen, nennen wir es Muster B. Wenn man eine Verabredung getroffen hat, hat man in dem Moment den Willen sie einzuhalten. Da jedoch bis zum Zeitpunkt der Erfüllung andere Interessen auftreten können, folgt man eben diesen, man hat ja jetzt dafür einen „guten Grund“. Eli handelte nach dem Muster Typ B. Und da die eine Art als „eher deutsch“, die andere als „eher französisch“ beschrieben worden war und Eli waldensischer Abstammung ist, bedeutete das, dass wir eigentlich bei allen Abmachungen aneinander vorbei redeten.

Auch wenn ich dies nicht gelesen hätte, hätte mir dies eigentlich irgendwann auffallen müssen. Allerdings war ich hier von Blindheit geschlagen, konnte mich nicht von meiner Konditionierung lösen, und so waren Konflikte zwischen mir und der Mutter meiner Kinder eigentlich vorprogrammiert. Dummerweise traf dies jedoch auch auf die Abmachung bezüglich meiner lieben Großmutter zu.

Ich hatte mit Eli ausgemacht, dass sie sich im Ernstfall um die liebe Großmutter kümmern werde. Ich als Ernährer der Familie hatte meine Arbeitsstelle in Gelnhausen frisch angetreten, mein Schulleiter suchte nach Methoden, mich wieder loszuwerden. Ich konnte mir – so glaubte ich – Fehlen nicht erlauben. Ich war schließlich der Ernährer der Familie! Im Herbst 1980 stürzte Frieda und brach sich den Oberschenkelhals. Laut Verabredung mit Eli, hatte diese sich jetzt um Frieda zu kümmern. Das war jedoch die Zeit, da sie Leiterin der Privatschule war. Das war für sie ein Umstand, der noch nicht abzusehen war, als sie die Zusage gemacht hatte. Und entsprechend dem Verhaltensmuster Typ B („eher französisch“) waren Eli ihre momentanen Interessen wichtiger.

So wurde Großmutter am Morgen kurz versorgt und Eli ging zur Arbeit. Auch mittags kam sie nicht zurück, wie zugesagt, es war eben irgend etwas dazwischen gekommen. Frieda versuchte allein mit gebrochenem Bein aufzustehen und zur Toilette zu kommen. Das ging schief, sie brach sich auch noch das zweite Hüftgelenk. Als ich abends heimkam rief ich die Notärztin, die liebe Großmutter musste ins Krankenhaus eingewiesen werden.

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Großmutter 1978 nach dem Tod ihrer Tochter

Frieda war unglücklich, bat mich bei ihr zu bleiben. Die Krankenschwestern warfen mich raus: ich könne nicht in der Frauenabteilung über Nacht bleiben. Ich ging zu Eli, bat sie. Eli hatte „Wichtigeres“ zu tun. Ich bemühte mich um einen Pflegeplatz. Als ich meine liebe Großmutter besuchen wollte, war es zu spät. Da sie auch jetzt noch versuchte, nachts zur Toilette zu gehen, war sie am Bett fixiert worden. Meine liebe Großmutter starb allein und gefesselt.

Noch heute – 40 Jahre säter – kommen mir die Tränen, wenn ich daran denke. Dies war mein größter Fehler, mein größtes Versagen in meinem Leben. Ich hatte der Person, die mich wie wohl keine andere positiv geprägt hatte, in ihren schwersten Tagen nicht geholfen. Mit dieser Schuld musste ich von nun an leben. Zunächst allerdings sah ich noch immer eine mindestens gleich große Schuld bei der Mutter meiner Kinder. Wenn da jemals eine tiefe Liebe zu Eli war, damals ist diese Liebe endgültig gestorben, meine liebe Großmutter schien mir auf dem Altar von Elis Karriereträumen geopfert worden zu sein.

Ich konnte und wollte meine eigene Verantwortung nicht annehmen, versuchte sie zu verdrängen. Ich floh ins Alt-Auheim, ich floh in den Alkohol, betäubte mich (Szene 015). Ironischer Weise wurde diese fatale Flucht finanziert von den Ersparnissen meiner Mutter und meiner Großmutter. Ich habe mir damals ganz, ganz schlechtes Karma gemacht. Und – auch das war mir damals schon klar - ich werde die Früchte dieses Karma ernten müssen.

Ich hoffe, dass meine Großmutter ihre Tätigkeit als wahre Bodhisattva erfolgreich fortsetzen konnte. Ihr Wunsch war allerdings „dass der Herrgott mich zu ihm holt“. Vielleicht war ihre Bodhsattva-Karriere zu Ende. Nach buddhistischer Auffassung ist es möglich, dass sie tatsächlich ins Nirvana gelangt ist. Dass ein letzter Karmarest aus früheren Existenzen zu dem unschönen Ende am Ende ihres Lebens geführt habe und sie danach die endgültige Befreiung erreicht hat.

Ich weiß nicht, ob ich wünschen sollte, dass es so wäre. Es würde gleichzeitig bedeuten, dass eine hervorragende Bodhisattva hier nicht mehr wirken würde.

Meine liebe Großmutter gibt es nicht mehr. Möge der Energiestrom, der sich in ihr manifestiert hat, weiter segensreich wirken. Ein ganz kleines bisschen davon wirkt er schon in mir … glaube ich …


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