Horst, der Mensch: Der verschlungene Pfad in Richtung eines Lebens zum wohl aller Wesen – Geschichte eines europäischen Buddhisten - Stand 5.1.2020

Szene 17 – Ruth 1922-1978


In zwei Bildern wurde eine Person auf eigenen Wunsch entfernt.

Ruth, meine Mutter, war das einzige Kind meiner Großmutter. Ihr Ehemann Franz hatte schon drei Söhne aus erster Ehe. Ruth wuchs in den 20er Jahren in Großauheim auf, Ecke Hauptstraße und Bahnhofstraße, sehr zentral, eine günstige Lage für das Dentistenhandwerk ihres Vaters (vgl. Szene 11 Franz). Im Jahre 1930 zog die Familie in das neu erbaute Eigenheim im Großauheimer Auwanneweg, damals ein Neubaugebiet. Das rasch wachsende Industriedorf am Main dehnte sich inzwischen auf das Gebiet nördlich der Bahnlinie aus.

Ihre Brüder, vor allem Ludwig und Ben, waren glühende Anhänger des Führers, und Ruths Vater war inzwischen Ortsgruppenleiter. Und selbstverständlich ergriff auch das junge Mädchen die allgemeine Begeisterung. Während heute pubertierende Mädchen gewöhnlich an einen Filmstar oder einen Musiker, also eines ihrer Idole, schrieben, verfasste Ruth einen Brief an Benito Mussolini, den Duce, den Staatschef des faschistischen Italien. Das lag daran, dass sie und der Duce am gleichen Tag Geburtstag hatten, am 29. Juli. Und tatsächlich bekam sie Antwort aus dem Büro des Duce – mit eigenhändiger Unterschrift ihres Idols! Ruth war glücklich, und ihre Klassenkameradinnen staunten nicht schlecht.

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Das Bild oben zeigt Ruth mit ihrem Bruder Ben um das Jahr 1940.

Da sie ein kluges Mädchen war, wechselte sie nach der vierten Klasse der Volksschule auf die Schwesternschule, einer Realschule in kirchlicher Trägerschaft. Nach der Mittleren Reife ging sie noch ein weiteres Jahr auf die Höhere Handelsschule in Hanau, anschließend absolvierte sie eine kaufmännische Lehre in der Firma Dunlop, einem Reifenhersteller im Osten Hanaus. Dieser Betrieb war mit dem Fahrrad in zehn Minuten zu erreichen. Ruth fuhr gerne mit dem Rad, es gab ihr ein Gefühl von Freiheit, von Mobilität, und es verband sie so schön mit der Natur.

006006Ruth, Ende der 30er Jahre

Die entscheidende, die prägendste Phase ihres Lebens war jedoch die Zeit des Zusammenbruchs, also die Jahre von 1943 bis 1948, der Untergang des Großdeutschen Reiches - und die Hungerzeit.

Der „Untergang des Großdeutschen Reiches“, also des Nazi-Staates, klingt etwas abstrakt. Für Ruth war das aber etwas ganz Konkretes. Im Sommer war ein guter Freund von ihr, Heinz, im Russlandfeldzug schwer verwundet worden und erblindet. Ruth hatte sich spontan entschieden, ihm zu helfen, mit ihm zusammen eine Zukunft aufzubauen, wenn der Krieg erst vorbei wäre. (vgl. Szene 004 - Heinz)007a



Das Bild links zeigt Ruth in ihrer Zeit als kaufmännischer Lehrling im Werksschwimmbad der Fa. Dunlop, etwa 1941.

Aber der Krieg war noch lange nicht vorbei, nicht für die Soldaten an der Front und auch nicht für die Menschen an der „Heimatfront“. Es folgten die Bombennächte. Ruth berichtet davon, wie sie abends um 18 h von der Arbeit nach Hause fährt. Anschließend räumt sie die zahnärztliche Praxis ihres Vaters auf, dann putzt sie, danach sind noch Rechnungen zu schreiben, sie erledigt auch die kaufmännischen Arbeiten der Dentistenpraxis. Um 22.30 h sinkt sie müde ins Bett. Kurz darauf: Sirenen – Bombenalarm, alles in den Keller.

Dort ist ein Luftschutzraum mit Notrationen für alle Hausbewohner eingerichtet, auch für die kinderreiche Familie, die die Wohnung im Erdgeschoss bewohnt. Ruth hatte in dieser Familie ihr soziales Jahr nach dem Schulabschluss absolviert. Jetzt sitzt sie mit den schreienden, verängstigten Kindern im Keller. Dreimal gibt es in dieser Nacht Luftalarm, dann immer wieder Entwarnung. Einmal hören sie die dröhnenden Bomberverbände, doch heute Nacht wird die tödliche Bombenlast woanders Menschen verbrennen.

Am nächsten Morgen um halb sieben muss sie wieder heraus, zur Arbeit. Wie so oft hat sie, total ermüdet, abends gebetet: „Herrgott im Himmel, lass´ bitte das Schreckliche aufhören, diesen Bombenterror. Strafe uns anders. Ich will auch gern nie wieder in meinem Leben satt zu essen haben, nur lass´ bitte die Sache mit den Bomben aufhören.“ Ich kann mich erinnern, wie meine Mutter viel später, in den 60er Jahren, bei jedem nächtlichen Feueralarm nass geschwitzt und zitternd in ihrem Bett saß. Trauma.

Ihr Bruder Ben, der als Besatzungssoldat in Norwegen stationiert war, sagte ihr einmal, als er eine Woche Heimaturlaub hatte: „So viel Krieg wie in dieser Woche hier in Großauheim, habe ich in all den Jahren meiner Soldatenzeit noch nicht mitbekommen.“ Der Glückliche war in Norwegen eingesetzt!

Der Krieg ging im Jahr 1945 in die letzte Phase, die Allierten hatten das deutsche Kernland erreicht, aber das moral bombing, die Strategie, die Moral des deutschen Volkes zu brechen, indem man die zu Hause gebliebenen Frauen, Alten und Kinder terrorisierte, vom englischen Premierminister Churchill erfunden und von Arthur Harris, dem englischen General, den sie Bomber-Harris nannten, umgesetzt. Seine No. 5 Bomber Group der Royal Air Force hatte bereits Dresden, Kassel, Königsberg, Braunschweig, Pforzheim, Hamburg und Darmstadt in Schutt und Asche gelegt... Jetzt stand Hanau auf der Agenda dieses grausamen Kriegers!

Am 18. März besuchte Ruth ihre Tante Else, die in der Hanauer Nussallee in unmittelbarer Nähe des Westbahnhofes wohnte. Mit dem Fahrrad war Elses Wohnung in 10 bis 15 Minuten von der Dunlop aus zu erreichen, daher konnte Ruth dort nach der Arbeit hinradeln.

An diesem Abend gab es wieder Luftalarm, also alles in die Keller, diesmal in den Keller des Hauses, in dem Tante Else, Friedas Schwester, wohnte. Als es Entwarnung gab, war bereits Sperrstunde. Um diese Zeit war es verboten, die Häuser zu 005verlassen. Es herrschte allgemeine Verdunkelung. Nachts durfte kein Licht die Stadt Hanau verraten, daher keine Straßenlaternen, keine öffentlichen Verkehrsmittel, keine fahrenden Autos oder Fahrräder. Ruth blieb nichts anderes übrig, als die Nacht bei ihrer Tante zu verbringen. In den frühen Morgenstunden gibt es erneut Luftalarm...

Ruth ca. 1942 mit ihrem Fahrrad

Franz und Frieda befinden sich in Großauheim, ihre Tochter ist von ihrem Besuch bei Tante Else noch nicht zurück gekehrt, sicher wegen des Luftalarms und der anschließenden Sperrstunde, sagen sich die besorgten Eltern. Auch in Großauheim gibt es Bombenalarm. Frieda und Franz sind spät dran, als sie in den Keller gehen. Im Treppenhaus ist es plötzlich taghell: „Oh, mein Gott, lieber Herrgott, bitte lass´ das nicht wahr sein!“ weint Frieda, als sie das Phänomen sieht: sogenannte „Christbäume“! Britsche Aufklärer haben die Stadt Hanau ausfindig gemacht und brennende Phosphorteile (genannt: Christbäume“) in der Luft abgesetzt, die die Stadt taghell erleuchten. Weinend sitzt Franz im Keller, betend zittert neben ihm Frieda.

Der spätere CDU-Politiker und Erfolgsautor Jürgen Todenhöfer erlebte die Nacht in einem Vorort Hanaus, in Kesselstadt, als 4-jähriger mit. Er schreibt in seinem 2013 erschienen Buch „Du sollst nicht töten. Mein Traum vom Frieden“: „ ... Später erfahre ich, dass in jener Nacht 279 britische Bomber über 350.000 Brandbomben und über 440 Sprengbomben abgeworfen hatten. Doch das ist die Statistik. Was ich nie vergessen werde, ist das Beben der Erde, die brennenden Menschen, die blutrot leuchtende sterbende Stadt meiner Eltern. Das also ist Krieg. Wir Deutschen haben ihn angefangen. Aber darf man deshalb Städte verbrennen und Kinder töten? … Vielleicht ahnte ich damals zum ersten Mal, dass es keine anständigen Kriege gibt“.

Die RAF zerstört planmäßig. Eine erste Bomberstaffel überfliegt die Stadt, fliegt die einzelnen Straßenzüge ab: auf jedes Haus eine Luftmine, eine Sprengbombe, dadurch wird das Haus oben aufgerissen. Anschließend kommt eine zweite Bomberstaffel, sie werfen Bombenteppiche mit Phosphor-Bomben ab, auf diese Art gerät die Stadt in Brand, ein Feuersturm wird entfacht. 90 % der Stadt wird zerstört. Einzig die kriegswichtige Industrie, die Reifenfabrik Dunlop, die die Fahrzeuge der Wehrmacht und die Flugzeuge der Luftwaffe beliefert, wird verschont. Die Logik? Die Firma Dunlop ist ein britisches Unternehmen, in ihr steckt britisches Kapital. Die illegale KPD hatte dies vorausgesehen, und über ihr Netzwerk dafür gesorgt, dass möglichst viele Kommunisten in den Straßenzügen wohnten, die unmittelbar an die Dunlop angrenzten. Manchmal ist eine marxistische Geschichtsbetrachtung eben doch hilfreich...

Selbstverständlich wird auch das Haus in der Nussallee zerstört, in dessen Keller Ruth und Else die Schreckensnacht überlebt haben. „Als das Haus bebte, alles zusammenstürzte und Teile der Kellerdecke einbrachen, hat Tante Else sich über mich gebeugt, mich mit ihrem Körper geschützt und gesagt: „Dir darf nichts passieren, Ruth, du bist doch noch so jung, du hast doch noch dein Leben vor dir“, berichtete mir meine Mutter später.

Im Laufe des Vormittags kommen Helfer und befreien Ruth und Else aus den Trümmern. Ruth will so schnell wie möglich nach Hause. Die Straßen sind teilweise passierbar, mitunter muss sie allerdings über Trümmerberge steigen. Der Asfalt war in der Hitze des Feuersturms geschmolzen, inzwischen aber wieder erkaltet. Den Menschen, die versucht hatten, zu Fuß zu fliehen, wurde der schmelzende Asfalt zum Verhängnis. Ihre Leichen stecken bis zu den Knien im Asfalt, die Körper als lebende Fackel verbrannt und entstellt. Der Krieg zeigt seine grausame, seine menschenverachtende Seite. Ob Bomber-Harris wohl stolz wäre, wenn er dies läse?

Ruth braucht anderthalb Stunden bis nach Hause, ihr Fahrrad existiert nicht mehr. Den ersten Menschen, den sie in Großauheim trifft, fragt sie, ob hier auch Bomben gefallen sind. „Nein, wir wurden diesmal vetschont,“ war die Antwort, „nur in der Auwanne...“

Ruth rennt los, biegt in die Bahnhofstraße ein, von dort kann man die Einmündung der Auwanne sehen, das Eckhaus ist - nein war - die Kohlenhandlung Beyersdörfer, jetzt nur noch rauchende Trümmer. Entsetzt rennt sie los, erreicht die Einmündung der Auwanne – welch ein Glück, nichts passiert, nur das eine Haus vom Beyersdörfer, klar: schlimm für die Leute – aber was ist das schon, ein einziges Haus. Wenn man aus dem zerbombten Hanau kommt, muss das ein Anblick des Friedens sein.

Die sinnlose Zerstörung Hanaus fand nur neun Tage, bevor die Stadt von den Amerikanern eingenommen wurde, statt. Hatte Hanau zu Kriegsbeginn noch über 40.000 Einwohner, so waren es jetzt keine 10.000 mehr, in der Innenstadt standen noch genau sieben Häuser. Man erwartet die aliierten Truppen. Ruths Halbbruder Ben hat inzwischen alles Verdächtige verbrannt, Mitgliedsbücher der NSDAP, die Bilder vom Führer und vom Dalai Lama, auch den Brief, den Ruth von Mussolini bekam. Jetzt sitzt Ruth in ihren ältesten Klamotten auf der kleinen Steintreppe zwischen Haustür und Erdgeschoss, in Haare und Gesicht hat sie sich Ruß geschmiert – man hört ja so allerlei, was siegreiche Soldaten bei ihren Eroberungen machen...

Jetzt sitzt sie da und heult Rotz und Wasser. All die Entbehrungen, all das Elend der letzten Jahre – wozu? Der Krieg verloren, die Illusionen zerstoben. Ihr Schatz erblindet. Es tut weh, wann man seine Verblendung verliert. Endlich Frieden! Und es tat so weh...

Herrgott im Himmel, lass´ bitte das Schreckliche aufhören, diesen Bombenterror. Strafe uns anders. Ich will auch gern nie wieder in meinem Leben satt zu essen haben, nur lass doch bitte, bitte die Sache mit den Bomben aufhören,“ so hatte Ruth in den Bombennächten gebetet. Nun schien es, als seien ihre Gebete erhört worden, die Hungerzeit brach an.

Großauheim war ein ehemaliges Dorf, inzwischen mit über 10.000 Einwohnern, die Industrialisierung hatte den dörfliche Chrarkter der Gemeinde verdrängt. Dieser strukturelle Wandel hatte dazu geführt, dass es keine Landwirtschaft mehr gab.

Aber von dem, was es auf Bezugsscheinen für die nicht körperlich arbeitende Bevölkerung gab, war ein Überleben kaum möglich. Man musste raus aufs Land zum Fuggeln. „Fuggeln“, so nannte man hier illegale Geschäfte, sich etwas besorgen, was es auf dem regulierten Markt nur gegen Bezugsscheine gab – wenn man welche hatte. Doch in Großauheim gab es damals nur noch einen einzigen Bauern. Also fuhr Ruth jede Woche mit einigen Schätzen, wie silbernes Besteck, altes Zahngold, einem ehemals teuren Ess-Service oder was auch immer mit dem Rad 15 bis 20 km in den Kahlgrund, um dort vielleicht etwas Gemüse - oder besser noch: Kartoffeln - eintauschen zu können. Zunehmend wurden auch Zigaretten, zum allgemeinen Tauschmittel, der Preis lag bei 5 RM pro Zigarette. Wie sie dort von den Bauern behandelt wurden, führte dazu, dass sie die Arroganz der Bauern jedes Mal innerlich wieder spürte, wenn wir 20 Jahre später an einem Acker vorbeifuhren, auf dem ein Mercedes stand.

Doch nicht nur Lebensmittel mussten besorgt werden, auch Brennmaterial für den Winter. Es hatte sich als klug erwiesen, dass das Haus im Auwanneweg zwar Etagenheizung hatte, aber mit vier Schornsteinen auch über Öfen beheizt werden konnte. Doch dazu brauchte man Brennmaterial. Also hieß es täglich mit dem Handwagen in den Wald zu fahren. In der Nähe der Ortslage war inzwischen aber kein einziger Zweig mehr am Boden zu finden, immer weiter wurden die Touren, um Holz nach Hause zu bringen – und man braucht neun Kilo Holz, um den Brennwert eines einizigen Liters Öl zu erreichen.

Nicht die Gründung der Bundesrepublik war das Ereignis, das alles änderte, es war der 20. Juni 1948, der Tag der Währungsreform. Herrschte vorher in den Läden gähnende Leere, da kein Händler seine guten Waren gegen schlechtes Geld hergeben wollte, so waren vom 20. Juni 1948 an die Schaufenster brechend voll. Die Bankkonten wurden umgestellt: wer vorher 2000,-- RM auf dem Konto hatte, dem verblieben davon ganze 200,-- DM. Außerdem bekam jeder Bürger 40,-- DM Kopfgeld bar ausgezahlt. Ruth und Heinz kauften sich davon ein Geschirr, ihre Erstausstattung für den gemeinsamen Haushalt. Ich benutze dieses Kopfgeld-Geschirr übrigens noch heute; auf der Unterseite der Teller steht, wo sie produziert wurden: „Made in US-Zone Germany“.

In den 50er Jahren waren die traumatischen Erlebnisse der Kriegszeit allgemein das häufigste Gesprächsthema. Ruths häufigstes Thema waren die Hungerjahre („Du siehst im Frühling ein Gänseblümchen – und dein einziger Gedanke ist: ob man das wohl essen kann?“), an zweiter Stelle folgte der Bombenterror. Der Krieg und die Hungerjahre waren zwar dem Kalender nach mit der Währungsreform, der Einführung der Deutschen Mark, im Juni 1948 vorbei – aber im Kopf, im Unterbewusstsein und im Herzen blieben sie gegenwärtig und prägten Ruth für den Rest ihres Lebens: Sicherheit! Bleibendes Vermögen! Bildung! Alles das, was dir keiner nehmen kann!

Die zehn Jahre vom Juni 1948 bis zum Juni 1958 waren die glücklichsten in Ruths Leben. Zunächst eine eigene kleine Wohnung, die Eheschließung, das Wunschkind (ich!), der Ehemann Heinz schließt sein Studium ab und wird als Jurist Beamter bei der Oberpostdirektion Frankfurt.

17(Das Bild zeigt Ruth mit ihrem Sohn Horst bei dessen Taufe am 16. September 1951.)

Die beiden mischen in der Großauheimer Lokalpolitik mit. 1954 der erste Fernseher, 1956 das erste Auto.

Ruth führte jetzt ein „großes Haus“: viele Freunde aus Politik und Verwaltung und natürlich jede Menge Juristen kamen zu Besuch, es gab Partys. Und meine Mutter arrangierte das alles. Sie führte das Haus! Sie ging nicht mehr arbeiten, die Wäsche erledigte der Waschdienst von der Landwäscherei Röll, zum Putzen kam die Putzfrau, der neue Garten (weg mit den Gemüsebeten, statt dessen: Rasen, Sträucher, ein Picknickplatz) wurden von der Gärtnerei angelegt. Die Spenglerei fertigte mir ein großes Schaukelgerüst an und meinen „Eisernen Wagen“, mit dem ich polternd auf der Kopfsteinstraße auf mich aufmerksam machen konnte, 1957 kam Grasmücke zur Welt. Eine glückliche Zeit, eine wunderbare Zeit. Wir lebten – nach so vielen Jahren der Entbehrungen – plötzlich im Wirtschaftswunderland!

Am 6. August 1958 erhielt mein Vater die Diagnose „Krebs im fortgeschrittenen Stadium“, am 3. Oktober war er tot.

Ruth hatte über Nacht ihre Lebensplanung verloren. Ich sehe sie immer noch vor mir, wie sie manisch besessen auf den Knien die Wohnung schrubbt, höre ihre Aufschreie: „Oh, Heinz, mein Heinz!“ oder auch „Verpfuschtes Leben!“. Damals war ich Grundschüler.

Nach den Kinderjahren bis 1958, die ich gleichsam wie im Himmel erlebte, war es jetzt, als sei ich zur Hölle gefahren. Und die höllischen Geister, die im Krieg und in den Hungerjahren von meiner Mutter Besitz ergriffen hatten, Angst und neurotische Suche nach Sicherheit, sie meldeten sich zurück, in ihr, in Ruth.

Ruth hatte 1943 das Projekt „Erfolg für, mit und durch Heinz“ gestartet, als sie ihm, dem erblindeten Schwerverbundenen, im Lazarett ewige Treue versprach. Dieses Projekt war 15 Jahre später jäh beendet worden. Und – sicher ohne es selbst so bemerkt zu haben – stieg in ihr ein Ersatzprojekt auf: „Horst ist Heinz Sohn, was Heinz nicht mehr erreichen konnte, soll Horst jetzt erreichen – und ich werde ihm dabei nach Kräften unterstützen“, so sagte sie sich, so schwor sie sich ein. Meine Schwester Grasmücke spielte bei diesen Überlegungen keine Rolle – ich war ausersehen, der Nachfolger meines Vaters zu werden – und so nahm das Drama seinen Lauf. Dramen haben mir Gier, mit Hass und mit Verblendung zu tun, der Gier nach einem guten Leben, dem Hass auf „das ungerechte Schicksal“ und der verblendeten Projektion der eigenen Wünsche auf den kleinen Buben.

So wurde ich in den folgenden Jahren Träger der mütterlichen Projektionen. Aber ich war ein kleiner, schwacher Junge, verunsichert durch den Tod des Vaters und der plötzlichen Veränderung der Lebensumstände.

Ich sollte dort ansetzen können, wo mein Vater aufgehört hatte, das schien für Ruth das Logischste, das Folgerichtigste zu sein. Also war ein Studium Pflicht, dafür braucht man Abi und dafür wiederum muss man erst einmal die Aufnahmeprüfung fürs Gymnasium schaffen. Außerdem kostet so ein Studium Geld, dafür wiederum müssen bleibende Werte her. Eine Währungsreform klaut einem sonst wieder das ersparte Geld. Daher beschloss meine Mutter, dass ein Haus gebaut werden müsse. Das Haus, in dem wir lebten, gehörte damals ihrer Mutter und dann waren da auch noch ihre Halbbrüder... Also ein weiteres, ein eigenes Haus, das man eines Tages „reinbrocken“ kann, wenn Geld für die Karriere des Sohnes flüssig gemacht werden muss. All diese Teile des neuen Planes der Ruth stiegen in ihrem Kopf auf, eine starke Frau, eine Kämpferin...

Das Projekt Hausbau bestimmte die Zeit von 1960 bis 1965 - ein Haus würde ein bleibender Wert sein. Allerdings war das teuer (100.000,-- DM) und die Ersparnisse waren wesentlich niedriger. Der Gürtel musste enger geschnallt werden!

Viel schlimmer für mich waren jedoch die Leistungsanforderungen, die an mich gestellt wurden. Ich reagierte hilflos, spielte „den Clown für die anderen“, wie meine Mutter das nannte – und es brachte sie auf die Palme, das passte so gar nicht zu ihren Projektionen, wie ihr Sohn zu sein habe. Für die Aufnahmeprüfung fürs Gymnasium musste außerdem eine gewisse Rechen- und Schreibrichtigkeitsfähigkeit nachgewiesen werden. - Rechnen war kein Problem.

Damit aber meine Deutschleistungen besser wurden, wurde jetzt ein tägliches Diktat angesetzt. Wenn mehr als zwei Fehler drin waren, mussten diese nicht nur dreimal verbessert werden, sondern das Diktat wurde ein zweites Mal geschrieben. Meine Mutter sah mir dabei über die Schulter. Ich hatte wahnsinnige Angst, meine Fehler zu wiederholen – und wiederholte sie so fast zwangsläufig.

Meine nervlich angegriffene Mutter flippte dann aus. Prügel! Mit dem Kleiderbügel! Manchmal war mein Rücken und mein Gesäß grün und blau. Und es tat so verdammt weh! Und die Angst. Vor Prügeln! Vor Liebesverlust!

Meine liebe Großmutter versuchte mäßigend auf Ruth einzuwirken, meist vergeblich. Wenn Ruth frustriert war, dass ich ihre Erwartungen wieder nicht erfüllte, war sie nicht sie selbst. Hätte das irgend jemand dem Jugendamt gemeldet, so wäre ich vermutlich aus der Familie geholt worden. Das wäre dann eine wirkliche Katastrophe gewesen. Für mich. Für Grasmücke. Für meine Mutter. Für Frieda. Zum Glück (Gott sei Dank?) kam niemand auf diesen Gedanken.

Die Aufnahme ins Gymnasium wurde geschafft! Doch bei der Einschulung sagte der Schulleiter der Hohen Landesschule, Dr. Enterwitz, für uns begänne jetzt ein neuer Abschnitt. Seien wir bisher in der Volksschule die Klassenbesten gewesen, so würden wir an dieser Eliteanstalt vermutlich nur Durchschnitt sein. Und das Erreichen des Abiturs sei keineswegs der Normalfall. Es müsse vielmehr stark gesiebt werden. Nur jeder Dritte von uns würde das Abitur schaffen. Bei der Einschulung waren wir 40 Knaben pro Klasse. 12 bis 15 davon würden Abi machen. Ich hörte das mit Entsetzen – und meine Mutter neben mir hörte das auch...

Manchmal saß ich morgens einfach nur still auf dem Stuhl, beobachtete meinen Atem. Wie schön, einfach atmen zu können! Aber wehe Ruth sah das: „Sitzt du wieder nur faul da und starrst Löcher in die Luft?“

Auch die nächsten Jahre waren für mich von Leistungsterror geprägt. Zum Glück hatte sich meine Mutter inzwischen besser im Griff. Körperliche Strafen verschwanden allmählich, aber der psychische Druck blieb. - Eine Vier in Englisch! Eine Katastrophe! Ein Nachhilfe-Lehrer musste her. Und was das wieder kostete! Der erste Nachhilfe-Lehrer bekam zwar nur 3 DM pro Stunde, aber für 3 DM bekam man damals in einer Gaststätte ein Mittagessen. In den nächsten Jahren stiegen die Preise, unter anderem weil qualifiziertere Lehrer gesucht wurden, auf bis zu 13 DM (Dr. Havekoss).

Der arme überforderte Horst – wobei die Überforderung weniger durch tatsächliche Schwierigkeiten kamen, sondern durch die überzogenen Projektionen – leistete unbewusst passiven Widerstand, er machte wieder „den Clown für die anderen“, bemühte sich, alle nicht ganz exakten Anweisung so stark wie möglich misszuinterpretieren und brachte damit seine Nachhilfelehrer auf die Palme. Irgendwann fing ich an, Übersetzungen nur noch in Gedichtform zu schreiben...

Ja, ich machte es Ruth nicht leicht, wie sie es auch mir nicht leicht machte.

Aber als ich eines Tages wieder schulischen Erfolg hatte – ab 1967, vgl. die Szene 042 „Unterrichtsübernahme“ - da hatte ich wieder die volle Rückendeckung meiner Mutter. Meine Individualität wurde anerkannt, ich bekam Unterstützung in jeder Art, mitunter sogar vielleicht etwas zu viel Unterstützung und etwas zu wenig Kritik (z. B. beim Alkoholgenuss oder bei der Gründung der Gunkel Co KG). Aber auf jeden Fall liebte mich meine Mutter und half mir, wo immer sie konnte.

Im Jahre 1974 führte das sogar dazu, dass wir, Eleonore und ich, mit einer besonderen Bitte an sie heran traten. Im Sommer hatte Eli ihr Abitur gemacht und wir waren zusammen gezogen in die kleine Mansardenwohnung. Kurz darauf war Elis Schwester schwanger geworden, was Eli und mich zu einer Diskussion über Familienplanung veranlasste. Wollten wir auch Kinder? Wenn ja, wann?

Wir waren beide der Meinung, es sei besser, die Kinder in jungen Jahren zu bekommen. „Dann sind sie flügge, wenn wir 40 sind, und wir können dann noch jede Menge gemeinsam ohne die Kids unternehmen.“ Das müsste aber mit Elis Karriereplanung hinein passen. Sie wollte damals Grundschullehrerin werden. Während der Prüfungsphase oder der Refrendariatszeit war kein guter Zeitpunkt, Kinder zu bekomen. Aber in einem früheren Zeitpunkt des Studiums, am besten in den Sommer-Semesterferien, die sind schön lang, das würde passen. Natürlich nur, wenn wir jemanden haben, der nach den Kindern sieht. Es war Oktober 1974, Elis erste Sommer-Semesterferien wären im nächsten Juli 1975...

Gehen wir einmal zu meiner Mutter ins Erdgeschoss und fragen,“ sagte ich. Das Projekt wurde Ruth vorgestellt. Die war begeistert! Anschließend warf ich Elis Pillenpackung in den Müll. Im August 1975 wurde Kohlrübchen geboren, im August 1976 Steffi – alles lief nach Plan.

Laigu

Die Mädels waren gern bei ihrer Oma, und die Oma war glücklich mit den beiden. Ostern 1976 waren wir sogar mit Ruth zusammen im Urlaub. (Das Bild zeigt Ruth und Kohlrübchen im April 1976 in Laigueglia/Italien.) Zu Weihnachten 1977 schenkte uns Ruth eine Reise nach Sri Lanka: sie wollte mit den kleinen Mädels Weihnachten feiern, so wie in meiner Kindheit. Ruth konnte ein richtiges Mysterium, ein einzigartiges Fest aus Weihnachten machen, während Eli und ich es damals eher nicht so mit der Religion hatten. Auf diese Art kam es zu einer win-win-Situation: Wir hatten eine tolle Reise nach Sri Lanka, Ruth ein Weihnachten nach ihrem Geschmack, so dass sie ihre Gluckeninstinkte ausleben konnte, und für die Mädels war es sicher ein tolles Erlebnis, auch wenn sie sich nicht mehr daran erinnern können, jedenfalls nicht bewusst.

Es war gut, dass Ruth das schon Weihnachten 1977 machte, als die Kinder noch so klein waren. Später wäre sie nicht mehr dazu gekommen. Es war ihr letztes Weihnachten.

Im Spätsommer 1978 ging es ihr nicht gut. Sie hatte beständig Raucherhusten und beschloss, mit dem Rauchen aufzuhören. Auch wollte sie mit dem Biertrinken aufhören. Zuletzt hatte sie vier Flaschen am Abend getrungen: zu viel. Schlank war sie nie, aber jetzt hatte sie Übergewicht. Sie gab also das Rauchen auf, ließ das Bier weg und trank abends vor dem Fernseher nur noch Mineralwasser - und wollte außerdem noch abnehmen! Alles etwas viel auf einmal. Anfang November bekam sie eine Lungenentzündung, dazu immer wieder Hustenanfälle, vor allem dann, wenn sie sich hinlegte. Also saß sie nachts im Bett, um nicht zu sehr husten zu müssen.

Eines Morgens, noch vor 7 Uhr, wir wohnten damals im 1. Obergeschoss, Ruth und Frieda hatten ihr gemeinsames Schlafzimmer eine Etage tiefer, kam die 94-jährige Frieda ganz verstört zu mir in das Obergeschoss hoch: „Junge komm´doch nur mal, die Mutter ist ja ganz kalt.“

Es war wahr. Sie, die immer sehr niedrigen Blutdruck hatte, war geschwächt. Vermutlich konnte der viel zu niedrige Blutdruck beim Schlafen im Sitzen ihr Hirn nicht mehr durchbluten.

Ich habe meine Mutter sehr geliebt. Und ich liebe sie noch immer. Wenn ich dies schreibe, laufen mir Tränen über die Wangen.

Bilder aus dem Osterurlaub 1976 in Norditalien und Südfrankreich, das Fahrzeug ist das Carstle, in dem Eleonore und ich schliefen, Ruth und Kohlrübchen übernachteten in Hotels. Vorne am Carstle eine Werbung für Stiefografie.


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