Horst, der Mensch: Der verschlungene Pfad in Richtung eines Lebens zum wohl aller Wesen – Geschichte eines europäischen Buddhisten - Stand 1.1.2020

Szene 4 – Heinz, 1919 - 1958



Er war der älteste Sohn seiner Eltern, von Alois Gunkel, dem Diamantschleifer, der im 1. Weltkrieg an der Front verschüttet worden war und der sich von der dabei erlittenen Verwundung zeitlebens nicht mehr erholte, und von seiner Frau Lina, geb. Meisel, die aus dem Hainal stammte, einer der ältesten Gassen Großauheims, wo sie am 18. August 1898 das Licht der Welt erblickte.

Beides waren einfache, aber rechtschaffene Leute, die sich in den späten zwanziger Jahren ein kleines Häuschen erbauten, ganz am Ende von Großauheim, das letzte Haus mit einem großen Garten. Der Garten war so lang, da er an die Gleise des Hanauer Hauptbahnhofes und der Kohlenbahn grenzte. Die Kohlenbahn versorgte die Großauheimer Industrie, die BBC (3000 Beschäftigte) und die Marienhütte (1200 Beschäftigte), mit diesem wichtigen Brennstoff. Und auch die Lokomotiven dieser Bahn wurden, wie damals die meisten Zugmaschinen, mit Kohle betrieben. Aus den Lokomotiven stieg heißer Rauch und mit ihm kam es auch immer wieder zum Funkenflug, daher durften in 50 m Entfernung von den Gleisen keine Wohngebäude stehen, und eben deshalb hatten die Gunkels einen so langen Garten, in dem Lina, meine Oma, allerlei Gemüse anpflanzte.

Die beiden hatten drei Söhne: meinen Vater Heinz, geboren am 17. Oktober 1919, dann Walter, geboren am 6. Mai 1921 und schließlich Engelbert, das Nesthäkchen, geboren am 3. Dezember 1922. Als die Jungs noch Knaben waren, bauten die Eltern das kleine Häuschen - zwei Zimmer und die Küche im Erdgeschoss, ein Zimmer und ein kleines Kämmerchen im Obergeschoss mit den schrägen Wänden. Als die drei Knaben zwischen zehn und dreizehn Jahren alt waren, kamen die Nazis an die Macht. Rassenkunde wurde zum Schulfach, der Eintritt in die HJ Pflicht. Heinz absolvierte, wie damals üblich, nur die achtjährige Volksschule. Anschließend machte er eine Lehre. Er bewarb sich beim Bäcker Leich um eine Lehrstelle. Es gab ein merkwürdiges Aufnahmeverfahren. Der Bäcker sagte: „Bursche, siehst du die Stiege dort hinten, die in das obere Geschoss führt?“ - „Ja, Herr Leich!“ - „Also Bub, da steht ein Mehlsack, 100 kg schwer, trag den dort hoch!“

Heinz bestand die Prüfung. Von nun an war er Lehrbub des Bäckers. Dienstbeginn morgens 2.30 h. Jugendschutzgesetze gab es bei Nazis nicht. Aber Heinz war jung und belastungsfähig. Und wenn er mit Kumpels auf Sauftour war, und die Kneipen zwischen ein und zwei Uhr morgens schlossen, ging er eben direkt von dort zur Arbeit. Und er war gut. Er war so gut, dass er nicht nur nach drei Jahren den Gesellenbrief in der Hand hielt, sondern dass er sogar in unwahrscheinlich kurzer Zeit auch seinen Meister machte. Ich fand irgendwann beim Aufräumen den Zeitungsartikel aus dem Jahr 1937, in dem er als jüngster Bäckermeister Hessens gefeiert wurde, mit gerade einmal 17 Jahren!

Drei Tage nachdem er seinen Meisterbrief erhalten hatte, wurde er zum Wehrdienst eingezogen. Und in der Woche, in der seine Wehrdienstpflicht abgelaufen wäre, brach der 2. Weltkrieg aus. Alle Rekruten, die nicht über besondere Beziehungen in der NSDAP verfügten, mussten in der Wehrmacht bleiben, also auch Heinz.

Der Krieg ließ sich zunächst nicht nur für das Großdeutsche Reich gut an, sondern auch für Heinz. Er kam als Besatzungssoldat nach Frankreich. Der Junge, der nie aus Deutschland herausgekommen war, sah Paris, lernte das leichte Leben junger Besatzer in Frankreich kennen. Begeistert schreibt er nach Hause, dass in Frankreich der Wein billiger sei als das Wasser.

Ach ja, der Wein. Da muss ich mich korrigieren, Heinz war zuvor doch einmal aus Deutschland herausgekommen, auch des Weines wegen, so hat es mir meine Mutter erzählt. Bei einem einwöchigen Urlaub während seiner Wehrdienstzeit fuhr er nämlich mit dem Fahrrad von Großauheim nach Ungarn, des billigen Tokayers wegen – und von dort wieder zurück, insgesamt 2000 km. Flink wie die Windhunde, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl eben. (Und durstig wie ein Loch!)

Die ersten zwei, drei Jahre des 2. Weltkrieges brachten Nazi-Deutschland große Erfolge und das spiegelte sich auch in Heinz´ Erlebnissen in Frankreich wieder. Doch nach dem Frankreichfeldzug, dem Blitzkrieg im Westen, kam das „Unternehmen Barbarossa“, Hitlers Angriff auf die Sowjetunion. Heinz musste jetzt nach Russland und in die Ukraine – zu Fuß mit 20 kg Gepäcke plus einem MG und den zugehörigen Munitionsketten auf dem Rücken.

Hier zeigte sich der Krieg in all´seiner Härte und Schrecklichkeit. Zunächst wurden die deutschen Truppen von der Landbevölkerung als Befreier aus dem stalinistischen System begrüßt, so berichtete er freudig in Feldpostbriefen nach Hause, doch zeigte sich bald, so schildert es Heinz wenig später, dass die Menschen in den besetzten Gebieten vom stalinistischen Regen in die nazistische Traufe gekommen waren. Die russische Bevölkerung wurde unterdrückt, ausgebeutet, als Untermenschen behandelt. In Heinz stiegen immer mehr Zweifel auf, an den Nazis, am Führer, am Sinn von Kriegen.

Er versuchte einfach nur zu überleben. Einmal wurde seine Einheit zu einer ebenso gefährlichen wie sinnlosen Aktion abkommandiert, zu einem wahren Himmelfahrtskommando. Beim Morgenappell der Truppe wurde außerdem bekanntgeben, dass irgend jemand vom Generalsstab am Abend vorbei käme und dieser dabei mit Musik empfangen werden solle. Leider sei der Trompeter tags zuvor gefallen. Ob jemand vielleicht Trompete spielen könne? Heinz witterte seine Chance, um das Himmelfahrtskommando herum zu kommen. „Ich“, meldete sich der völlig unmusikalische Heinz, „allerdings bin ich etwas aus der Übung. Ich benötige einige Stunden zur Vorbereitung.“

Heinz wurde von dem Himmelfahrtskommando freigestellt zum Trompetenspiel üben. Er hielt zum ersten Mal in seinem Leben ein Blasinstrument in der Hand – und er hatte keine Ahnung, wie er dort Töne herausbringen sollte. Bis zum Abend gelang es ihm wenigstens, Geräusche abzusondern. Natürlich wurde sein Auftritt eine einzige Blamage. „Besser einige Tage blamiert und verachtet als ein Leben lang tot“, sagte er hinterher. Seine Einheit wurde total aufgerieben. Niemand kehrte von dem Himmelfahrtskommando zurück. Das miserable Trompetenspiel hatte sein Leben gerettet. - Und meines ermöglicht, denn erst acht Jahre später wurde ich gezeugt.

Besser ein lebender Feigling als ein toter Held,“ war einer der Sprüche, die mein Vater mir schon als Kleinkind vermittelte. Und sein zentraler Wahlspruch: „Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg!“

Aber Papa, du wolltest doch auch nicht in den Krieg, aber da musstest, was ist, wenn mir das eines Tages auch so geht?“

Dann, mein Filius“, so nannte mich mein Vater, „dann kämpfst du auf russischer Seite und sowie du den ersten Ami siehst, nimmst du die Hände hoch und ergibst dich.“

Warum denn auf russicher Seite?“

Dann kommst du nicht in russische Kriegsgefangenschaft, sondern in amerikanische, das ist besser,“ war sein verschmitzter Rat. (Das war offensichtlich lange vor Guantanamo.)

Das Jahr 1943 war nicht nur der Anfang vom Untergang der deutschen Wehrmacht. Es war auch das Jahr des individuellen Kriegsendes für Heinz, das Jahr, in dem er, der schon den deutschen Kriegsversehrtenorden hatte, zum zweiten Mal verwundet wurde. Im Juni 1943 lag er als MG-Schütze vor der russischen Stadt Orel. Längst war nicht mehr klar, wo die Front verlief. Der deutsche Vorstoß war ins Stocken geraten, die sowjetischen Verteidiger warfen immer neue Truppen in die Schlacht. Heinz´ Einheit geriet unter Granatfeuer und ein Geschoss explodierte in seiner unmittelbaren Nähe. Ein Granatsplitter drang durch sein rechtes Auge in seinen Schädel ein und durch sein rechtes Ohr wieder aus. Ein zweiter durchschlug sein linkes Auge und blieb in seinem Schädel stecken. Schwer verwundet – und selbstverständlich blind - lag er im Feld. Seine Einheit war vernichtet, niemand kümmerte sich um ihn.

Erst zwei Tage später hörte er ein deutsches Motorrad, ein Krad-Melder mit einer 500ccm-BMW-Maschine, wie er am Geräusch erkannte. Er rief um Hilfe. Der Krad-Melder hatte sich selbst verirrt, er hatte keine Ahnung mehr, wo noch deutsche Einheiten waren.

Leg mich hinten über dein Motorrad und beschreibe mir, was du siehst, ich kann dir den Weg zu einer deutschen Einheit sagen,“ so begann Heinz´ wundersame Selbst-Errettung. Ein desorientierter Krad-Melder wurde von einem schwerverletzten Blinden, der mit zertrümmertem Kopf hinten über dem Motorrad lag, geführt. Mein Vater schilderte den Weg zu einer deutschen Einheit - zum Feldlazarett. Als der Krad-Melder ausrief: „Dort ist ein deutsches Lazarett!“ wurde Heinz ohnmächtig. Er erlangte sein Bewustsein erst elf Tage später wieder. Inzwischen war er operiert worden. Im Feldlazarett hatte ein Feldarzt ihm mit Säge, Hammer und Meisel den Schädel geöffnet, die 17 cm lange und 2 cm breite Narbe blieb bis zu seinem Tod auf seiner Stirn. Aus dem Hirn war der Granatsplitter entfernt worden. Beide Augäpfel waren zertrümmert, die leeren Augenhöhlen wurden zugenäht. Sein rechtes Ohr, war durch den Granatsplitter zerstört, auf diesem hatte er kein Gehör mehr. Das Gehör auf dem linken Ohr war um mehr als 50% gemindert. Der Eingriff in seinen Schädel hatte außerdem das Geruchs- und Geschmackszentrum zerstört. Von seinen fünf Sinnen waren ihm also nur noch 1 ¼ Sinn geblieben: der Tastsinn und ein Rest des Gehörs auf dem linken Ohr.

Er wurde dann in ein Lazarett nach Prag verlegt, wo er völlig unerwarteten Besuch bekam und sich innerhalb kurzer Zeit sein Leben zum zweiten Mal wendete. Ruth, eine damals zwanzigjährige Frau, mit der ihn eine lockere Freundschaft verband, sie hatten ein paar Mal miteinander getanzt, hatte von seinem Schicksal gehört. Sie nahm sich sofort Urlaub (Ruth arbeitete damals als kaufmännische Angestellte in den Hanauer Dunlop-Werken, einer Reifenfabrik), um mit dem Zug nach Prag zu reisen. „Heinz, du brauchst jetzt Hilfe. Aber fürchte dich nicht. Ich werde mich von jetzt an um dich kümmern. Zusammen schaffen wir das.“

Und in der Tat war das nicht nur eine romantische Liebeserklärung, sondern eine tiefe Verpflichtung. Ruth weihte ihr Leben dieser Beziehung. Der Erfolg dieses Mannes und der erst noch zu gründenden Familie war das Heiligste, das sich Ruth vorstellen konnte. Es war eine Selbstverpflichtung, die ein Leben lang gelten sollte, lange über den Tod ihres späteren Ehemannes Heinz hinaus. Diese Liebe war in gewisser Hinsicht selbstlos, denn sie band die junge Frau ihr Leben lang an einen Schwerbehinderten.

Aber war es wirklich metta, selbstlose, bedingungslose Liebe, so habe ich mich später immer wieder gefragt. Metta, selbstlose, bedingungslose Liebe, ist nicht auf ein bestimmtes Objekt gerichtet, sie ist letztendlich eine Liebe zu allen fühlenden Wesen. Indem Ruth aber diese Beziehung und die neu zu gründende Familie in den Mittelpunkt stellte, stand diese Beziehung für ein erweitertes Ich, eben diese Familie. Das ist bei mütterlichen Frauen nicht ungewöhnlich, sondern biologisch so gewollt, es ist Teil unserer Evolutionsgeschichte. Ich will das, was sie geleistet hat, nicht kleinreden. Es war eine ungeheure Selbstverpflichtung. Aber es war eben nicht das buddhistische Ideal von Metta gegenüber allen fühlenden Wesen. Da waren ebenso Elmente von Selbstlosigkeit drin wie solche von Ich-Erweiterung. Es handelte sich also gewissermaßen um ein gemischtes Motiv. Und so sind unsere Motive meistens, wie ich durch Selbstbetrachtung feststellen konnte. Zwischen dem puren Egoismus und dem heilgen Leben absoluter Liebe zu allen Wesen gibt es jede Menge Abstufungen.

Heinz überlebte den Krieg. Mit seinem Bäcker-Meisterbrief konnte er nichts mehr anfangen. Ein blinder Bäcker ohne Geruchs- und Geschmackssinn ist unmöglich. Er kam zur Rehabilitation ins deutsche Blindenzentrum in Marburg. Dort lernte er sich als Blinder zu bewegen und zu behaupten, dort holte er seine Mittlere Reife und sein Abitur nach. Später studierte er in Frankfurt Jura und arbeitete danach im Fernmeldeamt (heute: Telekom) der OPD (Oberpostdirektion) Frankfurt. Heinz starb am 3. Oktober 1958 an Krebs, er hinterließ eine Frau, die damit ihren Lebenssinn verloren hatte, seinen siebenjährigen Sohn Horst und eine neun Monate alte Tochter namens Grasmücke (dieser Name wurde aus Gründen des Personenschutzes geändert)

Das obere Bild zeigt uns Kinder vor dem Grab im Jahre 1959).

Grab

Das untere Bild zeigt Frieda, Heinz und Horst 1957 im Schwarzwald

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