Horst, der Mensch: Der verschlungene Pfad in Richtung eines Lebens zum wohl aller Wesen – Geschichte eines europäischen Buddhisten - Stand 2.1.2020

Szene 12 – Die mysteriöse Krankheit - 1956-1971



Es muss im Jahr 1956, im Frühling, gewesen sein, vielleicht auch schon ein Jahr früher, dass meine Mutter mit mir zum Augenarzt ging, weil der kleine Horst starkes Augentränen hatte. Die Sonne machte mir zu schaffen und meine Augen tränten in einem Fort. Ich konnte wegen des grellen Lichtes kaum die Augen aufhalten. Als ich beim Arzt war, hatte ich zu allem Überfluss auch noch Schnupfen. Der Arzt untersuchte meine Augen und konnte keine organische Schädigung feststellen, offensichtlich waren meine Augen nur ziemlich lichtempfindlich. Er sagte, mir bliebe gar nichts anderes übrig als eben, sowie die Sonne scheint, eine Sonnenbrille zu tragen. Ich hatte damals schon eine Sonnenbrille, wurde jetzt aber angehalten, wann immer die Sonne schien, eine solche zu tragen. Da die Sonnenbrillen damals noch bruchempfindlich waren und ich ein hüpfendes, spielendes Kleinkind, hatte ich einen entsprechenden Verbrauch - mitunter zum Mißfallen meiner Mutter, was mich dann wiederum deprimierte, glücklicherweise selten länger als für eine Minute: ich war klein und eine Minute eine ziemlich lange Zeitspanne für meinen sprunghaften Geist. (Mitunter geht es mir in der Meditation ähnlich.)

Der Hintergrund dieser mysteriösen Erkrankung, die mich und mein Leben die nächsten anderthalb Jahrzehnte in hohem Maße prägten, war, dass ich einer der ersten war, der in Deutschland unter Heuschnupfen litt, unter einer besonders starken Form, nämlich unter Heufieber. Diese Krankheit wurde damals jedoch noch von der herrschenden medizinischen Wissenschaft mit schönster Konsequenz ignoriert.

Kaum dass es März war und die Haselsträucher, die Weidenkätzchen, blühten, war ich bereits stark verschnupft. Meine Mutter suchte die Schuld bei mir: „Es ist doch jedes Jahr dasselbe mit dir, kaum siehst du die ersten Sonnenstrahlen, glaubst du, es wäre Sommer, gehst halbnackig ´raus und erkältest dich!“ Also musste ich, sobald es wärmer wurde, dick angezogen durch die Gegend laufen. War für die meisten Menschen der Frühling eine Zeit des Aufblühens, der Freude, der Frühlingsgefühle, so schwollen bei mir die Nasenschleimhäute an und ich konnte nicht mehr durch die Nase atmen, also konnte ich auch nicht richtig schlafen und war dementsprechend müde, etwas, das mich natürlich in der Schulzeit handicapte.

Während meiner Grundschulzeit bildete sich dann ein neues Muster heraus: Wir – meine Mutter und ich - gingen, kaum dass das Problem im März, April wieder auftauchte, zu einem Hals-Nasen-Ohren-Arzt. Man bekam dann Termine und musste zweimal wöchentlich dorthin. Termine bekommen zu haben hieß damals aber nicht, dass man dann auch gleich dran kam, vielmehr musste man mitunter zwei, drei Stunden in vollen Wartezimmern warten. In dieser Zeit gewöhnte ich mir das Illustrierten-Lesen an. Die Franfurter Illustrierte war meine liebste, gefolgt von der Münchner Illustrierte, der Constanze und der Koralle. Bei den ersten Terminen bei einem Arzt gab es unterschiedliche Untersuchungen, dann wurde eine Therapie begonnen, ich musste aber weiter zweimal wöchentlich erscheinen. Ab Mitte Juni schien die Therapie dann glücklicherweise anzuschlagen, Mitte Juli war ich beschwerdefrei. Wir waren glücklich: Endlich der richtige Arzt (oder Heilpraktiker), endlich die richtige Therapie! Ich musste die Medikamente noch einige Zeit einnehmen, konnte sie dann absetzen und war geheilt!

Doch im März des folgenden Jahres begann das Spiel erneut. Wir gingen also wieder zu dem „guten“ HNO-Arzt, die gleiche Therapie, doch sie schlug nicht an – der Arzt war ratlos. Arzt-Wechsel. Das gleiche Spiel ging von vorn los: dann endlich im Juni schien die richtige Therapie gefunden... Natürlich lag es nicht an der Therapie, dass meine Allergie zurückging, sondern einfach daran, dass die Pollen, auf die ich allergisch war, nun einmal von Ende Februar bis Anfang Juli flogen.

1958

zum Bild: Anfangs ging´s im April (hier: 1958) noch, auch wenn mir das Sonnenlicht schon arg zu schaffen machte. Hier konnte ich dem Wunsch meiner Mutter nicht Folge leisten, die Augen ohne Sonnenbrille zu öffnen. (Die Rosen im Garten blühten allerdings auch noch nicht.)

Der ganze Arzt-Zirkus wiederholte sich gebetsmühlenartig jedes Jahr. Einmal – besonders erschreckend – bestand die Therapie darin, dass ich eine Art brennende Räucherstäbchen mit einem Stahlstil in die Nase gesteckt bekam – bei jeder Sitzung, zweimal wöchentlich, bis Anfang Juli. 1960 wurden mir die Polypen, Wucherungen in der Nase, die bei Heuschnupfen anschwellen, ambulant operativ entfernt. Zwei Jahre später schienen sie wieder so weit gewuchert, dass sie im Krankenhaus entfernt werden mussten, diesmal machte das einen stationären Aufenthalt nötig. Das Hanauer St.-Vincenz-Krankenhaus war jedoch nach der Bombardierung Hanaus im März 1945 noch nicht wieder völlig hergestellt, also lag mein Krankenzimmer in einer Holzbaracke. Ein anderes Mal waren wir beim Tee-Schmidt, einem Heilpraktiker, der mir Zinnkraut-Tee verschrieb. Dummerweise musste man den durch die Nase trinken...

Die alljähriche Tortur hatte jedoch auch ihre Vorteile. Da man meinen Schnupfen für ansteckend hielt, begann mich meine Mutter zuhause zu behalten, wenn es besonders schlimm war. Und damit es mir nicht an Bildung mangele, wurde ich zum Lesen angehalten. Lesen wurde jetzt zu meiner Lieblingsbeschäftigung. In Großauheim in der „Alten Schule“ war eine Leih-Bücherei eingerichtet worden. Die war zweimal wöchentlich geöffnet, und man konnte dort für 10 Pfennig ein Buch für zwei Wochen ausleihen. Ich brauchte keine zwei Wochen, sondern holte mir zweimal die Woche ein neues Buch, bald nahm ich sogar zwei Bücher mit, später drei. Schon im Grundschulalter hatte ich – in der Heuschnupfenzeit – ein Lesetempo von einem Buch pro Tag.

Der Büchereiverwalter war ein alter Mann, der immer eine erloschene Zigarre im Mund trug, der Lehrer Rübsam, der vor 1933 Leiter dieser Schule war. Dann kamen die Nazis und er hatte Berufsverbot, irgendwann kam er ins KZ. LeserInnen meiner Szenen kennen ihn bereits vom Spruchkammerverfahren gegen meinen Großvater. (Vgl. dazu auch die Szene 11 – Franz.) Natürlich engagierte sich der Lehrer auch nach dem Krieg wieder in seiner Partei, der KPD. Die wurde 1956 als deutscher Beitrag zum Kalten Krieg erneut verboten, Rübsam erhielt in der Adenauer-Zeit wieder Berufsverbot. Er nutzte die Zeit um seine Volksbildungsarbeit u. a. in die Großauheimer Leih-Bücherei zu stecken. Kommunismus, so wusste ich, war etwas gaaaanz Schlimmes, irgendwie schien das aber nicht zu dem freundlichen alten Mann mit der erloschenen Zigarre zu passen. Allerdings sagte Frieda, meine liebe Großmutter, wann immer die Sprache auf den Lehrer Rübsam kam, der sei „zwar ein Kommunist, aber ein Edel-Kommunist“, solche gäbe es eben auch.

Als ich etwa zwölf oder dreizehn war, wurde die Allergie für zwei, drei Jahre am schlimmsten, sie ging mit hohem Fieber einher (bis 41,6o C) und ich wurde (erfolglos) auf Lungenentzündung behandelt. Meine Mutter hatte inzwischen in einer Illustrierten etwas über „Heufieber“ gelesen und sprach den Arzt darauf an. „Heuschnupfen und Heufieber gibt es nicht, sie sollten nicht alles glauben, was in Zeitschriften steht“, war der Kommentar des Arztes. Und Halbgöttern in Weiß widerspricht man besser nicht, jedenfalls Anfang der 60er Jahre noch nicht.

Während meiner Lese- und Krankzeiten musste ich anfangs im Zimmer bleiben. Der Mensch saß auf einem Stuhl, eine Packung Kleenex in der einen Hand, ein Buch in der anderen, neben mir ein großer Eimer für die verbrauchten Taschentücher. War ich bettlägrig, dann stand der Taschentucheimer neben dem Bett. Ab etwa 1963 beschloss meine Mutter, dass der schöne Sonnenschein, der gerade herrschte, bestimmt gut für die Heilung meiner „Erkältung“ war. Ich durfte dann immer einen Liegestuhl in den sonnigen Garten stellen und dort lesen. Zwar wurden meine Symptome dadurch keineswegs besser, aber meine Mutter war überzeugt davon, dass dies hülfe. Der Garten war wunderschön: seitdem der Gemüsegarten der Hungerjahre nach dem Krieg nicht mehr nötig war, hatte die liebe Großmutter ihn superschön hergerichtet, im französischen Stil und mit ihren Lieblingspflanzen: Rosen. Ich saß inmitten dieses wunderschönen Rosengartens mit seinen 42 Rosensträuchern. Herrlich. Ich. Mit meiner Rosenallergie!

Ab der siebten Klasse entwickelte sich die Sache so, dass ich spätestens ab Ostern nicht mehr zur Schule konnte, die Symptome gingen dann zum Glück zu Beginn der Sommerferien zurück, was ich gut fand: sowie Ferien kamen, war der Mensch wieder gesund. Aber ein Viertel des Schuljahres konnte ich definitiv nicht zur Schule – es sei denn, dass es eine Regenperiode von mehr als zehn Tagen gab. Das kam allerdings selten vor. Ich las jetzt alles, was ich an guter Literatur bekam, zunächst Traven, Fallada, Gulbransson, dann – ich war inzwischen links eingestellt: Tucholsky, Brechts gesammelte Werke, Kästner für Erwachsene, Marx, Guevara, Freuds gesammlte Werke, Kants gesammelte Werke, Friedrich Engels, ich entdeckte meine Liebe zu den Novellisten des 19. Jahrhunderts, zu Dostojewski, Tolstoi, Puschkin, Emile Zola, Victor Hugo, Gottfried Keller usw. und ich liebte die Bücher von Thomas Mann (literarisch schöner) und seinem Bruder Heinrich (politisch angenehmer). Ich muss sagen, ich bin im Nachhinein sehr dankbar für diese Krankheit, die mir eine Bildung erschloss, die jenseits des Schulwissens war.

Im Laufe der letzten drei Schuljahre ließen die Beschwerden nach, wurden nie wieder so schlimm wie anfangs. In den 90er Jahren schenkte mir mein Freund Dieter aus dem EnergieWende-Komittee ein Buch von Dr. Spiller, der eine Klinik für Allergiepatienten im Schwarzwald leitet. Spiller trainiert dort seine Allergie-Patienten auf vegane Ernährung um, etwas, das damals noch absolut nicht trendy war. Dieter – auch Heuschnupfer – berichtete davon, dass - wenn er ab Oktober, November konsequent vegan lebe - im nächsten Jahr absolut keine allergischen Reaktionen mehr auftraten. Laut Dr. Spiller, gilt das für alle Allergien – außer Kontaktallergien (also zum Beispiel bei Hautkontakt mit bestimmten Metallen). Ich war begeistert und habe es ausprobiert.

Und in der Tat: es stimmt. Ethik ist eben der entscheidende erste Schritt auf dem Pfad der kurzfristig etwas unangenehm ist, mittelfristig zu dauerhaftem Glück und langfristig zur Erleuchtung führt. (Das mit dem anfangs etwas unangenehm und dem mittelfristig dauerhaften Glück kann ich inzwischen bestätigen.)


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