Horst, der Mensch: Der verschlungene Pfad in Richtung eines Lebens zum wohl aller Wesen – Geschichte eines europäischen Buddhisten - Stand 2.1.2020

Szene 13 – Helmut Stief - 1906-1977



Helmut Stief war ein kleiner, großer Mann - und ich denke, dass eines das andere bedingt hat. Stief war von kleinem Wuchs, keine 1,50 groß. Wenn er Auto fuhr, so ging das nur auf einem Kissen und mit verlängerten Pedalen. Man kann sich vorstellen, dass er in jungen Jahren, als Jugendlicher, gehänselt wurde und unter Minderwertigkeitskomplexen litt. Um die Anerkennung zu bekommen, die er brauchte, um seinen Minderwertigsgefühl zu überwinden und die gesellschaftliche Anerkennung zu gewinnen, nach der er verlangte, musste er irgendworin der Beste sein. Die meisten Sportarten kamen nicht in Frage, da hier meist große, starke Menschen im Vorteil sind. Im Rahmen seiner kaufmännischen Ausbildung erkannte er, dass Stenografie eine Möglichkeit für ihn war, zu Höchstleistungen zu kommen.

Als Stief nach dem Ersten Weltkrieg Stenografie erlernte, gab es verschiedene konkurrierende Systeme. Je nachdem, in welchem deutschen Land man lebte, ein anderes. Mit 14 Jahren erlernte Stief das Stenografiesystem „Gabelsberger“, mit 16 gewann er damit einen ersten Preis, er schrieb mit einer Geschwindigkeit von 120 Silben/Minute. Das ist sehr ordentlich, aber alles andere als eine wirkliche Meisterleistung. Aber schon 1924 gewann der inzwischen Achtzehnjährige beim Wettschreiben von Südwestfalen mit der sehr beachtlichen Leistung von 240 Silben. Nach einem Schulwechsel zur Höheren Handelsschule musste er auf das System Solze-Schrey umlernen und schrieb damit auch bereits 220 Silben.

Doch schon 1924 wurde die Deutsche Einheits-Kurzschrift (DEK) geschaffen, ein Kompromiss aus den beiden genannten und am weitesten verbreiteten Stenosytemen. Wie es bei einem Kompromiss üblich ist, war das Endprodukt nicht aus einem Guss und hatte daher viele Ausnahmen, es war schwerer zu erlernen, als die beiden früheren Systeme. Die Anhänger der alten System behaupteten auch, dass man mit der neuen DEK niemals so schnell würde schreiben können, wie mit den früheren Systemen.

Dies war die Stunde des kleinen Mannes aus Siegen: wenn es ihm gelänge zu beweisen, dass das doch möglich wäre, dann wäre er zumindest deutschlandweit bekannt! Und tatsächlich erreichte der gerade 19jährige 1925 bereits 220 Silben mit der DEK, das war die höchste Geschwindigkeit, die bis dahin in dem neuen System erreicht worden war. Doch Stief wollte noch mehr. Er wollte die früheren Bestleistungen überbieten. Er trainierte mehrere Stunden täglich, schuf seine eigenen Abkürzungen.

Tatsächlich schaffte er 1926 die neue deutsche Höchstleistung in der DEK mit hervorragenden 360 Silben. Stief hatte bewiesen, dass die DEK, die zwar schwerer zu erlernen war als die früheren Systeme, dennoch genau so hohe Leistungen wie ehedem die alten Stenosysteme ermöglichte. 1927 stellte Stief sogar die bestehende Welthöchstleistung mit 440 Silben ein. Wenige Monate später schrieb er mit 45O Silben eine neue Weltbestleistung. Und schließlich schaffte er 1928 beim Verbandsschreiben 480 Silben. Er wollte sogar die 500 Silben/Minute erreichen, es fand sich aber niemand, der so schnell sprechen konnte! So blieb die Weltbestleistung Helmut Stiefs aus dem Jahre 1928 insgesamt 34 Jahre lang bestehen, bis 1962!

Stief selbst wechselte vom kaufmännischen Bereich zum Journalismus und schrieb für die Frankfurter Zeitung. Der Kleinwüchsige wurde erst 1943 zur Wehrmacht einberufen, wurde aber auch dort mit Sonderaufgaben betraut. Er, der schnell schreiben und gute journalistische Arbeit leisten konnte, wurde bei Reden der Nazigrößen als Stenograf eingesetzt. „Selbst wenn der Ley noch so besoffen war oder der Bormann noch so einen Mist zusammen stammelte; ich schrieb mit und bearbeitete hinterher die Texte so, dass das Ganze einen Sinn ergab. Die Bonzen haben dann selbst gestaunt, was sie für eine ordentliche Rede gehalten hätten.“ So beschrieb Stief mir gegenüber seine damalige Arbeit.

Nach Kriegsende übernahm ihn die thüringische Landeregierung als Pressechef. Das war eine Zeit, in der man – nicht nur, aber eben auch – in der Sowjetzone ebenso schnell Karriere machen konnte, wie man plötzlich verschwand. So wurde Stief flugs zum Direktor des Thüringischen Landtages ernannt. Dann wieder warf man ihm sozial-demokratische Umtriebe und Agententätigkeit vor und er verschwand in einem sowjetischen Gefangenlager in der damaligen Sowjetzone. Nach eigenen Angaben wurde er zuerst zum Tode verurteilt – lebhaft beschrieb er stets seine Erlebnisse und Ängste in der Todeszelle und in der Nasshaft in Bautzen. Er wurde dann zu 125 Jahren Zuchthaus begnadigt, die er jedoch - wie man sich denken kann - nicht wirklich absitzen musste. Nach acht Jahren – inzwischen war das Zuchthaus Bautzen in die Hände der DDR-Justiz übergegangen – wurde er in die BRD abgeschoben.

Die Zeit in Bautzen hatte er unter anderen genutzt, um zunächst seinen Mitgefangenen Unterricht in Stenografie zu erteilen. Diese sagten ihm, das sei viel zu kompliziert und er müsste das vereinfachen. Also nutzte er die Zeit im Zuchthaus, um ein neues Kurzschriftsystem zu entwickeln, ein rationelles. Er zählte eine Million Silben aus, um festzustellen, wie häufig jeder Buchstabe vorkam, wie oft er am Anfang, wie oft in der Mitte und wie oft am Ende eines Wortes stand, und in welchen Kombinationen er vorkam. Dann wies er diesen Buchstaben die für den Wortanfang, die Wortmitte und das Wortende geeignetsten Zeichen zu. Er entwickelte eine Schrift mit nur zwölf Regeln und keinerlei Ausnahmen, eine Schrift, die man bereits nach vier Lektionen in der Praxis einsetzen konnte. So wurde Übungszeit durch Anwendungszeit ersetzt.

All das ist ganz nett, würde allerdings nicht in die Szenen meines Lebens gehören, wenn es da nicht eine Überschneidung mit meinem Leben gäbe. Man kann sogar sagen, dass Helmut Stief mein Leben entscheidend beeinflusste. Ohne ihn wäre ich nicht Lehrer geworden, hätte die Mutter meiner Kinder nicht kennen gelernt, dementsprechend nicht meine Kinder gezeugt und vermutlich wäre mein Leben völlig anders verlaufen.

In einer anderen Szene meiner Lebensbeschreibung mit dem Titel „Der große Steuermann“ habe ich meinen Aufenthalt im Jahre 1969 in London bereits gestreift (vgl. Szene 7). In der britischen Hauptstadt unterhielt ich mich eines Abends in einem Pub mit einem anderen Deutschen. Ich hatte ihm erzählt, dass ich einen besonderen Schnell-Lesekurs (vgl. Szene 053 Evelyn Wood) gemacht hätte, und er teilte mir mit, dass er gerade einen besonderen Schnellschreibkurs mitgemacht hätte.

Ach ja,“ sagte ich, „Schreiben ist nicht so meins, ich hab´s eher mit dem Lesen. Steno hab ich auch einmal versucht. War saumäßig mühsam. Ich kam auch in Steno auf nicht mehr Geschwindigkeit als mit Langschrift – müde 40 Silben/Minute. Dann hat mein Stenolehrer gesagt: Horst gib´s auf, das schaffst du nie.“ Mein Gegenüber erwiderte: „Klar, weil die DEK so kompliziert ist, du musst dir dabei unwahrscheinlich viel merken, und das Nachdenken verlangsamt das Schreiben. Bei uns in den Farbwerken Höchst wird ein neues Stenosystem unterrichtet, das heißt Stiefografie und ist in wesentlich kürzerer Zeit zu erlernen.“

Vielleicht hätte ich das ebenso schnell wieder vergessen, wie alles andere, was man sich im Pub bei der ein oder anderen pint of bitter erzählt. Zwei Wochen später zeigte mir jedoch meine Mutter einen Artikel im Hanauer Anzeiger, Überschrift: „Der Weltmeister kam persönlich“, darin stand etwas über die wechselvolle Lebensgeschichte von Helmut Stief, und dass er Kurse an der Volkskochschule gäbe, dass man nach nur fünf Unterrichtsabenden „stiefografieren“ könne, und dass das Ganze nur 14 DM koste, abzüglich 25 % Rabatt für Schüler. (Dieses Bild von Helmut Stief war damals im Hanauer Anzeiger abgebildet)

Einen Monat später saß ich im Volkshochschulkurs. In der Tat war die Grundschrift in nur fünf Unterrichtsabenden zu erlernen, dann konnten wir alles schreiben. Dass ich der Kursbeste war, überraschte mich nicht wirklich, ich hatte inzwischen ein gesundes Selbstbewusstein entwickelt – und der kleine Mann imponierte mir, besonders sein Grundsatz, den er gerne propagierte: „Nur durch Regelmäßigkeit im Üben kann der Erfolg kommen, und dann kommt er sicher.“ - „So will ich auch tun!“, sagte ich mir. Vielleicht nicht unbedingt in Steno, aber in allem, was mir wirklich wichtig ist. Letztendlich ist das ein Grundsatz, der auf dem Pfad des Buddha genau so gilt.

Die Grundschrift kommt ohne Kürzel aus, es gab aber auch noch eine sog. Geschäftsschrift, die sollte ab Januar unterrichtet werden. Im Herbst gab Stief nacheinander in Hanau drei Grundschriftkurse, ein Drittel der Leute, so sagte er, würden weiter machen wollen, und für die gab es ab Februar den Geschäftsschriftkurs, dienstags um 20.00 h. Außerdem unterrichtete er dann auch neue TeilnehmerInnen in Grundschrift um 18.15 h.

Natürlich war ich Anfang 1970 im Aufbauschriftkurs. Und selbstverständlich war ich dabei wieder der Beste. Nichts anderes hatte ich erwartet. Was ich allerdings nicht erwartet hatte, geschah am Montag vor dem vierten Unterrichtsabend. Als ich von der Schule heimkam, war da ein Telegramm – das erste Telegramm meines Lebens! (Wir hatten damals kein Telefon.) Inhalt: „Rufen sie mich an! Dringend! Sofort!...“ danach folgte die Telefonnummer. Ich rief an.

Stief!“ genauso kurz und mit deutlich hörbaren Ausrufezeichen meldete sich der kleine Stenograf. Ich sagte auch meinen Namen, dann lauschte ich. - „Herr Gunkel, ich bin krank, ich kann morgen nicht kommen. Übernehmen sie den Anfängerkurs, Sie schaffen das!“ Ich war ebenso überrascht wie erfreut, das Gespräch ging noch etwas weiter, und als ich es gerade zu Ende bringen wollte, kam noch eine Überraschung: „Und wenn Sie damit fertig sind, unterrichten Sie gleich noch die Geschäftsschrift - in dem Kurs den Sie selber gerade besuchen. Schauen Sie sich einfach die nächste Lektion an, das dürfte ein Leichtes für Sie sein. Sollten Sie noch eine Frage haben: Sie wissen ja jetzt, wie Sie mich erreichen können.“

Da war ich nun total baff. Ich sollte sogar das unterrichten, was ich selbst noch nicht gelernt hatte. Ich, ein gerade mal 18jähriger Schüler, die KursteilnehmerInnen waren zwischen 16 und 75 Jahre alt. Und was das ganz Besondere war und auch Stief nicht wissen konnte: ich war extrem schüchtern. Seit Jahren hatte ich mich in der Schule nie freiwillig gemeldet. Ich und vor anderen sprechen...

Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal Lehrer werden würde, vor einer Schulklasse stehen könnte. Dass ich sogar einmal Politiker würde und am Rednerpult stehen würde, Interviews geben und Wahlkampfauftritte absolvieren würde, war damals für mich selbst völlig undenkbar. Andererseits: „Nur durch Regelmäßigkeit im Üben kann der Erfolg kommen, und dann kommt er sicher“ Das war die Gelegenheit. Und ich würde sie ergreifen! Das hat mein Leben entscheidend verändert.

Ich hatte entsetzliches Muffensausen, hatte vorsichtshalber die Tranquilizer meiner Mutter entwendet. In der Stunde vor dem Unterricht war ich nicht weniger als sieben Mal auf der Toilette. Die ersten zehn Minuten des Unterrichts waren noch Stress, doch dann ging alles wie von selbst. Hinterher hatte ich ein unwahrscheinliches Hochgefühl. Der Satz „Nur durch Regelmäßigkeit im Üben kann der Erfolg kommen, und dann kommt er sicher,“ schien mir jetzt viel zu kleinkariert: „Per aspera ad astra!“ so musste das heißen!

Am Ende des Kurses erklärte mir Stief, dass er überall nur in der ersten Zeit selbst unterrichten würde, ich sollte einige Male mitkommen, damit ich mir alles anschauen könne, dann könnte ich auch immer einmal unter seiner Aufsicht unterrichten, und dann im nächsten Jahr (1971) die Kurse in Hanau übernehmen. So würde er überall verfahren. Ich war glücklich.

Etwas später stellte er mich auch dem Leiter der Volkshochschule vor: „Herr Satow, das hier ist der Herr Gunkel, der wird demnächst die Stiefografiekurse übernehmen.“ Von Qualifikation wurde gar nicht gesprochen. Überrascht war Stief allerdings, als der vhs-Leiter antwortete: „Ja, der Herr Gunkel ist mir seit vielen Jahren bekannt.“ Ich war schließlich nicht nur ein eifriger Leser, sondern auch seit vielen Jahren einer der besten Kunden der Volkshochschule, mein Bildungshunger war in Hanau berüchtigt!

In puncto Stiefo wechselten sich bei mir von da an Hochstimmung und Frustration ab. Nach der Euphorie des Frühjahrs 1970 kam also eine erste Phase der Frustration, denn es war alles andere als leicht, von Stief zum Stiefolehrer ausgebildet zu werden. Er erwartete, dass man als sein Klon auftritt. So gewöhnte ich mir an, die gleichen Beispiele wie er zu verwenden, an den gleichen Stellen die gleichen Scherze einfließen zu lassen, aber das alles genügte nicht, um den kleinen Mann mit dem großen Ego zufrieden zu stellen.

Ich war gerade 19 Jahre geworden und stand an der Tafel vor der Klasse, Stief saß hinten. Pötzlich stand er auf: „Nein, nein, Herr Gunkel, so können Sie das nicht machen!“ Er kam nach vorn, nahm mir die Kreide aus der Hand und übernahm erst mal wieder den Unterricht. Mich ließ er daneben stehen wie einen dummen Jungen! Nach 10 bis 15 Minuten sagte er dann: „So jetzt machen Sie mal ein bisschen weiter.“ So ging das etwa zweimal pro Unterrichtsabend. Und wenn ich nicht fleißig vorher immer die Valium-Tabletten meiner Mutter geschluckt hätte, wäre ich bestimmt schreiend weggelaufen oder ausgerastet. So sagte ich mir: alle Übung ist schwer. Aber eines Tages bist du nicht mehr da, Stief, und alles, was ich mache ist dann richtig – und mindestens genau so gut wie bei dir!

Ab Anfang 1971 – ich stand damals kurz vor dem Abi – sollte ich allein die Kurse halten. Waren es im Herbst 1969 noch drei Anfänger-Kurse, im Frühjahr 1970 drei Anfänger- und ein Fortgeschrittenen-Kurs, im Herbst 1970 dann nur noch zwei Anfänger- und ein Fortgeschrittenen-Kurs, so war Anfang 1971 nur noch ein einziger Anfängerkurs zustande gekommen.

Der Fortgeschrittenenkurs kam nur zustande – die Mindestteilnehmerzahl war acht – weil ich meine Mutter und meine 85jährige Großmutter angemeldet hatte. Ich verstand jetzt allmählich, warum Stief andere Leute einsetzte: Anfangs, wenn etwas neu war und der „Weltmeister kommt persönlich“-Artikel in der Zeitung stand, war der Zuspruch hoch. Dann ließ es nach, und wenn es eigentlich nicht mehr lief, mussten die Nachfolger sich darum kümmern. Mir wurde auch klar, warum Stief einen wie mich beauftragt hatte. Er hatte gesehen, dass ich – genau wie er früher – unter Minderwertigkeitskomplexen litt, die ich so beginnen konnte zu überwinden und dann alles dafür tun würde, dass die Kurse weiter gingen. Ich sah das jetzt recht deutlich. Allerdings war ich bereit, die Herausforderung anzunehmen. „Nur durch Stetigkeit in der Öffentlichkeitsarbeit kann der Erfolg kommen, aber dann kommt er sicher“ sagte ich mir.

Und weil ich mir der Lebensweisheiten des Helmut Stief inzwischen nicht mehr so sicher war, zitierte ich jetzt lieber diese: „Es gibt keine unproduktiven Gebiete, es gibt nur unproduktive Ideen“. Also: mit guten Ideen musste man auch über die Stenografie vorankommen! Das Zitat war übrigens vom Großen Steuermann! Ich hatte es oft genug beim Auf- und Abgehen mit der Mao-Bibel in der Hand rezitiert.

Im Juni hatte ich Abitur gemacht, im September sollten die Kurse beginnen. Wie könnte ich sicher stellen, dass sich genügend Leute zu den Kursen anmeldeten? Die vhs war nur bereit einen Anfängerkurs anzubieten, hatte mir aber zugesagt, bei großem Andrang (ab 30 Leute) den Kurs zu teilen.

Ich hatte noch gute Beziehungen zur Hola, zur Schulleitung der Hohen Landesschule. Der Schulleiter war mein Politiklehrer, bei ihm hatte ich eine prima Abiprüfung hingelegt. Das war eine Beziehung, die ich nutzen konnte. Ich wurde also beim Schulleiter Dr. Haseloff vorstellig, erzählte ihm, wie gut mir „Stiefo“ in der Schule geholfen habe und bat ihn, in die Schulklassen des 10. bis 12. Jahrgangs gehen zu dürfen, um dort kurz auf die Vorteile von Steno aufmerksam zu machen. Ich hatte richtig kalkuliert: Dr. Haseloff erlaubte es!

Unter anderem kam ich auch in den Unterricht meines früheren Klassenlehrers, Dr. Havekoss. Während ich dort meine Informations-Werbe-Veranstaltung abzog, begab sich Dr. Havekoss an die Tafel. Und ich staunte nicht schlecht, als ich sah, was er dort machte! Er hatte angeschrieben: „Gunkel macht Geschäfte mit dieser Klasse“ - und das Erstaunliche war: er hatte es in Stiefografie angeschrieben!

Sie können Stiefo? Seit wann? Wo haben sie das gelernt?“ fragte ich meinen früheren Lehrer ebenso erstaunt wie erschrocken, Havekoss bemerkte auch letzteres.

Nun, Herr Gunkel, ich war in der Deutschen Bibliothek, habe mir das Unterrichtsheft kommen lassen und mir es dort selbst beigebracht. Es ist wirklich ganz leicht zu erlernen. Und ich kann Ihnen auch sagen, warum ich das gemacht habe. Ich bin mir ganz sicher: Sie haben mich beim schriftlichen Abi irgendwie beschissen, ich weiß nur nicht wie. Aber ich weiß ganz genau, dass es irgendwie mit dieser merkwürdigen Schrift zusammen hängt. Und das, Herr Gunkel, wird mir nie mehr passieren!“

Er hatte recht, genau so war es. Ich hatte einen Trick gefunden, wie ich Stiefo nutzen konnte, um mich im Abi unerlaubter Hilfsmittel zu bedienen. „Alle Achtung!“ sagte ich. Dr. Havekoss nahm es sportlich und als Lob an.

Meine Werbekampagne hatte Erfolg. Es gab nicht – wie beim letzten Mal – nur sechs Anmeldungen, sondern wesentlich mehr. Die Kursobergrenze lag bei 30 Leuten, dann musste der Kurs geteilt werden. Als schließlich 65 Anmeldungen vorlagen, erließ die vhs einen Aufnahmestopp. Man war dort leider gar nicht begeistert von meiner Kampagne, denn die vhs hatte nur ein begrenztes Ausgabebudget – und die Einnahmen gingen nicht an die vhs, sondern an die Stadt Hanau.

Wie auch immer, ich hatte zwei dicke, fette, große Kurse. Das war allerdings nicht so einfach, denn es waren praktisch nur Schüler (die Zielgruppe meiner Werbung) da, Gleichaltrige – und das war nicht unbedingt eine besonders bequeme Klientel. Sie hatten die schulübliche Bockigkeit. Und ich wirkte nicht wie eine Autoritätsperson, ich war klein und hatte ein typisches Milch-Bubi-Gesicht (das Bild unten zeigt mich Weihnachten 1970 zusammen mit Grasmücke und der lieben Großmutter).

Wie auch immer, die Kurse waren zustande gekommen. Und ich hatte vor, mir mit Stiefografie mein Studium zu verdienen. Bald unterrichtete ich an zahlreichen Volkshochschulen.

Im nächsten Jahr, so wusste ich, konnte ich nicht mehr in die Klassen meiner ehemaligen Schule gehen. Ich wollte aber die Schüler-Klientel unbedingt erreichen. Und ich wusste, wie man diese Gruppe anspricht, ich sprach ihre Sprache, verstand ihre Denke. Also beschloss ich vor allen Hanauer Gymnasien Flugblätter zu verteilen, Überschrift:

plädoyer für die faulheit

Kostprobe: „unsere bescheuerte elterngeneration hat steno gelernt, ganz schön dämlich! steno ist doch nur was für opas, viel zu arbeitsintensiv...“ Eine der Schülerinnen, die durch dieses Flugblatt zu mir in den Kurs kam, war übrigens Eleonore. Später hatten wir drei Kinder miteinander.

Und da die Kurse in den Schulen gut liefen, begann ich auch an Unis Kurse einzurichten. Gleich bei meinem ersten Versuch an der Frankfurter Uni war der Hörsaal (110 Plätze) voll besetzt, einige saßen noch auf den Treppenstufen. Der erste Unterrichtsabend war kostenlos, wer weitermachen wollte (noch drei Abende) sollte am Ende des ersten Abends bezahlen: 18 DM (incl. Lehrheft, Schreibblock, Bleistift – letzterer kam besonders gut an).

Ich hatte versprochen von den 25 Zeichen und zwölf Regeln gleich beim ersten Mal über ein Drittel durch zu nehmen: 9 Zeichen und 5 Regeln. An der Tafel hatte ich eine Liste angeschrieben und hakte ab, was davon bereits durchgenommen wurde. Auch hatte ich Beispielworte auf Visualisierungsblätter geschrieben. Regel 1 (von 12): Schreibe exakt – Begründung: „damit du es wieder lesen kannst“. Es herrschte große Heiterkeit.

Regel 2 (von 12). Schreibe aussprachegemäß – Begründung „so ist es leichter“, erstes Beispielwort „bitels“ (statt: Beatles). Große Heiterkeit! - Aber auch ein Aufmucker: „Das ist doch Verarsche, du hast gesagt, es gäbe die ersten Regeln kostenlos, und jetzt kommst du mit solchen Allgemeinplätze.“ Ich hob die Hände in der Geste der Hilflosigkeit: „Tut mir leid, es ist nun mal so leicht, ich kann nix dafür. Ist eben nur was für Faule!“ Heiterkeit und Applaus. Ergebnis 108 mal 18 DM Einnahme. In diesem Monat verdiente ich insgesamt 5000 DM (steuerfrei!), das war damals der Preis eines VW-Käfer. Das Leben war plötzlich cool, easy. Ich wiegte mich in der Illusion, so ging es weiter. Gier war in mir aufgestiegen – und Verblendung!

Manche Leute wollten Stiefo intensiver betreiben als in den kurzen Kursen. An der Volkshochschule Hanau kam am 26. März 1972 der Wunsch auf, gemeinsam weiter zu üben. Da der nächste vhs-Kurs jedoch erst im September begann und Schulräume nur an Vereine abgegeben wurden, fragte jemand, ob es einen solchen denn nicht gäbe. Also versprach ich in der nächsten Woche mit ihnen einen eingetragenen Verein zu gründen. „Probleme,“ so sagte ich, „sind schließlich da, um sie zu lösen. Und zwar schnell und effizient!“

Am 2. April gründeten wir in der Hanau Gaststätte „Whiskothek“ - meinem damaligen Stammlokal - den „Verein für Stiefografie“. Die Satzung hatte ich einfach vom „Verein sozialdemokratischer Bürgermeister Hessens e. V .“ abgeschrieben, die würden sicher wissen, was da drin stehen muss. Ich wurde Vorsitzender, war gerade volljährig geworden, was man damals erst mit 21 wurde. Meine beiden Stellvertreter/innen waren noch minderjährig: Rudi, damals Schulsprecher eines Hanauer Gymnasiums, und Eleonore (wir waren inzwischen ein Paar geworden, das ging auch schnell und effizient). Elonore, Rudi und ich waren inzwischen „Intersteno“, dem Weltstenografenverband beigetreten, hatten begonnen Kontakte zu knüpfen, trafen Parlamentsstenografen im Bundestag in Bonn. Es sah recht gut aus...

...aber Stief selbst wurde allmählich kränker (Parkinson). Nach seinen Erzählungen liefen die Kurse überall gut, er selbst hätte über 100 Lehrer wie mich ausgebildet, die müssten betreut und mit Lehrmaterial versorgt werden. Dazu wären neue Bücher nötig. Ich bot an, ihm diese Arbeit abzunehmen. In Erwartung, die Zeit zu nutzen, solange es noch lief, gründete ich einen Verlag, die Gunkel & Co. KG, mit Eleonore als Komplemetärin sowie meiner Mutter und mir als Kommanditisten. Im Auwanneweg (ein paar Häuser von uns entfernt) mietete ich weitere Räume an, ließ nach Stiefs Angaben Bücher drucken, u. a. die Lernanweisungen für die Grundschrift in zwei Varianten (Auflage 9000 Exemplare), hatte einen Fernkurs geschrieben und angeboten. An der Uni in Bochum hielt ich zusammen mit Rudi einen speziellen Kurs ab, in dem wir 50 neue Stiefo-Lehrer ausbildeten.

Leider stellte sich aber heraus, dass fast keiner der früheren Lehrer von Stief mehr aktiv war, seine Erzählungen entsprachen nicht der Wahrheit, waren bestenfalls Wunschdenken. Auch die in Bochum ausgebildeten Lehrkräfte konnten nicht als Ersatz dort eingesetzt werden, weil an den meisten dieser Orte die Kurse inzwischen eingeschlafen waren. Außerdem stimmten die Aussagen über die Rechte an der Schrift, die ich von Stief übertragen bekommen hatte, nicht wirklich. Es gab offensichtlich frühere Verträge mit anderen Anbietern audio-visueller Medien. Schließlich sollte es eine Kampagne geben, Stiefografie an Schulen einzuführen. Leider war Stief ungeschickt genug, dies als erstes über die SPD in Hessen zu lancieren – ihm war entgangen, dass der Hessische Ministerpräsident ein Funktionär des Stenoverbandes der DEK war...

Mit anderen Worten: auf die Euphorie folgte die Ernüchterung. Ich hatte zwar die Stiefografie nutzen können, um mir das Studium zu finanzieren, einen netten Verein zu organisieren mit vielen jungen Leuten, mit denen wir alles Mögliche unternahmen, allerdings ergab sich nicht, wie ich eine Zeit lang gehofft hatte, eine wirtschaftliche Perspektive.

Nachdem alles, was mit Helmut Stief zu tun hatte, inzwischen gescheitert war, unternahmen wir zwar noch einmal den Versuch, erneut bundesweit in den Medien präsent zu werden, indem wir in Zusammenarbeit mir einem Werbegrafiker (Dieter W. Dominik, Bild), der unseren Stenolehrer-Kurs in Bochum besucht hatte, ein Stenosytsem für Linkshänder herausbrachten. Dies war aus meiner Sicht eher ein Trick, nochmal in die Medien zu gelangen. Aber die Zeit für Steno war vorbei.

Wir hatten versucht, Stiefografie - inzwischen hatten wir diesen Namen des kleinen Mannes mit dem großen Ego durch „Rationelle Steno“ ersetzt - neu zu positionieren. Weg von einer Diktatschrift – dafür gab es inzwischen Diktiergeräte – hin zu einer Notizschrift für Schüler, Studenten und Manager, zu einer Schrift, die es in Diskussionen erlaubte, sich rasch Notizen zu machen und sofort wieder zuhören zu können, zu einem Hilfsmittel für Entscheidungsträger in Teamsitzungen.

Vielleicht habe ich zu lange an etwas gehangen, das überkommen war, am Steno.

Auf jeden Fall habe ich daraus eines gelernt: Man muss auch loslassen können. Was zu einem Zeitpunkt hilfreich ist, kann zu einem späteren Zeitpunkt zu unnützem Balast werden. Die meisten Probleme im Leben kommen daher, dass wir eine ehedem erfolgreiche Idee weiter verfolgen, wenn die Bedingungen dafür nicht mehr gegeben sind. Es gibt die „Lehre vom Abhängigen Entstehen“. Sie besagt, dass etwas unter geeigneten Bedinguungen entsteht. Aber dass das Entstandene schwindet, wenn die Bedingungen, die zu seinem Entstehen führten, vergehen. Diese Lehre heißt in der Fachsprache paṭicca-samuppāda, sie wurdde - soweit wir wissen- vor über 2500 Jahren erstmals beschrieben vom Buddha.

Und mir war es nunmehr offensichtlich gelungen sie exemplarisch zu überprüfen.


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