Horst, der Mensch: Der verschlungene Pfad in Richtung eines Lebens zum wohl aller Wesen – Geschichte eines europäischen Buddhisten - Stand 2.1.2020

Szene 7 – Der große Steuermann – 1969


Mao

Es ist Anfang August 1969. Die Szene spielt in London in einem ganz einfachen, billigen Hotel in der Nähe der Paddington Station. Ich bin mit einer gemischten Jugendgruppe des CVJM, des Christlichen Vereins junger Menschen, dort. Aber ich habe mit dem, wofür dieser Name steht, absolut nichts am Hut. Meine liebe Großmutter hatte mich vielmehr darauf aufmerksam gemacht, dass ich mit dieser Gruppe für wenig Geld nach London kommen könne, denn meine damals 85jährige Großmutter meinte, dass das Swinging London der Beatles-Ara genau der richtige Platz sei für mich, einen introvertierten grüblerischen jungen Mann, der sich als radikal-kommunistisch ansieht.

Doch ich suchte nicht das Swinging London, ich zog auch nicht mit den Jungs und Mädels aus unserer Gruppe durch die Stadt, ich besuchte allerdings auch nicht das Grab Karl Marx auf dem Highgate Cemetery. Ich suche - ich weiß aber nicht genau wonach.

Wäre ich vielleicht etwas weniger grüblerisch, etwas weniger geschäftig durch die Stadt gelaufen und hätte mich statt dessen am Trafalgar Square niedergelassen, um einen Joint durchzuziehen, wäre mein ganzes Leben möglicherweise anders verlaufen. Dort am Trafalgar Square findet man in dieser Zeit häufig einen Engländer in einer Robe, der junge Menschen anspricht, ob sie nicht Lust hätten ihr Bewusstsein nicht nur für die kurze Zeit eines Rausches, sondern dauerhaft zu verändern. Dieser Engländer in einer Robe ist Sangharakshita, der nicht einmal zwei Jahre zuvor die FWBO, die Friends of the Western Buddhist Order in London gegründet hat und 1968 den Orden selbst, der heute Triratna heißt. Aber wir sind uns nicht über den Weg gelaufen, jedenfalls nicht bewusst. Wer weiß, vielleicht wäre mein Leben ganz anders verlaufen. Vielleicht wäre ich seit 45 Jahren ordiniert, jetzt in einem Führungsgremium des Ordens – und hätte nicht die drei tollen Kinder gezeugt, die ich habe, und all die anderen – teilweise recht nützlichen, teilweise absolut idiotischen – Dinge getan, die ich inzwischen getan habe.


Statt dessen ging ich in meinem Hotelzimmer schnellen Schrittes auf und ab, ein kleines rotes Büchlein in der Hand, und zitierte die „Quotations of Chairman Mao Tse Tung“ (damalige Schreibweise gemäß dem Transkriptionssystem von Wades/Giles), die Worte des Vorsitzenden Mao Zedong, des großen Steuermannes. Zwischendurch singe ich die Lobeshymne auf den großen Vorsitzenden:

Dōngfāng hóng, tàiyáng shēng,
Zhōngguó chū le gè Máo Zédōng,

|:Tā wèi rénmín móu xìngfú, Hū ér hāiyō, tā shì rénmín dàjiùxīng! :|

Máo zhǔxí ài rénmín,
Tā shì wǒmén de dàilùrén

|:Wèi le jiànshè xīn Zhōngguó, Hū ér hāiyō, lǐngdǎo wǒmén xiàng qián jìn! :|

Gòngchǎndǎng xiàng tàiyáng,
Zhào dào nǎlǐ nǎlǐ liàng,

|:Nǎlǐ yǒu le Gòngchǎndǎng, Hū ér hāiyō, nǎlǐ rénmín dé jiěfàng! :|

Der Osten ist rot, die Sonne geht auf

in China erstand ein Mao Zedong.

|:Er plant Glück für das Volk, Hurra, er ist der große Erlöser des Volkes! :|

Der Vorsitzende Mao liebt das Volk,
Er führt uns,

|:Um das neue China aufzubauen, Hurra, führt uns nach vorn. :|

Die Kommunistische Partei ist wie die Sonne,
Und scheint genau so hell,

|:Wo es eine Kommunistische Partei gibt, Hurra, da ist die Befreiung des Volkes. :|

Um es gleich klarzustellen: Mir ist klar, dass Mao Zedong nicht nur Anführer der Kommunistischen Partei Chinas war. Er war vielmehr auch im Chinesischen Bürgerkrieg Anführer des sog. Langen Marsches, bei dem 90% seiner Genossinnen und Genossen umgekommen sind. 1949 siegte er über die Kuomintang-Regierung, die nach Taiwan floh. In dem von ihm angeführten „Großen Sprung nach vorn“, einem reichlich idiotischen Wirtschaftsplan, und der von ihm unterstützten sogenannten „Großen proletarischen Kulturrevolution“ kamen unzählige Menschen um, eine zweistellige Millionenzahl. Er kann daher mit Fug und Recht neben Hitler und Stalin als einer der drei großen Tyrannen des 20. Jahrhunderts gelten.

Es stellt sich mithin die Frage: Wie kommt ein relativ intelligenter und relativ friedliebender junger Mann auf die Idee, ein solches Idol zu verehren?

Ein erster Grund ist die Abkehr von der neuen westlichen Pseudo-Religion des materialistischen Konsumismus. Hierzu schienen die kommunistischen Ideale eine Alternative zu bieten. Das Erschreckende dabei ist: es ist der gleiche Beweggrund, der heute junge Menschen zu militanten Gruppierungen wie dem sog. Islamischen Staat treibt.

Ein zweiter Grund ist die Tatsache, dass auch der Glaube an die Medien erschüttert war, ich glaubte einfach nicht, was in den Zeitungen über die Kulturrevolution stand. Oder besser: ich hielt es für übertrieben, für ein Aufbauschen von Einzelfällen. Hintergrund dafür war die Erfahrungen aus der deutschen Geschichte. Ich wusste von meinen Eltern, dass das, was sie im Nazireich über die Feinde (Kommunisten, Weltjudentum, jüdisches Großkapital) lasen, nicht stimmte - und mich beschlich der Eindruck, es könnte wieder so weit sein. Die kommunistischen Ideale leuchteten mir ein, alles was über die Sowjetunion und über die Volksrepublik China in den Medien zu lesen war, stand zu den Theorien des Sozialismus im Widerspruch. Ich fürchtete mithin Opfer einer neuen Zensur zu sein. In der Tat hatte mir wenige Monate zuvor die Westberliner Polizei bei meiner Rückkehr aus Ostberlin eine DDR-Zeitung, das Neue Deutschland, beschlagnahmt. Das sei Feindpropaganda und damit verboten.

Doch auch bei diesem Misstrauen beschleicht mich heute ein sehr merkwürdiges Gefühl: ist mein damaliges Misstrauen nicht das gleiche, das auch die Pegida-Anhänger haben, wenn sie von der „Lügenpresse“ reden.

Das dritte war die unbedingte Westbindung der Bundesrepublik Deutschland. Wir waren in der NATO, wir waren Verbündete der USA, in Großauheim standen amerikanische Besatzungstruppen. Aber die USA führte einen offensichtlich menschenverachtenden Vernichtungskrieg in Vietnam, während das maoistische China die vietnameische nationale Revolution des Vietcong (eigentlicher Name: Nationale Befreiungsorganisation) unterstützte.

Das sind Punkte, die ich genauso vor dreißig Jahren auch angeführt hätte. Es gibt aber noch einige weitere.

Mao Zedong propagierte die Schaffung eines „Neuen Menschen“. Dieser Neue Mensch sollte egolos sein, den Egoismus überwunden haben. Dahinter steckt scheinbar eine Idee, wie es sie auch im Buddhismus gibt, die Überwindung des Ego - anatta. Sangharakshita sieht in dieser Überwindung des Ego auch das Projekt, einen „Neuen Menschen“ zu schaffen, er verwendet die gleiche Vokabel wie damals – zeitgleich – Mao Zedong – wenn auch auf eine inhaltlich völlig andere Art. Mich hat möglicherweise dieses Projekt der Schaffung eines Neuen Menschen, die Vollendung der menschlichen Evolution, fasziniert, weil ich es evtl. aus früheren Existenzen schon kannte, dem Streben nach Vollkommenheit, Bodhi.

Viele Darstellungen Mao Zedongs lehnen sich an ostasiatische Darstellungen großer – auch spiritueller – Meister an. Auch hierbei können Erinnerungen aus früheren Existenzen mich dazu veranlasst haben dem Großen Steuermann wie einem Großen Guru zu folgen.

Übrigens heißt „Guru“ Lehrer, im Sinne von spirituellem Lehrer. Mao Zedong hat gesagt, man hab ihm in seinem Leben zahllose Titel verliehen, aber nur einen einzigen, den er vorbehaltlos annehmen kann, den des „Lehrers der Menschen“. Der Buddha wird in der Traditionen immer wieder als „Lehrer der Götter und Menschen“ bezeichnet, mitunter auch als „Führer der führungsbedürftigen Menschen“. Möglicherweise hat meine Suche nach dem, was ich aus einer früheren Existenz in mir hatte, mich zu dieser Fehlindentifikation geführt.

Übrigens hatte ich vor meiner Reise nach London schon die erste deutschsprachige Ausgabe der „Worte des Vorsitzenden Mao“ bekommen. Ihr Titel war: „Die Mao-Bibel – Das Brevier der 700 Millionen“. Auch in diesem Titel kommt eine Art religiöser Bezug zum Ausdruck (Bibel, Brevier), wenn auch aus einer anderen religiösen Tradition, der christlichen. In diesem Zusamenhang ist mir auch aufgefallen, dass ich in meinem Zimmer in London in zwei Richtungen auf und ab ging, wie in einem mittelalterlichen Kreuzgang. Und ich machte dies in dem kleinen schäbigen Hotelzimmer – wie in einer Klosterzelle.

Ich will also nicht ausschließen, dass meine Suche nach meiner spirituellen Bestimmung mich in diesem Leben zunächst auf den maoistischen Irrweg geführt hat, und dass die Auslöser in Gewohnheiten von religiösen Praktiken in christlichem und buddhistischen Umfeld früherer Existenzen gelegen haben könnten.

Aber dies ist zugegebenermaßen etwas spekulativ und erklärt sich nur aufgrund meiner Reflexion darüber, wie um alles in der Welt ich auf einen solchen Irrweg geraten konnte. Der Vorteil dieser Überlegung: er lässt Verständnis aufkommen für andere Wesen, die auch auf Irrwege geraten sind, ich habe oben die IS-Anhänger und die Pegida-Leute angeführt, man könnte auch an andere Verblendete denken. Ich werde in anderen Szenen auch auf verblendete Anhänger des NS-Systems in meinem Umfeld eingehen.

Andererseits kann ich feststellen, dass ich trotz dieses Irrweges rechtzeitig davor zurück gewichen bin, einer Lehre zu folgen, die ethisch nicht gerechtfertig ist. Zum Glück – oder besser: aufgrund früherer Übung – war mein ethisches Gewahrsein so weit entwickelt, dass ich mich nicht in Schuld verstricken ließ.

Aus meiner marxistische Zeit geblieben ist mir der Spruch von Karl Marx:

Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt aber darauf an, sie zu verändern.“

Dieser Spruch hat mich damals fasziniert und dazu veranlasst, mich politisch zu engagieren. Inzwischen bin ich jedoch spirituell etwas weiter und habe daher Marx´ Spruch modifiziert:

Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an sich selbst – und damit ein Stück weit die Welt – zu verändern.

Denn wenn wir uns nicht einmal selbst verändern können, dann können wir nichts verändern!

Und ich bin sicher, der von mir modifizierte Satz des Karl Marx würde auch die Zustimmung des Buddha finden.


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